Kurz und kritisch

04.12.2011
Anmerkungen zur Bildungspraxis in Deutschland, moralische Fragen zum Thema Gentechnik und Glanzvolles von dem Essayisten Egon Friedell.
Keiner bleibt zurück – das ist nicht nur eine moralische Forderung, das belegt auch die sehr pragmatische Erkenntnis, dass eine funktionierende Gemeinschaft auf keinen verzichten kann. Insofern steckt in Felix Berths Anmerkungen zur Bildungspraxis in Deutschland eine fundamentale Anklage: Wir lassen verkümmern, was in Zukunft über unseren Wohlstand entscheiden wird – unseren Nachwuchs nämlich. Die folgende Generation. Oder zumindest einen großen Teil davon. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Und das Bildungssystem leistet es sich, diese Kinder in der intellektuellen und emotionalen Isolation verharren zu lassen. Wartet ab, bis die Beschädigungen irreversibel sind, anstatt gerade solche Kinder früh zu fördern, deren Milieu ihre Fähigkeiten nicht erkennt und nicht fördert, sie vielleicht gar unterdrückt. Wenn der demografische Wandel sich erst einmal bemerkbar macht, mahnt der Autor, wenn die Gesellschaft altert und der Nachwuchs knapp wird – dann wird es teuer, das Versäumte nachzuholen. Man könnte dem Autor eine Art von blauäugigem Enthusiasmus vorwerfen, mit dem er mögliche Lösungen ausmalt und begründet, aber vielleicht ist gerade das nötig: Das Problem ist offenkundig – wann endlich packen wir es an?

Die Verschwendung der Kindheit. Wie Deutschland seinen Wohlstand verschleudert.
von Felix Berth
Beltz-Verlag


Der Autor Ludger Honnefelder ist ein Ethiker, ein Philosoph, der auf Grund seiner Arbeiten in eine Ethikkommission des Deutschen Bundestages, "Recht und Ethik in der modernen Medizin", berufen wurde. Nach anfänglicher Skepsis beim Lesen versteht man die Wertschätzung, die Honnefelder diese Berufung eingetragen hat. Er stellt sich den Fragen der Grenzsetzungen für unsere technischen Möglichkeiten, der modernen Medizin, von Genforschung und Gentechnik. Was sich zu Anfang wie Geschwafel ausnimmt, ist tatsächlich eine vorsichtige, aber gründliche Annäherung an die alten Fragen der Ethik und Moral: Wer sind wir, und was dürfen wir tun? Honnefelder erliegt nirgendwo der Versuchung, einfache Antworten zu liefern. Er führt in die Thematik ein und durch sie hindurch, und der Leser merkt, dass er nicht umhin kommt, sich eine eigene Meinung zu bilden. Für die Lektüre dieses Buches braucht man ein gerüttelt Maß an Hintergrundwissen und etliche Wörterbücher. Doch so wie eine Landkarte unverzichtbar ist für jeden, der sich in einer neuen Landschaft zurechtfinden will, sind Bücher wie das von Honnefelder unverzichtbar für alle, die sich in der Politik, im Recht, in der Medizin und in den Naturwissenschaften fragen müssen, ob sie alles tun dürfen, was sie heute können.

Welche Natur sollen wir schützen?
von Ludger Honnefelder
Berlin University Press


Das Abitur schaffte er erst im vierten Anlauf, den Selbstmord leider schon im ersten – in beidem kein Vorbild für die Nachfahren. Doch was er in den 40 Jahren dazwischen schrieb, gehört zum Glanzvollsten deutschsprachiger Essayistik des 20. Jahrhunderts. Leider steht Egon Friedell heute für bildungsbürgerlichen Zierrat, denn seine "Kulturgeschichte der Neuzeit" bleibt häufig ungelesen im Regal stehen. Die darin aufgenommenen historischen Porträts sollte man jedoch hin und wieder hervorziehen, ebenso wie Friedells überzeitliche Zivilisationskritik – allein um der Lust an geistiger Bereicherung willen! Mit dem "Schaltwerk der Gedanken" liegt jetzt eine Sammelausgabe für Friedell-Novizen vor. "Das Buch gehört den wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch keiner von ihnen", spricht der Dichter im Vorwort aus der Vergangenheit. Posthum sei ihm versichert: Seine Leser leben. Sie müssen das Buch nur noch kaufen.

Vom Schaltwerk der Gedanken
von Egon Friedell
Diogenes Verlag
Cover: "Die Verschwendung der Kindheit" von Felix Berth
Cover: "Die Verschwendung der Kindheit" von Felix Berth© Beltz-Verlag
Cover: "Welche Natur sollen wir schützen?" von Ludger Honnefelder
Cover: "Welche Natur sollen wir schützen?" von Ludger Honnefelder© Berlin University Press
Cover: "Vom Schaltwerk der Gedanken" von Egon Friedell
Cover: "Vom Schaltwerk der Gedanken" von Egon Friedell© Diogenes Verlag