Lafontaine: Mehr Demokratie mit Blick auf den Euro

Moderation: Susanne Führer · 01.06.2013
Vor dem Hintergrund deutsch-französischer Bemühungen, Europa aus der Krise zu führen, hat Oskar Lafontaine, der Vorsitzende der Linken im saarländischen Landtag, für mehr demokratische Entscheidungsprozesse geworben. Er will ein europäisches Währungssystem, bei dem nicht nur einer bestimmt, wo es langgeht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Lafontaine, eine gemeinsame Währung ist die Grundlage für Wachstum und Beschäftigung in Europa, sagte einst der SPD-Politiker Oskar Lafontaine. Was hat sich denn für den Linken-Politiker Oskar Lafontaine verändert, dass er jetzt ein neues europäisches Geldsystem und damit den Ausstieg aus dem Euro propagiert?

Oskar Lafontaine: Verändert hat sich, dass die Vorschläge, die wir damals gemacht haben, nicht realisiert worden sind, weil, nur aufgrund dieser Vorschläge hätte dieser Satz, den Sie verlesen haben, gestimmt. Wir haben damals zum Beispiel eine europäische Wirtschaftsregierung vorgeschlagen. Das ist schon sehr, sehr lange her. Heute greift Hollande diesen Vorschlag wieder auf. – Was steckt dahinter?

Damit jeder das versteht: Man kann eine einheitliche Währung nicht haben, wenn man gleichzeitig eine unterschiedliche Finanzpolitik, eine unterschiedliche Steuerpolitik, eine unterschiedliche Lohnpolitik hat. Und wenn man gleichzeitig noch Regeln hat, etwa über die Verträge, dass es keinen gegenseitigen Ausgleich gibt usw., das kann nicht funktionieren. Das haben wir damals aber gesagt. Insofern ist es bedauerlich, dass bis zum heutigen Tage die Entwicklung in eine ganz andere Richtung gegangen ist.

Jetzt muss man feststellen, dass wieder Feindseligkeit zwischen den Völkern Europas wächst, dass faschistische Bewegungen groß werden. Und jeder verantwortliche europäische Politiker muss sich die Frage stellen: Was können wir tun, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten?

Deutschlandradio Kultur: Dieser Konstruktionsfehler ist ja erkannt, wie Sie sagen. Und er wurde frühzeitig erkannt und auch jetzt ist viel darüber geredet worden, dass diese ganze Krise eben auch damit zu tun hat, dass wir keine einheitliche Wirtschaftsstandards und Wirtschaftspolitik haben. Sie sagen, Hollande greift das auf, der französische Präsident, aber passiert tatsächlich was, sichtbar für die Leute, dass sich an dieser Stelle etwas ändert?

Oskar Lafontaine: Nein. Das ist ja wie mit vielen anderen Vorschlägen, die sehr lange bekannt sind. Sie werden einfach nicht realisiert, weil wir eine bestimmte Ideologie in Europa haben. Das ist die Ideologie des Neoliberalismus, die insbesondere in Deutschland vertreten wird. Nach dieser Ideologie muss man wettbewerbsfähig sein, die Wettbewerbsfähigkeit steigern. Das heißt, man muss vor allen Dingen die Lohnkosten drücken und muss auch die Steuern senken. Und dann entsteht eben ein Wettbewerb um Lohndumping, um Steuerdumping und Sozialdumping, also auch den Sozialstaat abbauen. Und das kann nicht funktionieren. Diese Ideologie steht einer gesunden europäischen Entwicklung im Wege.

Deutschlandradio Kultur: Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wollen ja ein anderes Währungssystem. Sie wollen praktisch den Ausstieg aus dem Euro. Das würde ermöglichen, dass man nationale Währungen einführt, die man abwerten kann. Würde so dann die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt, Herr Lafontaine?

Oskar Lafontaine: Ja, die Abwertung ist ein klassisches Mittel, um die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft zu steigern. Darauf greifen die Volkswirtschaften immer wieder zurück, sofern sie dieses Instrument haben. Das andere Instrument wäre eben Lohnsenkung und Rentensenkung und Abbau des Sozialstaates. Und dass die Volkswirtschaften oder die Demokratien zu diesem Instrument kaum greifen werden, haben wir ja auch in Europa gesehen. Und wir sehen, welche großen Schwierigkeiten und Verwerfungen es gibt, wenn man zu diesem Instrument greift.

Aber wichtig ist, dass wir Folgendes sehen: Das Währungssystem hat eine dienende Funktion. Das ist nicht irgendwie eine göttliche Einrichtung oder so, sondern es hat eine dienende Funktion. Es soll der europäischen Entwicklung dienen und nützen und soll natürlich auch der Wirtschaft dienen und nützen. Und wir stellen fest, dass eine einheitliche Währung nur dann dient und nützt, wenn bestimmte andere Voraussetzungen erfüllt werden. Das war ja der Ausgangspunkt. Das war auch die Diskussion. Das habe ich beispielsweise im Bundesrat als Sprecher der SPD-geführten Regierung damals ausführlich dargelegt vor Einführung der Währungsunion. Das ist auch kürzlich im Fernsehen wieder gesendet worden. Und alle diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt worden und jetzt stehen wir vor dem Desaster, weil man die Ideologie, von der ich gesprochen habe, nicht aufgibt, dass die Länder dazu da sind, einander nieder zu konkurrieren.

Deutschlandradio Kultur: Nun müsste aber die Antwort darauf nicht lauten: Weniger Europa, was ja der Ausstieg aus dem Euro bedeuten würde. Die Kanzlerin sagt ja immer "stirbt der Euro, stirbt Europa", sondern sie müsste lauten: Mehr Europa, ein europäischer Finanzminister, eine europäische Wirtschafts- und Finanzregierung.

Oskar Lafontaine: Da ist die Frage: Was ist Europa oder was stellen wir uns in Europa vor? Europa hat für mich drei Säulen, einmal die Demokratie, dann den Sozialstaat, beide können ohne einander gar nicht sein, und zum Dritten den Rechtsstaat.

Die Demokratie wird jeden Tag abgebaut. Da werden Regierungen eingesetzt, die überhaupt nie gewählt worden sind. Denken Sie an Griechenland oder Italien. Da wird den Parlamenten gesagt, ihr habt überhaupt nichts mehr zu reden, ihr habt die Bankenrettungspakete nachzuvollziehen und habt das zu machen, was die Troika sagt oder IWF sagt usw. Ihr könnt allenfalls noch Ja und Nein sagen. Das heißt, die Demokratie wird abgebaut.

Der Rechtsstaat wird abgebaut. Darauf weist beispielsweise der Verfassungsrichter Kirchhof immer wieder hin, indem er sagt: Ja, die Grundlage Europas müsste auch die Beachtung des Rechts sein. Da kann man ihm nur zustimmen. Aber weil man sich so sehr in Irrtümer verstrickt hat, muss man immer wieder Verträge brechen.

Und der Sozialstaat wird ohnehin, auch von Deutschland ausgehend, abgebaut. Wir haben das ja in den letzten Jahren erlebt in Deutschland. Und dieselbe Politik will jetzt Frau Merkel in völliger Verkennung der wirtschaftlichen Zusammenhänge für ganz Europa verordnen. Und das führt zur ökonomischen Katastrophe. Also, der Merkelsche Satz "stirbt der Euro, dann stirbt Europa" ist schlicht und einfach nur ein Ausweis, dass sie die ökonomischen Dinge nicht durchschaut. Denn heute ist es so: Wenn das Eurosystem so bleibt, wie es ist, dann nimmt Europa immer größeren Schaden.

Deutschlandradio Kultur: Aber Frau Merkel hat ja inzwischen auch einen gewissen Widerstand, was den Export dieser politischen Idee anlangt. Dieser Widerstand kommt aus Frankreich. Er kommt sogar aus dem kleinen benachbarten Luxemburg, das auch schon mal den Finger gehoben hat und gesagt hat, nicht alles taugt, was Deutschland macht, als Vorbild für die anderen. Aber wie kann ich das lösen? Wen muss ich denn stärken, dass es in eine andere Richtung geht?

Oskar Lafontaine: Die Institutionen sind eben entscheidend. Das Eurosystem ist eben nicht dazu geeignet. Und das ist ein Währungssystem, ist nicht ein Geldstück, es ist ein Währungssystem. Das ist nicht dazu geeignet, diese Frage positiv zu beantworten.

Deutschlandradio Kultur: Aber wie ist die Alternative, Herr Lafontaine? Weil, wir haben jetzt die ganzen Probleme aufgezeigt? Wir haben eine Krisenmanagementsituation, die vielleicht nicht befriedigend ist, aber die den Euro doch zumindest mal momentan stabilisiert hat. Es herrscht Ruhe an den Finanzmärkten. Sie sagen, raus aus dem Euro. Wie soll das gehen?

Oskar Lafontaine: Die Alternative ergibt sich aus dem, was ich vorhin als Grundlage der europäischen Entwicklung genannt habe. Wir wollen Demokratie haben. Also müssen wir auch bei den Währungsfragen und bei den ganzen Geldfragen demokratische Prozesse beachten. Das heißt, einer kann nicht sagen, so geht’s lang, und die anderen müssen alle hinterher rennen. Das hat mit Demokratie überhaupt nichts zu tun.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, wir müssen die Zentralbank, die ja das eigentliche Sagen hat in Europa, unter demokratische Kontrolle – etwa des Währungsausschusses des Europaparlamentes – stellen.

Oskar Lafontaine: Es ist etwas umfassender das Thema. Das Eurosystem wurde ja deshalb geschaffen, weil man die Dominanz einer Zentralbank, und zwar der Deutschen Bundesbank, brechen wollte. Das war die Idee der anderen europäischen Regierungschefs. Sie haben gesagt: Wir sind ja gar nicht mehr selbständig. Wir können gar nicht mehr selbständig entscheiden. Wenn die Deutsche Bundesbank eine Entscheidung trifft, müssen wir hinterher rennen.

Deutschlandradio Kultur: Und so können sie jetzt wenigstens mitreden.

Oskar Lafontaine: Jetzt ist es so, dass das Eurosystem dazu geführt hat, dass die Regierungen und Parlamente gar nicht mehr entscheiden können, sondern dass jetzt eben mehr oder weniger die deutsche Bundesregierung, das heißt, die Bundeskanzlerin vorgibt, aufgrund der starken wirtschaftlichen Stellung Deutschlands, wo es langgeht. Und das beantwortet dann auch ihre Frage: Wir müssen ein europäisches Währungssystem konstruieren, das sicherstellt, dass nicht einer bestimmt, wo es langgeht.

Das heißt, wir brauchen auch bei Geldentscheidungen demokratische Entscheidungsprozesse. Es ist ja, wenn man so will, eine tief verwurzelte Ideologie in der ganzen Welt, dass das Geld sich der demokratischen Entscheidung entzieht. Die Banken schöpfen Geld. Die Leute wissen es überhaupt nicht. Die Banken produzieren Blasen und Blasen und Blasen und die Leute stehen gegenüber den Banken wie vor einem Doktor mit weißem Kittel, der also sagt, welche Therapie notwendig ist, die sie letztendlich nicht beurteilen und verstehen können. Aber das Geldsystem kann man reformieren. Und deshalb muss man zu dem neuen Währungssystem, das ich verlange, etwas dazu sagen. Wir brauchen ein neues Geldsystem, das ich einmal so beschreiben möchte, dass jeder es versteht:

Die Banken sollen das machen, was ursprünglich mal die Sparkassen machen sollten. Sie sollen das Geld der Sparer einsammeln und es an die Leute, die eben Kredite brauchen, ausleihen, insbesondere an die investierende Wirtschaft.

Deutschlandradio Kultur: Im Grunde genommen sagen Sie ja, wir brauchen eine politischere Geldpolitik. Und diese Idee, dass es politisch vonstatten geht, die hatten wir ja schon einmal. Und sie wurde ja gegenteilig entschieden. Im Grunde genommen hat man sich ja bei der Wirtschafts- und Währungsunion dagegen entschieden, gegen diesen politischen Ansatz, und hat gegen diesen politischen Ansatz die Stabilität gestellt.

Oskar Lafontaine: Das ist eine autoritäre Denkstruktur, die Sie jetzt referiert haben. Es gibt ja den Begriff des entpolitisierten Geldes, einer der dümmsten Begriffe, die ich überhaupt gehört habe. Es gibt nichts Entpolitisiertes! Damit ist gemeint, dass Politiker nichts zu sagen haben sollen bei geldpolitischen Entscheidungen. Aber warum eigentlich? Sie sind ja doch die vom Volk beauftragten Vertreter, die diese Entscheidungen treffen sollen.

Und das führt dann wieder zu der Antwort: Das Geld ist so heilig und so wichtig. Das ist pure Ideologie, man könnte auch sagen, eine ganz dumme Ideologie, dass die Demokratie da überhaupt nichts verloren hat. Wo wir hinkommen, wenn wir den Geldverantwortlichen die Entscheidung überlassen, sehen wir doch jetzt. Nirgendwo wurden solch gewaltige Fehlentscheidungen getroffen in den letzten Jahrzehnten wie bei den Experten und Fachleuten des Geldes.

Deutschlandradio Kultur: Also, Sie fordern ganz konkret, dass die EZB zum Beispiel unter politische Kontrolle gestellt würde?

Oskar Lafontaine: Unter demokratische Kontrolle gestellt wird,...

Deutschlandradio Kultur: Dann hätten aber Politiker - wie Sie früher als Finanzminister - dann das Sagen.

Oskar Lafontaine: ..., damit klar ist, dass in der Geldpolitik nicht irgendeine Ideologie herrschen darf, die sagt, da ist etwas Sakrosanktes, das darf gar nicht demokratisch diskutiert werden. Zur Nachhilfe kann man noch darauf hinweisen, dass etwa in vielen Zentralbanken Politiker sitzen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Lafontaine, Sie fordern also im Grunde genommen eine Änderung der europäischen Spielregeln. Dazu gehört zum Beispiel auch eine Beschränkung des Kapitals. Es soll sich nicht mehr ungehindert bewegen dürfen. Was würde das denn den Europäern nun bringen? Wo wäre der Nutzen dieser Maßnahme?

Oskar Lafontaine: Das ist ja ein interessantes Stichwort. Der freie Kapitalverkehr ist natürlich eine Erfindung derjenigen gewesen, die eben davon profitieren als Spekulanten in der ganzen Welt. Und die wollten natürlich nicht durch irgendwelche Kontrollmechanismen an ihrem Treiben gehindert werden – bis hin zu den Steueroasen, die ja immer noch da sind. Und von den Steueroasen ausgehend verbreitet sich die Ideologie, dass man keine Kapitalverkehrskontrollen haben will in der ganzen Welt. Weil, die schmutzigen Geschäfte sollen ja nirgendwo kontrolliert werden.

Also, Kapitalverkehrskontrollen sind ein Mittel, um die gewaltigen Spekulationswellen, die die Welt in den letzten Jahrzehnten in Unordnung gebracht haben, zu dämpfen.

Deutschlandradio Kultur: Wäre aber ein Mittel, was entgegen dem Prinzip des EU-Binnenmarkts wäre. Und noch mal, Herr Lafontaine, auch die Frage: Heraus aus dem Euro? Das geht doch vertragsmäßig gar nicht. Machen Sie hier nicht nur populistische Politik, auch um die Alternative für Deutschland, ein bisschen denen Wähler wegzunehmen? Spalten Sie nicht Ihre eigene Partei mit diesen Vorstellungen?

Oskar Lafontaine: Das sind jetzt alles die Klischees, die ich in den Medien gelesen habe und die mich belustigen. Die ‚Alternative für Deutschland’ hat einen ganz anderen Ansatzpunkt. Es ist ja eine konservative Parteienbewegung, bei der man nicht weiß, was letztendlich dabei herauskommen wird. Ich will auf einen entscheidenden Punkt hinweisen, das Lohndumping. Diese ‚Alternative’ vertritt das Lohndumping der Deutschen und ist damit, wenn man so will, völlig konträr zu unserer Position. Denn das Lohndumping ist die Ursache für die gewaltigen Fehlentwicklungen im Eurosystem. Wenn man so will, ist die ‚Alternative für Deutschland’ eine Gründung, die durch ihre verfehlte Politik mit dazu beigetragen hat, dass das System auseinander bricht.

Wir müssen als verantwortliche Europäer jetzt einmal sagen: Was wollen wir denn tun, um diesen Prozess zu stoppen? Und dem dient eben ein Geldsystem, ein Währungssystem, das die starken Spannungen nicht hervorbringt, die das jetzige Euro-System hervorbringt. Es geht also, wenn man so will, um zwei unterschiedliche Apparate. Den einen Apparat nennen wir Euro-System. Der hat solche Fehlkonstruktionen, dass er irgendwann zerbricht. Den anderen Apparat nennen wir europäisches Währungssystem. Das muss ein Apparat sein, der ein besserer Apparat ist als der, den Schmidt und Giscard damals auf den Weg gebracht haben. Die haben das ja gemacht, um die europäische Einigung zu befördern, nicht um die europäische Einigung zu behindern.

Deshalb ist das kein Populismus, sondern verantwortliche Politik. Das, was sich mit dem Vorwurf Populismus wehrt, ist schlicht und einfach Starrsinn und Unbelehrbarkeit, die also nicht zur Kenntnis nehmen will, was in Südeuropa eigentlich schon alles passiert ist: Demokratieabbau, wieder aufkommender Faschismus und großes menschliches Leid.

Deutschlandradio Kultur: Aber die EU-Verträge sehen einen Austritt nicht vor. Wie soll das gehen?

Oskar Lafontaine: An den EU-Verträgen orientiert sich sowieso niemand mehr. Und vor allen Dingen die Regierungen haben sie ununterbrochen gebrochen. Insofern ist das kein Argument mehr.

Deutschlandradio Kultur: Aber, Herr Lafontaine, nicht überall ist das von Ihnen festgestellte, von Deutschland aus betriebene Lohndumping der Grund dafür, dass Volkswirtschaften ein wenig in Schieflage geraten sind. Weder in Griechenland noch in Irland ist das die Ursache dafür gewesen. Es gibt durchaus ja auch multiple Gründe dafür, die dafür gesorgt haben, dass es dort nicht so richtig läuft. Nur noch einmal: Ihre explizite Position, ist das eine Position der Gesamtpartei?

Oskar Lafontaine: Also, wenn Sie das Lohndumping ansprechen, dann muss ich natürlich widersprechen. Die Lohnentwicklung, das wissen alle unserer Zuhörerinnen und Zuhörer, ist die entscheidende Schlüsselgröße einer Volkswirtschaft. Denn an Lohnentwicklung hängt die ganze Rentenentwicklung, hängt der ganze Sozialstaat. Das heißt also, wenn man so will, die gesamte Nachfrage der Volkswirtschaften hängt an den Lohnentwicklung, aber auch ihre Exportfähigkeit.

Wenn man Lohndumping betreibt, ist man exportfähiger als ein anderer. Wenn man aber Exportüberschüsse hat, zwingt man andere sich zu verschulden. Das ist der Zusammenhang der eben – zumindest im Deutschen Bundestag – von der großen Mehrheit nicht erkannt wird.

Und nun zu Ihrer zweiten Frage: Innerhalb der Partei Die Linke wird natürlich diskutiert. Und es gibt eine sehr überraschend gute Diskussion, auch tiefe Diskussion über den Weg, den wir jetzt einschlagen sollten. Die entscheidende Frage, welchen Ausweg wir finden, um Demokratieabbau, Sozialstaatsabbau und Abbau des Rechtsstaates zu unterbinden und um die Feindseligkeit zwischen den Völkern zu unterbinden, das Aufkommen des Faschismus zu unterbinden, da gibt’s eben bis jetzt nur den Vorschlag, den einige zusammen mit mir gemacht haben, ein flexibleres Geldsystem zu installieren, um die Spannungen aus dem System herauszunehmen. Einen anderen Vorschlag kenne ich nicht.

Deutschlandradio Kultur: Ist da nicht ein Widerspruch, wenn Sie sich da in guter Gesellschaft mit Marine Le Pen vom rechten Rand befinden in Frankreich, die auch den Ausstieg aus dem Euro fordert?

Oskar Lafontaine: Das hat ja überhaupt nichts damit zu tun. Frau Le Pen hat sich noch nie mit Währungsfragen auseinandergesetzt. Sie weiß gar nicht, auf welcher Ebene diese Debatte geführt wird. Aber Sie könnten mir ja Leute vorhalten wie die amerikanischen Ökonomen, die Nobelpreisträger, die ebenfalls seit langem sagen, das kann so nicht funktionieren. Und in der Gesellschaft mit dem amerikanischen Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft darf man sich ja sehr wohl befinden. Die verstehen zumindest mehr vom System als solche, die platte Sprechblasen in die Welt setzen. Es geht hier um ein Währungssystem, nicht um ein Geldstück.

Deutschlandradio Kultur: Aber Herr Lafontaine, das Problem ist doch: Kann man eine Diskussion über den Euro in guten Bahnen behalten? Kommen da so populistische Dinge einfach auf, die dann vielleicht dann doch Überhand gewinnen.

Oskar Lafontaine: Der Vorwurf des Populismus ist ein so wohlfeiler Vorwurf, dass er meistens auf den zurückfällt, der ihn überhaupt erhebt, weil, es sind diejenigen, die sich das Denken ersparen wollen und auch keine Argumentation zulassen. Man kann ja sagen, ein Währungssystem, das also flexibel ist, das wollen wir nicht aus den und den Gründen. Das kann man sagen. Da muss man argumentieren. Und man kann sagen, das jetzige Währungssystem ist wunderbar. Aber dann muss man realitätsblind sein, da muss man überhaupt nichts mehr sehen wollen.

Und deshalb sage ich: Wir müssen die Uneinsichtigkeit, den Starrsinn überwinden und müssen zu einer echten Diskussion kommen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Lafontaine, ich möchte ein bisschen das Thema auf einen anderen Punkt lenken. Und zwar haben wir ja gerade aktuell eine sehr große Diskussion über Steuervermeidung. Wir haben Firmen wie Apple, die in Deutschland wohl 250 Millionen Steuern zahlen müssten, aber aufgrund von Steuervermeidung nur fünf Millionen zahlen. Das DIW hat ausgerechnet, es gäbe eine Besteuerungslücke von 90 Milliarden 2008.

Sie waren mal Finanzminister. Was würden Sie tun, um diese Besteuerungslücke zu schließen?

Oskar Lafontaine: Na, andere Gesetze machen. Dazu braucht man politische Mehrheiten. Ein Finanzminister allein kann das nicht machen, aber er kann natürlich Impulse geben. Und insofern wäre es natürlich wünschenswert, wenn der jetzige deutsche Finanzminister nicht nur wie die anderen Finanzminister der europäischen Staaten jetzt jedes Jahr immer wieder herrliche Schwüre ablegen, dass sie Steuervermeidung bekämpfen wollen. In Wirklichkeit passiert ja nichts.

Deutschlandradio Kultur: Ich hab mal ein Zitat von Ihnen gefunden, das ist schon ein bisschen her, wo Sie gesagt haben: "Leute, die in Deutschland nicht ihre Steuern zahlen, denen sollte man die Nationalität, die Staatsbürgerschaft entziehen." – Sollte man Uli Hoeneß die Staatsbürgerschaft entziehen?

Oskar Lafontaine: Es würde ja auch nichts nützen, wenn man Einzelnen die Staatsbürgerschaft entziehen würde. Wir müssen zu einem funktionierenden System kommen, dass die Leute wieder Steuern zahlen. Und dazu brauchen wir eine Veränderung des Zeitgeistes.

Deutschlandradio Kultur: Nun hat Uli Hoeneß ja nicht nur Steuern vermieden, sondern er hat gar keine gezahlt. Er hat richtig betrogen. Und das wäre doch ein Grund, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, oder?

Oskar Lafontaine: Ich kenne den Fall zu wenig. Er interessiert mich auch relativ wenig – aus einem einfachen Grund: Herr Hoeneß hat sich immer so in sehr, wie soll ich einmal sagen, unfreundlicher Weise gegenüber der Linken und meiner Person geäußert, dass es jetzt von mir, wenn man so will, ein Nachkarten wäre. Und das liegt mir einfach nicht. Ich war im Sport immer fair.

Deutschlandradio Kultur: Aber wird dieses prominente Beispiel mehr auslösen als einen kleinen Sturm im Wasserglas, den wir ja durchaus hatten in der öffentlichen Wahrnehmung?

Oskar Lafontaine: Da hab ich meine Zweifel aufgrund meiner Erfahrungen der letzten Jahrzehnte. Und man sieht ja jetzt, was los ist, wenn die Grünen mal Teilkorrekturen der Fehlentwicklung vorschlagen und die SPD auch kleine Teilkorrekturen, bis hin zu unseren Vorschlägen, die dann so behandelt werden, ich könnte schon fast sagen, wie immer. Da hat sich das Institut der Deutschen Wirtschaft oder war es das RWI, also eines der beiden Wirtschaftsinstitute hat sich beschäftigt mit unseren Steuervorstellungen und hat sie natürlich völlig falsch wiedergegeben, weil man eines völlig vermeiden will, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass Die Linke die einzige Partei in Deutschland ist, die schon mehrfach im Deutschen Bundestag beantragt hat, mittlere Angestellte und Facharbeiter kräftig zu entlasten.

Deutschlandradio Kultur: Ich nehme an, das wäre ein Vorschlag, den Sie Peer Steinbrück als Wahlkampfberater von ihm raten würden. Was würden Sie dem Kandidaten Peer Steinbrück noch raten, damit er die Wahl gewinnt?

Oskar Lafontaine: Ich weiß nicht, ob ich jetzt der richtige Ansprechpartner bin. Der Rat ist aber immer ganz einfach: Man muss ins Volk hineinhören und muss eben dann eben die Politik formulieren. Denn die Politik ist ja, das wird ja dann als Populismus diffamiert, offensichtlich ist nur noch dann etwas gute Politik, wenn man sich immer gegen die Bevölkerung entscheidet. Das ist in allen entscheidenden Fragen so. – Bei der Rente, bei Steuern, bei der Arbeitslosenversicherung, bei Kriegseintritt immer gegen die Bevölkerung – und das Ganze nennt sich Demokratie.

Deutschlandradio Kultur: Stichwort Bundestagswahl: Welche Chancen rechnen Sie denn Ihrer eigenen Partei da aus bei diesen Wahlen?

Oskar Lafontaine: Die Chancen werden in etwa so sein wie die Messergebnisse jetzt sind, sechs bis acht Prozent. Wir haben natürlich die Möglichkeit, in den nächsten Monaten noch etwas zuzulegen. Wir hatten das bei den bisherigen Bundestagswahlen geschafft. Ich hoffe, dass uns das wieder gelingt.

Deutschlandradio Kultur: Und Sie schließen eine Rückkehr in die Bundespolitik definitiv aus?

Oskar Lafontaine: Ich habe mich entschieden, nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren. Das ist bekannt. Und damit ist die Frage auch beantwortet. Das heißt natürlich nicht, dass ich nicht mich an Wahlkämpfen beteilige oder weiterhin an gesellschaftlichen Debatten.

Deutschlandradio Kultur: Dazu würde ja auch gehören die Frage, in welcher Rolle Die Linke womöglich nach der Bundestagswahl auftreten könnte, womöglich als Steigbügelhalterin für eine rot-grüne Minderheitsregierung. Würden Sie Ihrer Partei das raten?

Oskar Lafontaine: Das ist ja immer eine Frage der Politik, die gemacht werden soll. Und zunächst einmal stellt sich für uns die Frage gar nicht, weil ja SPD und Grüne heilige Schwüre leisten, mit uns nicht zusammenarbeiten zu wollen. Das hat ja auch seine Gründe. SPD und Grüne sind ja in Wirklichkeit keine Opposition. In den Medien werden sie immer als Opposition bezeichnet. Das ist ein Witz, der sich daraus erklärt, dass die betreffenden Kommentatoren und Sprecher kein Latein können. Opposition heißt eben das: Entgegengesetzte Standpunkte vertreten. Aber in der Europapolitik vertreten ja Grüne und SPD in entscheidenden Fragen, Rettungsschirme, Fiskalpakt usw., denselben Standpunkt wie die Regierung. Insofern hat es eine gewisse Logik, dass sie beide darum buhlen, wer mit der CDU ins Bett darf. Das ist ja die wahre Lage.

Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem, bei Rot-Grün wäre doch eine Rolle dann vielleicht trotzdem zu spielen, dass man sie toleriert.

Oskar Lafontaine: Es geht nicht um Rot-Grün, es geht eben um Inhalte. Darüber müssen wir wieder zu diskutieren lernen. Und wir haben immer gesagt: Wenn es eine Mehrheit gibt für den gesetzlichen Mindestlohn, von dem man leben kann und später eine Rente hat.

Es ist eine Schande, dass beispielsweise der DGB einen gesetzlichen Mindestlohn vertritt, von dem man später eine Hungerrente hat, …

Deutschlandradio Kultur: 8,50 Euro.

Oskar Lafontaine: …, ja, auch wenn man eben 45 Jahre gearbeitet hat. Das ist einfach eine Schande. Also, wenn es darum geht, einen gesetzlichen Mindestlohn, der mindestens zehn Euro betragen müsste, durchzusetzen, sind wir dabei. Wenn es darum geht, eine Arbeitslosenversicherung wieder zu errichten, die eben den Absturz auch qualifiziertester Leute nach einem Jahr vermeidet, wenn ein Ingenieur arbeitslos wird und nach einem Jahr fällt er in Hartz IV, das war früher nie der Fall, da sind wir sofort dabei. Wenn es darum geht, die ständigen Rentenkürzungen zu vermeiden, sind wir sofort dabei, egal wie sich der Verein dann nennt.

Nur leider haben wir auch eine Situation, dass – weil ich gerade das Stichwort Rentenkürzung genannt habe – über 80, 90 % der Rentnerinnen und Rentner immer Parteien wählen, die die Renten kürzen. Also wird am Ende wieder Rentenkürzung stehen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Lafontaine, Oberbürgermeister, Ministerpräsident, Parteivorsitzender, Finanzminister, Privatier, am wohlsten haben Sie sich gefühlt in welcher Rolle?

Oskar Lafontaine: Ich habe, was das politische Leben angeht, immer auf den Oberbürgermeister hingewiesen in Saarbrücken, weil man am nächsten bei der Bevölkerung ist. Man sagt, hier kommt ein Kinderspielplatz hin. Der kommt dann da hin. Man sagt, hier wird eine Turnhalle gebaut. Die wird dann gebaut. Man sagt, hier wird eine Kultureinrichtung geschaffen, etwa ein Sprechtheater, und das kommt dann zustande. Das ist also der politische Bereich, wo man am nächsten ist.

Natürlich werden die Entscheidungen, die das Schicksal der Menschen oder das Leben der Menschen bestimmen, nicht allein in der Gemeinde getroffen. Leider sind ja nur noch 15 % der Steuereinnahmen, kommen nur noch in der Gemeinde an. Das heißt, viele soziale und steuerpolitische Entscheidungen, die das Leben prägen, werden auf Bundesebene getroffen. Insofern ist die Bundespolitik natürlich auch sehr wichtig.

Deutschlandradio Kultur: Gestatten Sie mir noch, Sie haben ja gesagt, Sie wollten nicht mehr in die Bundespolitik zurück: Wenn Sie dann mal auf Ihr politisches Leben, es war ein sehr langes, sagten Sie mir vorhin auch, wenn Sie zurückblicken, was war Ihr größter Fehler im Nachhinein?

Oskar Lafontaine: Das würde jetzt die Sendung sprengen, wenn ich alle meine Fehler erwähnen würde.

Deutschlandradio Kultur: Größter!

Oskar Lafontaine: Sicherlich war es mein größter Fehler, beim Wahlsieg der SPD 98 nicht darauf geachtet zu haben, dass die Strukturen so aufgebaut worden wären, dass eben das auch umgesetzt würde, was wir 98 den Wählerinnen und Wählern versprochen haben. Denn Hartz IV und Agenda 2010, davon stand nichts, aber auch überhaupt nichts im Programm, auch nichts von der Kriegsbeteiligung.

Deutschlandradio Kultur: Herr Lafontaine, letzte Frage: Ihre ehemalige Partei hat ja gerade vorletzte Woche ihr 150-jähriges Jubiläum gefeiert. Sie waren immerhin 40 Jahre Mitglied. Welche Gedanken sind Ihnen da durch den Kopf gegangen?

Oskar Lafontaine: Ja, ich habe die Geschichte der Partei kritisch reflektiert, die mir vieles gegeben hat, der ich auch versucht habe vieles zu geben, und habe es eben bedauert, dass die Partei jetzt mitverantwortlich ist für Leiharbeit, für befristete Arbeitsverträge, für Minijobs, für den europäischen Fiskalpakt.

Und deshalb habe ich eben mit Wehmut an diesem Tag daran gedacht, wie schön es doch wäre, wenn diese Partei zu ihren Ursprüngen zurückkehren würde, die ganz einfach zu formulieren sind: Wir sind für Frieden und für die kleinen Leute.

Deutschlandradio Kultur: Wir danken Ihnen für das Gespräch.
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