Las Vegas nach dem Massaker

Stadt des Vergessens

Eine Konzertbesucherin sitzt am 02.10.2017 in Las Vega (Nevada, USA) nahe des Mandalay Bay Resort und Casinos am Las Vegas Strip. In der US-Metropole Las Vegas sind nach Polizeiangaben mehr als 50 Menschen von Schüssen getötet worden.
Schüsse in Las Vegas. © AP / John Locher
Von Tina Hüttl · 27.05.2018
Nach Las Vegas kommen US-Amerikaner und Touristen, um sich zu amüsieren. Wie lange braucht ein Ort wie dieser, um sich von einem Blutbad zu erholen? Und: Wie lange währt die Waffenliebe in den USA noch angesichts solcher Massaker?
"Als die Schüsse losgingen, dachten wir zuallererst es wäre ein Feuerwerk. Wir hatten keine Ahnung, woher sie kamen. Wir guckten nach rechts, dann dachte ich, jemand schießt vom Boden auf uns. Aber die Schüsse kamen von oben. Als wir heute nach Las Vegas reinfuhren - am Hotel Mandalay Bay vorbei - fühlten wir uns komisch. Es war ein hässliches Gefühl, ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll."
Las Vegas - acht Monate nach dem Massaker.
"Wir waren da, zwei Leute starben direkt neben uns, einer rechts von mir, der andere links. Wir steckten mittendrin von allem. Es war wirklich schlimm."
Attentat auf ein Musik-Festival in Las Vegas (2. Oktober 2017).
Attentat auf ein Musik-Festival in Las Vegas.© AP / Steve Marcus
Die beiden jungen Frauen fahren normalerweise fünf-sechs Mal im Jahr hierher, um auszugehen, Shows anzusehen, Spaß zu haben. Jetzt, sagt Heidi, hat sie jedoch Panik: vor lauten Geräuschen - Menschenmassen und Konzerte machen ihr Angst. Heidi trifft sich seit einigen Monaten regelmäßig mit einer Therapeutin. Ohne sie, sagt sie, wüsste sie nicht, wie sie weiterleben kann - mit der Schuld, warum nicht sie, aber so viele andere starben. Langsam werde es besser.
Doch wie lange braucht Las Vegas um sich von dem Blutbad zu erholen? Oder hat die Stadt, deren ureigene Bestimmung das Vergessen ist, den dunklen Fleck auf seiner Geschichte bereits getilgt? Und was haben die Amerikaner aus diesem und anderen Massakern wie Parkland gelernt? Dort tötete ein 19-jähriger an seiner ehemaligen Schule 17 Menschen. Nach Parkland scheint eine junge Generation endlich gegen die Waffenliebe vieler Amerikaner aufzubegehren. Verändert sich also endlich etwas?

58 Menschen sind tot

Ein kleiner Park mit 58 neu gepflanzten Bäumchen – für jedes Opfer eins. Las Vegas ist hier so ruhig wie Las Vegas überhaupt sein kann. Um 6.30 Uhr morgens sind Heidi und ihre Freundin Annika heute aufgestanden, gute viereinhalb Stunden mit dem Auto hierher gefahren, um den "Healing Garden" endlich zu besuchen. Sie haben bunt bemalte Steine mitgebracht. Neben ihre Namen haben sie ein oranges Herz auf blauen Grund gemalt mit der Zahl 58 umrahmt von Engelsflügeln. Auf einem anderen steht: Survivors - Überlebende - denn das sind sie. Doch 58 Menschen sind tot.
In Las Vegas haben Menschen zum Gedenken an die Opfer des Attentats auf ein Musikfestival Blumen und Briefe auf die Straße gelegt.
In Las Vegas haben Menschen zum Gedenken an die Opfer des Attentats auf ein Musikfestival Blumen und Briefe niedergelegt.© AFP / Robyn Beck
Heidi hat die ganze Nacht bis auf ein-zwei Stunden kein Auge zugemacht. Sie will auf der Holzwand mit den vielen Fotos das Gesicht des Toten finden, unter dem sie sich versteckt hat, als sie als Letzte noch stand, weil die anderen um sie herum umfielen oder bereits Deckung gesucht hatten.

Ein lebloser Körper als Schutz

Heidi ist groß, über 1 Meter 80. Eine massige Frau mit langen sehr hellen Haaren. Etwa eine Minute, erzählt sie, stand sie einfach so da. Rannte dann instinktiv los, warf sich hin und wälzte einen leblosen Körper auf sich.
"Ich könnte ehrlich nicht sagen, wer es war. Ich weiß nur, er war weiß, ein Mann. Ich weiß es nicht, ich habe ihn nicht angesehen, nur auf mich gezogen. Ich kann es nicht glauben, dass ich das gemacht habe - Ich fühle mich schlecht deswegen. Ich weiß nicht, ich musste es tun."
Eine Überlebende des Attentats von Las Vegas vor einer Holzwand mit Fotos
Eine Überlebende: Heidi vor der Wall of Remembrance© Tina Hüttl
Die Schuld, einen Toten benutzt zu haben um sich zu retten, lastet auf ihr. Manchmal starrt sie nur vor sich hin, so wie jetzt auf die Wand. Und dann folgt ein Satz, der wohl vor allem für Europäer extrem verwunderlich ist: Heidi sagt, sie will sich jetzt eine Waffe kaufen.

"Wir waren wie Ameisen"

"Weil in Situationen wie dieser - wir hatten nichts. Wir waren wie Ameisen und er trampelte einfach über uns. Wir hatten nichts, um uns zu schützen. Wir konnten nur rennen."
Dass das "Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen", wie es im zweiten Zusatz der amerikanischen Verfassung heißt, Menschen wie den Attentäter Stephen Paddock einschließt, ist Heidi klar. Auch die Diskussion, wie hilflos sie gegen einen Schützen wie ihn wäre, der mit Schnellfeuergewehren fast einen halben Kilometer weit weg aus einem Fenster zielt, führt zu nichts. Es ist ein Gefühl. Fakten, Argumente und Detailfragen zählen da nicht. Für sie sei Stephen Paddock einfach krank. Er hätte nie Waffen besitzen dürfen, sagt sie: psychisch Kranken sollte verboten werden, sie zu kaufen.
Eine Holzwand mit Fotos der Opfer des Attentats von Las Vegas
Die Gedenkwand in Las Vegas © Tina Hüttl
"Es gibt gute und schlechte Menschen. Wenn Du Waffen abschaffst, werden die schlechten sich trotzdem welche besorgen. Ihnen sind andere egal, sie haben keine Gefühle, sie wollen nur, dass jeder leidet. Deswegen sollte Waffenbesitz nicht verboten werden, das ist falsch, sie hätten auch den Florida Schützen aufhalten können."

Waffen schützen, sagen die einen

Es ist das Argument, das auch die NRA, die National Rifle Association, benutzt- die mächtige Lobbyorganisation der Waffenindustrie: ob nach den großen Amokläufen in Columbine 1999, Newtown 2012, Orlando 2016, Las Vegas oder zuletzt Parkland - immer hieß es: Waffen zu kaufen, bedeutet sich zu schützen.
Die beiden Freundinnen wollen jetzt los, heute Abend feiert die Cousine von Annika hier In Las Vegas ihren Junggesellinnen Abschied. Sie wollen nicht für immer traurig sein, wollen wieder Spaß haben, endlich vergessen - wie wohl auch die Stadt am liebsten die Ereignisse vom 1. Oktober 2017 hier vergessen würde.
Am südlichen Ende vom etwa sieben Kilometer langen Strip, der Hauptamüsiermeile von Las Vegas, ragt das Mandalay Bay in die Höhe. Ein in der Sonne goldglänzender Komplex, wie ein mächtiges Segel, das sich gegen den sturblauen Himmel stellt. Luftlinie 400 Meter gegenüber liegt das Gelände, wo sich rund 22.000 Menschen friedlich versammelten.
Man sieht einen Teil der goldglänzenden Fassade, darin das zerbrochene Fenster, und am Dachrand den halben Schriftzug "...alay Bay".
Das Bild vom 3.10.2017 zeigt eines der beiden zerbrochenen Fenster im Hotel Mandalay Bay in Las Vegas, aus denen der 64-Jährige Stephen Paddock 58 Menschen erschoss. © Kyodo / MAXPPP / dpa
Es war ein Kugelhagel wie im Krieg: mehrere Hundert Schuss pro Minute hat der Täter abgegeben: Lastwagenfahrer, Finanzberater, Wrestlingcoaches, Fischer und Lehrer, Paare, die ihren Hochzeitstag feierten, mehrfache Familienväter, Mütter, die mit ihren Kindern bei dem Konzert waren, sterben.
Der Bus hält genau vor dem Festivalgelände, ein Bauzaun ist mit grünem Stoff bespannt, so dass keiner durchsehen kann. Kein Schild, keine Blumen, keine Fotos erinnern an die Tragödie.
Im Mandalay Bay ist die Hölle los. Wie überall in Las Vegas betritt man das Hotel durchs Casino, 12.500 Quadratmeter ohne natürliches Licht, dafür aber viel falschem Gold und ohrenbetäubendem Gebimmel und Musik. Ein Kongress ist gerade aus. Zeit für Drinks.
An jeder Ecke stehen jetzt Wächter, mit Pistole am Gurt. Das Leben geht für die Leute halt weiter, sagen zwei Messebesucher.

21 Koffer mit Waffen im Hotelzimmer

4766 Zimmer und Suiten auf 42 Etagen, auch vor den Aufzügen ist Sicherheitspersonal. Stephen Paddock hatte sich in einer Suite im 32. Stock des Mandalay Bay eingemietet. Die Las Vegas Review, die größte Tageszeitung, veröffentlichte auf ihrer Webseite erst kürzlich die Videos der Überwachungskameras: Darauf sieht man Paddock, der über Tage vor dem Attentat Koffer um Koffer hochschafft: 21 Stück insgesamt - darin Waffen und Munition.
Einen 32. Stock sucht man jetzt bei den Aufzügen vergeblich. Nach dem 30. Stockwerk wechselt die Nummerierung und beginnt erst wieder mit 51. Fragt man einen Hotelangestellter, warum, wird er nervös. Besser, man treffe sich nach seiner Schicht draußen am Parkplatz vor dem Hotel. Es ist dunkel und windig. Der Mann vom Roomservice zeigt auf das Fenster im 32. Stock.

Stockwerk 32 gibt es nicht mehr

"Dort oben ist es, wo BAY steht - eins, zwei, drei - neun Stockwerke drunter - das Fenster, wo es dunkel ist. Jetzt haben sie den 31./32./33./34. Stock umbenannt - es gibt keine 32 mehr, damit die Leute nicht mehr daran denken und Fragen stellen."
Ihm und seinen Kollegen wurde es verboten, mit irgendjemand - vor allem mit Journalisten - über das Thema zu reden. Dennoch würde er gerne wissen, warum keiner im Hotel etwas bemerkt hat und ob man als Angestellter nun sicher ist.
"Es ist eine riesige Anlage - um so etwas zu verhindern, egal in welcher Stadt, bräuchte man flächendeckende Überwachungskameras und Metaldetektoren - und zwar überall. Ganz einfach." Noch besser, sagt er, wäre aber: Den Verkauf von Waffen zu verbieten.
Der Händler reicht eine Waffe über den Tresen
Waffenladen in Atlanta, Georgia© dpa/Erik S. Lesser
Vom Hotel aus dauert es etwa 10 Gehminuten bis man als Tourist von Ticketverkäufern am Las Vegas Strip angesprochen wird: Ein Trip zum Grand Canyon? Oder auch ein Tag auf der Shooting Range? Beides gehört in Las Vegas zum Standard Kultur-Programm. Talisha, eine sehr nette dunkelhäutige Frau mit kleinen kurzen Zöpfen, hat bereits die passenden Prospekte aufgeblättert: Der Grand Canyon ist schnell abgehandelt - nun also zum Fun Stuff, zum wirklichen Spaß - den Waffen: "Bullets and Burgers" heißt der Anbieter.

Die Waffe als Fetisch

"Wir holen Dich ab, nach einen Fotostop am Hoover Damm - bekommst Du noch umsonst eine Fahrt mit dem längsten Monster Truck der Welt, der im Guiness Buch der Rekorde ist. Dazu gibt´s noch umsonst ein Ziel, das explodiert, wenn du darauf schießt und es gibt auch Mittagessen - Burger und Pommes. Nun zu den Waffen: Du bekommst 25 Runden mit einer der Sub Guns - 25 mit einem Maschinengewehr und fünf Runden mit einer 9mm."
Im Prospekt sind verschiedenen Maschinenpistolen und Maschinengewehre zur Auswahl gelistet: ein MP5, eine UZI oder lieber eine AK47? Die Waffe als Fetisch.
Als die Polizei nach dem Attentat Stephen Paddocks Suite erstürmt, findet sie eine Pistole und 22 Schnellfeuergewehre - nichts davon war illegal erworben - bis auf ein paar Runden verbotene Munition, die er besaß.

Schießen ist so normal wie Bowling

Talisha zeigt nun Videos auf ihrem Handy von der Shooting-Range. Sie war gerade mit ihrer 19jährigen Tochter, ihrem Bruder und ein paar Arbeitskollegen dort. Mit Waffen herumzuballern mache einfach nur Spaß, es ist hier so normal wie Bowling gehen.
Jährlich mehr Amerikaner im Kugelhagel als bei Verkehrsunfällen. Doch in der Diskussion, ob der freie Waffenverkauf verboten oder zumindest deutlich erschwert wird, ist das Land tief gespalten: Etwas weniger als die Hälfte pocht auf ihr Recht zur Selbstverteidigung und argumentiert historisch mit den amerikanischen Unabhängigkeitskriegen. Die anderen, die Waffengegner, halten mit Unfall-Statistiken und Selbstmordraten in Haushalten mit Waffen gegen das Schutzargument.

Waffen töten, sagen die anderen

Die Waffenkritiker hoffen jetzt auf die Jugend und dass Las Vegas und zuletzt Parkland doch endlich etwas verändern: Nachdem ein 19jähriger an seiner ehemaligen Schule in Parkland, Florida, im Februar 14 Schüler und drei Lehrer erschoss, demonstrierten Schüler im ganzen Land. Millionen verließen symbolisch den Unterricht, viele von ihnen liefen bei einem "March for our lives" mit, der in fast allen größeren amerikanischen Städten ins Leben gerufen wurde.
March for Our Lives - Washington|
March for Our Lives - Washington© dpa / abaca / Olivier Douliery
Für Al war der "Marsch für unser Leben" in Las Vegas die erste Demonstration, die sie jemals besucht hat. Sie ist 23.
"Es war wirklich sehr eindrucksvoll. Ich bin sehr emotional, deswegen habe ich natürlich die ganze Zeit geheult - aber es fühlt sich gut an was zu machen, sich zu engagieren."
Al sitzt in einem Hipster-Café neben dem healing garden, ein Bartträger bringt ihr geeisten Filterkaffee. Nun engagiert sie sich auch in Email-Petitionen gegen Waffen, eine ihrer Freundinnen wurde von Stephen Paddock angeschossen. Früher, sagt sie, vor dem Massaker, habe sie sich über die Frage von Gun Control kaum Gedanken gemacht. Aber jetzt, wo etwas so nah gekommen sei, müsse sich endlich was ändern.
Einen Tisch weiter sitzt ein anderes Mädchen. Sie erzählt, dass sie Waffen sammelt - und zwar für schärfere Waffengesetze ist, aber strikt gegen ein generelles Verbot. Das Mädchen will ihren Namen nicht nennen, nur so viel: Sie ist 21, wuchs auf einer Farm auf, wo sie Waffen zum Jagen benutzen. Sie wisse von klein auf, wie sie korrekt damit umgehe. Gerade in Staaten wie Nevada und Kalifornien, wo es viel weites ödes Land gibt, gehören Waffen zur Freizeitbeschäftigung.
Und die Jungen - das wird selbst am Ort des Massakers deutlich - sind mindestens ebenso gespalten wie der Rest der Nation.
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