Kunst und Kult

Die Tate Modern feiert Giacometti

Die Tate Modern in London zeigt eine große Retrospektive des Bildhauers und Malers Alberto Giacometti (1901-1966).
Tate Modern würdigt Giacometti © dpa / Joe Humphrys / Tate Modern
Von Walter Bohnacker · 09.05.2017
Sie sind unverkennbar, einmalig, fast jedem bekannt: die spindeldürren Bronze-Figuren Alberto Giacomettis. Die Tate Modern in London widmet dem Bildhauer eine große Retrospektive mit über 250 Exponaten. Lässt sich in der Materialfülle etwa Neues, Überraschendes an Giacomettis Werk finden?
Giacomettis letztes Gastspiel an der Themse liege zwar schon ein Weilchen zurück, aber das Warten auf seinen großen Auftritt jetzt in London habe sich gelohnt, sagt TATE Modern-Kuratorin Lena Fritsch. Für den "Wow-Faktor" sei jedenfalls gesorgt:
"Das ist die erste große Giacometti-Retrospektive hier in England seit 20 Jahren. Wie Sie schon sagen, es gibt andauernd Giacometti-Ausstellungen, aber wahrscheinlich keine so große, die so viele unterschiedliche Facetten seines Werks beleuchtet. Und es ist eine sehr enge Zusammenarbeit mit der Fondation Giacometti in Paris. Und wir hatten wirklich Zugriff auf unterschiedliches Archivmaterial und auch eine ganz reichhaltige Sammlung. Und wir hoffen, dass wir in dieser Schau, ja, wirklich Giacometti und die unterschiedlichen Materialien zeigen, die unterschiedlichen Phasen, und ein sehr, sehr reiches Bild zeigen können."
Ein "sehr, sehr reiches Bild": dafür sorgt allein schon die Materialfülle der Ausstellung. Immerhin verteilen sich die hier versammelten gut 250 Exponate auf zehn große Galerieräume.
Die Schau ist - in groben Zügen - chronologisch gegliedert. Und: Man bemüht sich hier um "den ganzen Giacometti". Will sagen: Aufgezeigt werden auch die weniger bekannten Seiten seines Oeuvres. Aber: dunkle Stellen in diesem Werk... gibt es die immer noch?
"Ich denke schon. Also ich glaube, dass zum Beispiel die Arbeiten in Gips wirklich nicht so bekannt sind. Er ist normalerweise ein Künstler, den man mit Bronze assoziiert. Er hat aber sehr gerne mit Gips gearbeitet und auch später, als er es sich leisten konnte, Bronzeabgüsse herstellen zu lassen, hat er häufig trotzdem - wie zum Beispiel die Femmes de Venise von 1956, die wir hier zusammen zeigen - auch wirklich Gipsarbeiten als Endresultat ausgestellt. Und das ist uns ganz wichtig. Und auch bemalte Gipsarbeiten. Sie sehen hier die kleine Annette: bemalter Gips. Das ist sicherlich ein Aspekt von Giacomettis Schaffen, der nicht so bekannt ist."

Auf der Suche nach Giacomettis Fingerspuren

Immer wieder lenkt die Ausstellung den Blick aufs Detail. Und der lohnt sich, gerade bei den aus Gips und Ton gefertigten Plastiken. Sie sind die eine große Entdeckung in dieser Schau.
Nirgends kommt man Giacometti so nahe, wie bei der Suche nach seinen Fingerspuren. Man sieht wie der Künstler mit seinem Material ringt und sich - obsessiv und unablässig - um die adäquate Form und den einzig angemessenen Ausdruck bemüht.
Giacomettis Schaffen wird erkennbar als ein unendlicher Prozess, den er - von Selbstzweifeln geplagt - stets als ein permanentes Scheitern empfand. Bekanntlich wertete er keines seiner Werke als wirklich vollendet und gelungen.

Auch Giacomettis "Greatest Hits" fehlen nicht

Eine weitere, fürs breite Publikum interessante Entdeckung sei, so Grenier, zweifellos auch das Kuriositätenkabinett in Raum drei. Präsentiert sind hier hinter Glas Giacomettis Skizzenbücher und Notizhefte, ornamentale Kultgegenstände... und auch dies: ein Zeichenblatt Salvador Dalís.
"Die Zeichnung nimmt Bezug auf ein Projekt der beiden Künstler: ihre Vorarbeiten zu einem sur-realistischen Garten, einem Projekt, das allerdings nie realisiert wurde. Zumindest aber ist dieser kleine Dalí auch ein Beleg für Giacomettis vielseitige Interessen und Kreativität."
Klar, eine Giacometti-Retrospektive ohne die "Greatest Hits" ist undenkbar! Sie dürfen nicht fehlen, in London so wenig wie andernorts.
Und so stehen sie hier auch alle: die berühmten Figurenensembles im typischen "Giacometti-Stil": langbeinige, fadendünne, fragile, fast schattenhafte Kreaturen aus Ton, Gips und Bronze: Der schreitende Mann, Der fallende Mann, Die Frau auf dem Wagen - und wie sie alle heißen.
Diese Inkarnationen der Condition humaine sind Giacomettis Markenzeichen, mit ihnen wurde er zum Bildhauer des Existenzialismus und zum berühmten "Bildhauer von der traurigen Gestalt".
Aber - und darauf zielen die Kuratoren hier ab: Diese Werke können durchaus den Blick verstellen: das genaue Hinsehen auf einen weniger bekannten, aber nicht minder imposanten Künstler.
"Wir wollen hier die Bandbreite seiner Kreativität zumindest andeuten: eine Vielseitigkeit, die oft vom traditionellen, stereotypen Giacometti-Bild überschattet wird. Der Mann hatte mehr Stil und mehr Stile als das, was heute für Unsummen gehandelt und gefälscht wird."
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