Lappland-Roman

Testfahrer, Erlkönige und der Polarkreis

Von Carola Wiemers · 22.11.2013
Südlich des Polarkreises testen jedes Jahr führende Autohersteller ihre Prototypen, sogenannte "Erlkönige". In dieser skurril-schönen Szenerie spielt Claire Beyers Roman.
Wer an das schwedische Lappland denkt, hat Rentierherden und viel Schnee vor Augen, klirrende Kälte – und natürlich die Polarlichter. In Claire Beyers Roman wird dieses faszinierende Naturschauspiel allerdings von künstlichen Leuchterscheinungen gestört, die sekundenlang aufblitzen, um dann, als wäre nichts geschehen, wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. Denn die Autoindustrie hat den Polarkreis fest im Griff. Vor allem in Arjeplog, südlich des Polarkreises, testen jährlich zwischen Oktober und März die führenden Autohersteller der Welt ihre sogenannten Prototypen. Man nennt sie "Erlkönige", nach Goethes gleichnamiger Ballade, die ja bekanntlich mit dem Vers "Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?" beginnt.
So wurde Anfang der 1950er-Jahre der erste Erlkönig, ein Mercedes-Benz 180, mit dem wenig originellen Slogan getestet: "Wer fährt da so rasch durch Regen und Wind", um – wie es im Roman heißt – "mit Hilfe der Poesie die Provokation gegenüber der Automobilindustrie so gering wie möglich zu halten".
Doch in Beyers "Refugium" geht es nicht nur um Testfahrer und Erlkönige, sondern auch um Ängste, Sehnsüchte und den Tod. Claudia und Robert Feldwehr haben sich in einer Wochenendehe eingerichtet. Denn Robert ist ein Testfahrer von Erlkönigen am Polarkreis.
Als sie eines Tages die Nachricht erhält, dass ihr Mann von einer Fahrt nicht zurückgekommen sei, begibt sich Claudia erstmals in jene Gegend, die für Robert seit Jahrzehnten ein zweites Zuhause ist. Überrascht von der bizarren Schönheit der Landschaft und von Birgitta, einer in Arjeplog geborenen Mittsiebzigerin, warmherzig aufgenommen, erlebt Claudia einen seelischen Erdrutsch.
Fremdsein wird zu Geborgenheit
Aus dem anfänglichen Fremdsein wird ein Gefühl des Geborgenseins, trotzdem das Schicksal ihres Mannes ungeklärt bleibt. Birgittas Haus wird ihr zum Refugium und bildet einen Schutzraum, in dem sie über ihre Lebenssituation in Ruhe nachdenken kann.
Dagegen setzt Beyer, ohne ins Moralisieren zu verfallen, die Testmaschinerie der Erlkönige, die mit Höchstgeschwindigkeit auf den präparierten Eispisten der zugefrorenen Seen dahinschießen. Als Claudia eines Tages selbst an solch einer
Testfahrt teilnimmt, fühlt sie, wie die Welt aus den Fugen gerät, während im Hintergrund Camille Saint-Saëns "Danse macabre" erklingt.
Claire Beyer stattet ihre Figuren mit einer sparsamen Rhetorik aus. So als hätten die extremen klimatischen Bedingungen nicht nur Einfluss auf die Körperbewegungen, sondern auch auf die der Sprache. In kargen Dialogen, in denen vieles unausgesprochen bleibt, wird der Text angenehm entschleunigt und schließlich selbst zum Refugium. In einem Gedicht des schwedischen Lyrikers Tomas Tranströmer – wo es heißt: "Meine Schritte hierher waren Explosionen im Boden, die das Schweigen übermalt" – findet Claudia eine Sprache, die ihre eigene Situation bestens beschreibt.

Claire Beyer: Refugium
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2013
251 Seiten, 19,90 Euro

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