"Längst ein einziges Durcheinander"

Eberhard Straub im Gespräch mit Dieter Kassel · 20.08.2010
Eberhard Straub kritisiert, dass sich Werte bis heute begrifflich nicht unterscheiden lassen von Tugenden, Normen, Prinzipien und anderen sittlichen Grundsätzen. Der Historiker versucht, in seinem Buch "Zur Tyrannei der Werte" mit der Werte-Inflation aufzuräumen.
Dieter Kassel: Die Europäische Union bezeichnet sich selber gerne als Wertegemeinschaft, andere politische und sonstige Bündnisse auch, die NATO zum Beispiel. Aber dieses Verbundensein durch gemeinsame Werte, das funktioniert auch im Kleinen, funktioniert auch bei diversen gesellschaftlichen Gruppen. Diese Inflation der Werte, die ärgert den Historiker Eberhard Straub sehr, das merkt man seinem neuesten Buch an. Eberhard Straub ist, wie erwähnt, Geschichtswissenschaftler, er war außerdem lange Zeit Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und später auch bei anderen Zeitungen und ist inzwischen freiberuflicher Journalist. Er sieht im Moment gar nicht wütend aus, sondern sehr gelassen, er sitzt mir nämlich gegenüber. Schönen guten Tag, Herr Straub!

Eberhard Straub: Ja, guten Tag, danke!

Kassel: Ganz konkret: Wenn zum Beispiel die Europäische Gemeinschaft sagt, sie sei eine Wertegemeinschaft, dieses Gemeine von so vielen Ländern beruhe auf diesen europäischen Werten – warum ärgert Sie das?

Straub: Warum mich das ärgert? Weil das alles Redensarten sind. Zum Beispiel im Lissabonner Vertrag heißt es, die europäischen Werte würden das christliche Abendland ausmachen, die griechische Philosophie oder die Aufklärung – kein Mensch weiß heute noch, was überhaupt das Christentum ist in einem sich entchristlichenden Europa. Da wir alle kein Latein und Griechisch mehr lernen, können wir weder die Klassiker der Römerzeit noch die klassischen Philosophen der Griechen lesen. Und was die Aufklärung ist, das wissen wir beim besten Willen auch wiederum nicht, wollen wir die Aufklärung mit Voltaire, der war ein Feind der Republik und der Demokratie, wollen wir die Aufklärung mit Rousseau, der war ein Freund der Demokratie, aber einer ganz anderen Demokratie als wir sie uns heute angeblich als Verfassungspatrioten vorstellen sollen. Und so kommt man im Grunde in ein Gelände ohne Halt.

Es sind einfach nur geisteswissenschaftliche, vage Vorstellungen und Begriffe, die darüber hinwegtäuschen sollen, dass wie die Bundesrepublik keine Staatsidee hat, die Europäer von sich als Gemeinschaft keine politische, juristische und von mir aus auch philosophisch begründete Idee und Vorstellung haben.

Kassel: Dass das Gerede von Werten Ersatz ist für etwas viel Konkreteres – ist das nur in diesem Fall der EU so oder kommt das häufiger vor?

Straub: Die Werte sind in der Regel ein Ersatz dafür, was man früher Metaphysik nannte oder Religion. Im 19. Jahrhundert hat sich alles das als historisch erwiesen, was wir bislang als ewige Grundüberzeugungen, als Tugenden, als Idee wie bei Platon uns vorgestellt haben. Wir stellten fest, dass es alles zeitbedingt ist, dass es in der Geschichte alles ein Auf und Ab gibt, und da sollten nun plötzlich die Werte ein Ersatz dafür sein für alles das, was uns verloren gegangen ist, damit die Leute im Pluralismus einen Halt finden.

Bloß: Die Werte selber sind eben nicht wie die platonischen Ideen jenseits der Geschichte, sondern auch sie sind in der Geschichte drin, sie entwickeln sich überhaupt erst im Zeitalter des Kapitalismus, im Kapitalismus haben die Werte etwas zu suchen, als Tauschwert, als Handelswert, als Mehrwert, und da hat es ihren Sinn. Aber ich kann nicht plötzlich auf einmal die Werte aus dem ökonomischen Zusammenhang gleichsam als geisteswissenschaftlich ideologisch hinüberverpflanzen, und dann plötzlich behaupten, sie hätten darüber ihre Konnotation mit der Ökonomie verbunden. Denn Werte werden immer aufgewertet, abgewertet, umgewertet, entwertet, und da ist man immer in einem ungeheuren Prozess drin, der eben gerade keine Stabilität, sondern einen pausenlosen Wandel verheißt, und genau deswegen alles noch unsicherer macht, als ohnehin schon alles ist.

Kassel: Ist denn dann in der Gegenwart das Problem mit den Werten nicht auch teilweise ein Verständnis- und ein sprachliches Problem? Werden nicht Begriffe wie Werte, Tugenden, moralische Kategorien und vieles mehr ein bisschen sehr durcheinandergewürfelt im Alltag?

Straub: Es ist im Grunde alles mittlerweile längst ein einziges Durcheinander geworden, weil man die Werte bis heute begrifflich überhaupt nicht unterscheiden konnte von Tugenden, von Normen, von Prinzipien und anderen sittlichen Grundsätzen. Dabei kommt man eben aufs Glatteis, verspricht den Leuten mit den Werten im Grunde einen Boden unter den Füßen, und alles gerät erst recht noch mehr ins Rutschen.

Es ist zum Beispiel das ungeheure Problem gerade hier in Deutschland, wenn wir beschlossen haben, unsere Verfassung zu einer Werteordnung aufzufassen und es jetzt zu einer Werteordnung zu stilisieren: In dem Moment, wo Rechte zu Werten werden, werden sie überhaupt nicht sicherer, sondern sie kommen in den ganzen Prozess der Wertdiskussion hinein, und dann wird der Rechtsstaat im Grunde unsicher und durch die Werte, die angeblich über dem Recht noch stehen, infrage gestellt. Und eine Werteordnung gibt keine Stabilität, sondern sie stellt die Rechtsordnung infrage, und das ist auf die Dauer dann etwas durchaus Riskantes in einem Rechtsstaat.

Kassel: Ich möchte noch mal darauf zurückkommen, das ist ja auch ein sehr großer Teil Ihres Buches, was Sie vorhin schon erzählt haben, nämlich dass dieser Begriff Werte sowohl in seinem ökonomischen, direkten Sinne als auch in diesem übertragenen Sinn, über den wir gerade schon viel gesprochen haben, erst so im späten 18. Jahrhundert eigentlich aufkommt, nämlich mit der Durchsetzung des Kapitalismus. Heißt das umgekehrt: Vor dieser Zeit im späten 18. Jahrhundert kannte die Menschheit keine Werte?

Straub: Nein, sie kannte kaum Werte, man sprach wenn gelegentlich von Gütern, bloß, die Güter waren durchaus etwas Sittliches, weil mit dem Summum bonum, was Gott ist, verbunden, und Gott ist ja keine Sache, sondern eine Person, und wenn ich einem Summum bonum folge und versuche, deswegen gut zu leben, ist es natürlich durchaus etwas Sittliches, weil Gott ist eine Person, ich folge einer Person nach und den Anforderungen, Befehlen, Tugenden, die er aufrichtet.

Der Wert, der dann im Kapitalismus kommt, das sind reine Sachwerte, und der Mensch hat – ob das nun die Christen gesagt haben oder ob es Kant gesagt hat –, der Mensch hat keinen Wert, weil er keine Sache ist, sondern er hat eine Würde, und die Würde beruht auf seiner Freiheit. Und in dem Moment, wenn ich jetzt den Menschen mit einem Wert versehe und in Wertordnungen einbinde, dann gerät mehr oder weniger auch die Würde und die Freiheit des Menschen infrage, und das ist dann etwas, was im Grunde genommen unserer Verfassung gerade nicht entspricht.

Kassel: Wenn wir über Freiheit gerade reden, dann sind wir, glaube ich, auch an diesem Punkt, den wir vorhin schon hatten, nämlich diese Begriffs… dieses Durcheinander der Begriffe, denn ich könnte mir vorstellen, dass der eine oder andere das hört und sagt: Werte bedrohen die Freiheit? Ich dachte eigentlich, die Freiheit ist ein Wert.

Straub: Die Freiheit kann kein Wert sein. Die Freiheit ist dem Menschen angeboren, das sagt man zumindest seit dem Christentum und sagt man mit Kant und ein paar anderen aufklärerischen Philosophen bis hin zu Hegel oder Heidegger, wem auch immer. Und Werte werden gesetzt, und hinter Werten stehen Interessentengruppen oder Menschen, Organisationen, die ihrem Wert Geltung verschaffen wollen. Werte gelten, und der Mensch kann nicht, wenn da plötzlich seine Würde zu einem Wert wird, der gerät eben, dieser Wert, die Würde des Menschen und die Freiheit, eben in Diskussion immer der ökonomischen Prozesse des Aufwertens und des Entwertens und des Abwertens. Und nach der Verfassung ist die menschliche Würde unantastbar und ist die Freiheit des Menschen etwas, worüber der Staat gar nicht zu befinden hat.

Was der Mensch mit seiner Freiheit anfängt, geht auch den Staat und die Gesellschaft gar nichts an, solange nicht die Freiheit der anderen beschädigt wird. So stehen immer Freiheit und Werte oder Würde, menschliche Würde und Werte, immer in einer Konkurrenz. Und wir sehen ja gerade jetzt in den letzten zehn Jahren der Diskussion, wie die Werte auch die angeblichen Rechte sein sollen, entwertet werden, indem der Mensch ja nicht mehr als Bürger angesprochen wird, sondern pausenlos als Kunde. Wir sollen Kunde sein beim Jobcenter, wenn wir arbeitslos sind, als der Student, geht auf die Universität und ist ein Kunde, und es kommt das ganze Marktdenken mittlerweile auch ins öffentlich-institutionelle Denken hinein, wo es eigentlich gar nichts zu suchen hat.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit Eberhard Straub, er ist Wissenschaftsjournalist, er ist Historiker und hat das Buch geschrieben "Zur Tyrannei der Werte". Das war etwas, was mir auch beim Lesen des Buches aufgefallen ist, Herr Straub, und an dem Punkt sind wir jetzt gerade gelandet, eine Frage, die ich mir gestellt habe, dieser Angriff auf die universelle Bedeutung der Werte, den sie ja führen mit diesem Buch, den sie auch führen wollen: Ist das letzten Endes auch eine Form der Kapitalismuskritik?

Straub: Das gehört natürlich auch zur Kapitalismuskritik, denn die Werte sind Marktwerte, und auf dem Markt haben sie ihren Sinn, und allmählich ist ja der Markt gleichsam zum Höchstwert geworden: Auch die Demokratie, auch der Staat, die Institutionen, alle sollen sich darum sorgen, dass der Markt um Gottes Willen mit seinem Eigenleben und seiner Eigendynamik nicht gefährdet und eingegrenzt wird. Und insofern ist es ja nicht verwunderlich, wenn in einer Marktwirtschaft oder eben in einer kapitalistischen Wirtschaft eine Wertphilosophie ersonnen wird. Darüber hat eben schon Karl Marx sich lustig gemacht und gesagt, dem Bürger und dem Bourgeois und den Kapitalisten fällt nichts anderes ein als eine Werteideologie, um eben seine werthaltige Marktwirtschaft irgendwie zu verbrämen und ideologisch aufzurüsten.

Kassel: Interessant ist, dass Freiheit, das haben Sie schon erklärt, Demokratie und vieles andere, was immer gern als Wert gehandelt wird, ja im Grunde genommen keiner ist. Ich habe aber den Eindruck, weil natürlich, wenn man über die Freiheit redet, muss man heutzutage sofort auch über die Sicherheit reden, und man hat so das Gefühl, das eine schließt das andere inzwischen aus, … Sicherheit ist ein Wert oder nicht? Weil Sie schreiben in Ihrem Buch ja auch: Der Wert der Sicherheit wird inzwischen – wir reden hier natürlich über den Kampf gegen den Terror im Wesentlichen –, der Wert der Sicherheit wird so hoch gehandelt, dass die Freiheit davon bedroht ist, das heißt: Sicherheit ist ein Wert?

Straub: Ja, da kommen ja … und auch zu dem Titel, warum die "Tyrannei der Werte": Wenn ein Höchstwert da ist, also in dem Fall die Sicherheit, dann hat der Höchstwert die Tendenz, alle anderen Werte zu entwerten, abzudrängen oder zu disqualifizieren. Wird die … Sicherheit zum Höchstwert, dann wird der frühere Höchstwert Freiheit zurückgedrängt und zum Sekundärwert oder überhaupt entwertet und beiseite geschoben, und das ist noch eine Gefahr, die unseren ehemals liberalen und bürgerlichen Rechtsstaat angeht. Wenn die Sicherheit so stark wird, das Sicherheitsinteresse, dass die Freiheitsinteressen dahinter zurücktreten müssen, dann gerät auf jeden Fall der Rechtsstaat, den wir seit dem 19. Jahrhundert kennen, in Gefahr, und das ist ja nicht der Sinn unserer Verfassung, dass irgendwann mal im Namen der Sicherheit die Grundrechte außer Kraft gesetzt werden sollen.

Kassel: Das Buch beginnt noch weit vor dem 18. Jahrhundert, es beginnt in der Antike, aber wie wir jetzt auch im Gespräch gehört haben: Es landet dann irgendwo doch sehr stark im Sommer 2010 am Ende. Eberhard Straub ist der Autor des Buches, "Zur Tyrannei der Werte" heißt es, ist erschienen im Verlag Klett-Cotta zum Preis von 17,95 Euro, und Herr Straub, ich danke Ihnen, dass Sie da waren und wünsche Ihnen ein, na, nicht wertefreies, aber doch zumindest sehr freies Leben!

Straub: Ich danke Ihnen!
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