Lagerliteratur

Die Schriftsteller-Generation mit Holocausterfahrung

29:53 Minuten
Der Schriftsteller Imre Kertesz
Der Schriftsteller Imre Kertesz © imago stock&people
Von Siegfried Ressel · 21.01.2022
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Autoren mit Holocaust- und Lagererfahrung wie Imre Kertész oder Jorge Semprun waren mehr als Schriftsteller. Ihre intellektuelle Stimme war zugleich eine moralische. Was passiert mit der Literatur dieser Autoren nach deren Ableben?
Zu ihren Lebzeiten ließen Imre Kertész oder Jorge Semprun uns teilhaben an ihren unermüdlichen Reflexionen über den Zivilisationsbruch des Holocaust: Sie waren öffentliche Diskurspartner, wenn es darum ging, aus der Geschichte zu lernen. Was bleibt, wenn ihre Person fehlt? Verblasst die Wirkung der Texte allmählich? Geraten diese zu Klassikern, von Zeit zu Zeit lesenswert, aber ohne jeden gegenwärtigen Bezug?

Inspirationen und Argumente

Oder halten sie uns nach wie vor wach und vermitteln uns Inspirationen und Argumente in einer Zeit und Gesellschaft, in der beispielsweise Hass wieder salonfähig geworden ist? Siegfried Ressel hat mit Autoren, Literaturwissenschaftlern und Historikern gesprochen, die ganz unterschiedliche Meinungen zur Zukunft der Lagerliteratur des 20. Jahrhunderts haben. So zum Beispiel mit dem Schriftsteller Ivan Ivanji.
Ivan Ivanji wird 1944 als serbischer Jude mit 15 Jahren über Auschwitz nach Buchenwald deportiert. Seine Eltern werden noch in Belgrad ermordet. Mit Glück überlebt er die Lager. Später, im Jugoslawien Titos, ist er wegen seiner deutschen Sprachkenntnisse zeitweilig dessen Dolmetscher. Außerdem arbeitet er als Diplomat, Architekt, Theaterdirektor und als Vorsitzender des Jugoslawischen Schriftstellerverbands. Er schreibt bis heute unzählige Bücher, Texte und Essays.
Ein älterer Mann sitzt in einem Arbeitsstuhl. Hinter ihm ist ein Computer und ein Bücherregel. Es ist Ivan Ivanji in seinem Arbeitszimmer in Belgrad.
Eine moralische Instanz der serbischen Publizistik: Ivan Ivanji kommentiert auch noch als 90-Jähriger das politische Geschehen.© Siegfried Ressel
Der inzwischen 90-Jährige sitzt in seinem Arbeitszimmer, umgeben von den unterschiedlichen Ausgaben seiner Bücher. In einigen reflektiert er literarisch die Deportation, die Lagererfahrung und die lebenslange persönliche Auseinandersetzung damit.

Ich stand drinnen. Wo drinnen? Erde, Gras, Abendhimmel. Allmählich Dämmerung. Und ich habe absolut nicht gewusst, warum ich 'hinein' gegangen bin und was ich jetzt machen sollte: beten, fluchen, ein Gedicht aufsagen, niederknien, auf die Erde fallen und sie küssen, sie bespucken?
Das Einzige, was mir dazu und zu meinen Erinnerungen – in diesem Fall sehr lebhaft und wahr – einfällt, ist: schreiben, aufschreiben. Warum? Das weiß ich auch nicht.

Aus "Mein schönes Leben in der Hölle" von Ivan Ivanji

"Erinnerungen sind immer ein gefährliches Ding", sagt Ivanji, "weil wir nie genau wissen, ob wir uns richtig erinnern. Da schreibt man sich etwas von der Seele, dadurch halbliterarische gefasste Erinnerungsbücher und dann das, was doch Fiktion, was versucht, Roman zu sein. Später habe ich festgestellt, dass es immer schwieriger wird, denn das, was man gesehen hat im Fernsehen oder im Film überlagert die eigene Erinnerung so stark, doch ich kann dank der Dokumente genau feststellen, an welchem Tag ich von Baja in Ungarn nach Auschwitz gefahren worden bin, aber ich hab überhaupt keine Erinnerungen an diese Reise. Aber ganz genau erinnere ich mich, wie diese Züge rollen über die Leinwand oder über den Fernsehschirm."
Was wird bleiben von den Werken jener, die die Lager erlebten und darüber schrieben? Was bleibt nach ihren Tod, nach ihrem physischen Ableben, wenn ihre kritischen Stimmen ein für alle Mal nicht mehr hörbar sind?

Das Manuskript der Wiederholung vom 18. Mai 2018 zum Herunterladen im PDF-Format.

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