Kunstfest Weimar

Rendezvous in der Wanne

Eine junge Frau sitzt in einem kleinen Badezimmer angezogen in der Wanne.
Im Hotelzimmer erwartet den Zuschauer diese junge Frau in der Badewanne. © Kunstfest Weimar/Heinz Holzmann
Von Henry Bernhard · 07.09.2017
Beim Kunstfest Weimar nimmt Regisseur Bernhard Mikeska das Prinzip „Kammer“ wörtlich und treibt die Intimität auf die Spitze. „Camera Obscura: Lenz“ ist ein Theaterstück für einen Schauspieler und einen Zuschauer. Unser Reporter fühlte sich emotional ausgeliefert.
"Geh weiter geradeaus und durch den Marmorbogen. Bis ans Ende."
Die Stimme im Kopfhörer hetzt mich durch die Flure eines Hotels. Links eine weiße Tür. Am Ende der abrupte Stopp vor einem Hotelzimmer.
"Du gehst hinein. Öffne die Tür! Jetzt! Setz’ den Kopfhörer ab!"
Ich stehe in einem fremden Hotelzimmer. Ein zerwühltes Bett, eine offene Flasche, Gläser. Ich habe das Zimmer schon einmal gesehen, vor einer halben Stunde, in einem Video. Ein Mann und eine Frau taten rätselhafte Dinge darin. Dann hat mich die Stimme durch Weimar geleitet, hat mich gelockt und beschimpft.

Eine schöne Frau in der Wanne

In dem Hotelzimmer ist es still. Ohne Kopfhörer gibt es keine Anweisungen mehr. Ein leises Klopfen im Badezimmer lockt mich. Ich öffne zögerlich die Tür. Eine Frau – die Frau aus dem Film, die Stimme aus dem Kopfhörer – sitzt in Hose und Unterhemd in der trockenen Wanne. Schön, androgyn, verstört.
"Was siehst du mich so an?"
"Was siehst du mich so an?", fragt sie mich. Soll ich mitspielen, antworten? "Ich bin doch der Zuschauer.", murmele ich unsicher.
"Es ist doch alles in der besten Ordnung. Alles gut. Ich komme gleich."
Ein Mann steht vor einem Spiegel. Im Spiegelbild sieht man eine Frau.
Mann oder Frau? Vor der Begegnung weiß der Zuschauer nicht, auf wen er trifft.© Kunstfest Weimar/Heinz Holzmann

Wer ist hier Lenz, wer Goethe?

Sie steht auf und erzählt wirr von einem Ball. Ist sie etwa dieser "Lenz"? Der, nach dem das Stück benannt ist? Aber wo ist dann Goethe, wo ist der andere Schauspieler? Oder bin ich Goethe? Oder Lenz? Eine Minute später sind all diese Fragen irrelevant.
"Da bin ich. Lammfromm."
Sie steht mir gegenüber, die leuchtend blauen Augen unablässig auf mich gerichtet.
"Darf ich bitten?"

Ich spüre ihren Atem, so nah ist sie

Sie nimmt meine Hand und hält sie fest. Ich spüre, wenn sie spricht, ihren Atem im Gesicht, kann ihn riechen, so nah ist sie.
"Diese Haut! Wie Marmor. Kühl und glatt. Halt mich fest! Ich habe mein ganzes Leben auf diese Nacht gewartet, und ich wäre doch verrückt, dich jemals wieder loszulassen! Ich beiß mich fest!"
Noch immer hält sie meine Hand. Es ist Theater, es ist Theater, es ist Theater! So rauscht es durch meinen Kopf. Und doch kann ich es nicht ganz glauben. Das kann doch nicht alles gespielt sein!? Ich bin nicht mehr nur der Zuschauer, ich bin Teil der Inszenierung. Auch, wenn ich schweige. Und in diesem Moment der Verzauberung reißt sie ihre Hand weg, lacht meine Naivität aus.
"Spaß!"

Angefüttert mit zarten Worten

Für einen Rückzieher ist es zu spät. Ich bin ihr emotional ausgeliefert. Nun reißt sie mich mit hinab in der Stimmung. Sie füttert mich wieder an mit zarten Worten, redet vom Ball und dass ich für sie hingehen soll. Und dann …
"Was glaubst du denn, du Ratte, wer du bist?
HAU AB!"
Ich bin versucht, wirklich zu gehen. Sie hält mich zurück. Sie nennt mich "Ratte", "Ungeziefer", und bittet mich im nächsten Moment, mich neben sie auf das Bett zu setzen.
"Was ist aus dir geworden? Wolltest du nicht einmal die Welt verändern? Was hast du getan?"
Solche Fragen stellt man kaum seinem besten Freund. Die Nähe, ihr direkter Blick machen mich durchlässig und die Haut buchstäblich dünn.
"Wen hast du berührt? Ganz sacht, tief in der Seele? Wer denkt an Dich?"

Rauswurf nach elf Minuten

In mir suche ich nach Antworten. Nach elf Minuten der Rauswurf.
"Du mußt jetzt raus. Geh jetzt raus!"
Einige Tage später treffe ich sie, die Schauspielerin Sophie Hutter, noch einmal. Erzähle ihr von meiner Verwirrung ob dieser distanzlosen Nähe, der direkten Fragen.
"Ja, ja. Also, da werden Sie ja aus der Reserve gelockt."
"Das ist fies!"
"Ja, total! Also, selbst Leute, die reinkommen, wo ich merke, die haben einen Entschluss gefasst: "Ich geh jetzt da rein! Ich zieh das jetzt durch!" … Und dann aber in dem Moment, wo die Berührung kommt und die Nähe und dieser Flirt, dann geht’s nicht mehr. Das sind einfach Sachen, die lösen sofort was aus, gegen die kann man sich eigentlich kaum wehren. Und das ist natürlich fies, ja. Manchmal ist das dann das Eingangstor zum Menschen sozusagen, oder zur Begegnung."
Jede der 200 Vorstellungen sei völlig anders. Eine Frau habe sich zu ihr in die Wanne gesetzt. Eine andere sagte auf die Frage, "Wer denkt an Dich?": "Niemand."
Mein Fazit: Theater kann einem ganz schön auf den Leib rücken.
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