Landidylle

Ein gefährliches Wunschbild von Städtern geprägt

Eine gedeckte Tafel auf einem Demeter-Bauernhof in Hirschfelde (Brandenburg), 2012
Eine gedeckte Tafel © picture alliance / dpa / ZB / Patrick Pleul
Von Holger Siemann · 16.02.2018
Städter haben oft ein verklärtes Bild vom Landleben, meint der Philosoph Holger Siemann. Einige ziehen sogar aufs Land, wo sie ein friedliches und romantisches Lebensumfeld erwarten - ein Trugschluss, meint Siemann.
Vor sieben Jahren zog ich in die Uckermark, um einen kleinen Bauernhof aufzubauen und in des Winters Einsamkeit Bücher zu schreiben. Bis dahin hatte ich geglaubt, jenseits der Stadtgrenze Berlins sei Natur, also Wiese, Acker, See und Wald, was man so sieht, wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist. Stank es nicht nach Kuhmist, wie sich das gehörte? Leuchtete der Raps nicht bis zum Horizont, wie er soll?

Statt wahrer Landidylle: Monokulturen und Massentierhaltung

Nun musste ich lernen, dass aus der Perspektive des Landbewohners rings um Berlin Ausflugsgebiete wie grüne Oasen in einer industriell genutzten Agrarwüste liegen, durchbrochen von festungsartig umzäunten und bewachten Massentierhaltungen, Windradparks und Straßenschneisen. Der Gülle-Gestank rührt von den Verklappungsflächen der Massentierhaltung.
Die Raps-Monokulturen stehen auf insektenfreiem, nach Bedarf gedüngtem und totgespritztem Trägersubstrat. Und die Bienen waren nicht brutlos, weil die Königin geschwärmt war, sondern weil sie nach dem Ende der Rapsblüte aufgehört hatte, Eier zu legen, denn nun gab es nichts mehr, von dem ihr Volk hätte leben können. Nur Wüste. Mais. Weide. Unkrautloses Getreide. So etwas stand in keinem meiner Imkerlehrbücher, denn so etwas gab es früher nicht.

Zeitschriften wie "Landlust" liefern Traumbilder

Ich weiß, dass Dystopien schwer zu ertragen sind. Mich lähmt sowas. Also lieber andersrum: Widmen wir uns dem Idyll. Gefühlte 90 Prozent unserer Besucher und Feriengäste würden selbst gern auf dem Land wohnen. Zeitschriften wie die "Landlust" liefern ihnen Traumbilder von altem Handwerk, einfachem Leben und langsam gehenden Uhren, unter Ausblendung störender Informationen über Massentierhaltung, Landflucht und Klimawandel. Mittlerweile produziert jede der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ihr Regionalidyll.
Und auch wir müssen unseren Feriengästen den Ponyhof bieten, nach dem sie sich sehnen. Sie bleiben ahnungslos und: Sie ahnen nichts von der Täuschung, denn in den Neues-vom-Land-Büchern weltgewandter Journalisten sind wir Landbewohner ehrlich und ein bisschen Stulle, so ähnlich wie die Germanen des Tacitus. In Kinderbüchern kräht der Hahn auf dem Mist, tuckert der Bauer mit einem kleinen roten Traktor durchs Dorf, während in Wirklichkeit alle Hähne schon als Küken geschreddert werden und die Erntemaschinen GPS-gesteuert allein durch die Nacht dieseln.

Städter prägen das Bild vom Landleben, ohne es zu kennen

In meinem Spracherkennungsprogramm fehlen Verben wie harken, mulchen, balzen, pökeln, blöken und Substantive wie Varroa, Einstreu, Forke, Lupine oder Hufschmied. Klar, es sind ja Städter, die unsere Programme schreiben. Sie projizieren ihr Weltbild an die Außenwand der Metropolen wie an eine Kinoleinwand und genießen ihren Lieblingsfilm. Sie bestimmen den Diskurs, denn sie haben die Macht. Das wäre vielleicht nicht so schlimm, gäbe es da nicht die unangenehmen Wirkungen des Gefangenseins in der Blase.
Wir kennen das von Facebook: Man merkt irgendwann nicht mehr, dass man nur sieht, was man sehen will. Wenn Sie sich schon mal gefragt haben, warum es der Menschheit trotz aller Warnungen so schwer fällt, den Kurs Richtung Apokalypse zu ändern, hier kommt meine Antwort: Der mächtige Teil der Menschheit lebt in Stadtblasen, um weiter in eitler Selbstverliebtheit von einer schon dramatisch instabilen Biosphäre parasitieren zu können.

Konzept der Idylle vernebelt und verhindert vernünftiges Handeln

Das Konzept der Idylle ist dazu da, die Katastrophe ringsum nicht wahrzunehmen, die Wirklichkeit zu vernebeln. Das Konzept der Idylle lähmt das vernünftige Handeln. Es ist reaktionär. Es ist ein Mörderstück.

Holger Siemann, 1962 in Leipzig geboren, studierte Philosophie in Berlin. Er arbeitete als Offizier, Schauspieler, Sozialwissenschaftler und Familienhelfer, seit 2001 als freier Autor zahlreicher Hörspiele, Feature und Libretti. 2006 und 2008 erschienen die ersten beiden Romane bei C.Bertelsmann. Seit 2010 lebt und arbeitet Holger Siemann als schreibender Bauer auf einem Hof in der Uckermark.

Der Autor Holger Siemann bei einer Lesung sitzend am Tisch mit einem Mikrofon.
© picture alliance / dpa / Florian Schuh
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