Kunst der Verzögerung

Von Lydia Rilling · 17.04.2013
Anders als bei Schubert steht das Klavierschaffen bei Frédéric Chopin (1810-1849) nicht neben großen Symphonien oder Streichquartetten, sondern bildet den Kern seines Œuvres. Das Klavier war zweifellos sein Instrument und zwar nicht nur für den konzertierenden Pianisten, sondern auch für den Komponisten.
Chopin schrieb am Klavier und bedurfte dessen derart zwingend, dass das Notenpapier ohne ein geeignetes Instrument leer bleiben musste. Als er den Winter 1838/39 auf Mallorca verbrachte, ließ er sich von seinem Freund und Förderer Camille Pleyel per Schiff ein Klavier schicken und erwartete dessen Ankunft ungeduldig, denn "meine Manuskripte schlafen unterdessen".

Dass sich Chopin nicht wie manch anderer Komponist zur Not mit seiner musikalischen Imagination begnügen konnte, liegt in seinem Kompositionsprozess begründet. 1839 berichtet der deutsche Verleger Heinrich Albert Probst, Chopin habe die Gewohnheit, seine neuen Stücke zunächst zu spielen und sie erst Jahre später aufzuschreiben. Zwar mag Probst damit etwas übertrieben haben, doch war Chopin durchaus berühmt für seine Improvisationen am Klavier, bei denen, wie sein Freund Julian Fontana schildert, "diese spontane Inspiration wie ein unerschöpflicher Strom kostbarer Materie im Siedezustand war".

Neue Kompositionen entstanden also weniger in Chopins Kopf denn in seinen Fingern. Umso wichtiger war es für ihn, ein gutes Klavier zur Verfügung zu haben, das die musikalischen Gedanken beflügeln konnte.

Auf Mallorca erweckte das eingetroffene Klavier die 24 Préludes op. 28 aus dem Dornröschenschlaf. Zur Hälfte hatte Chopin sie bereits im Gepäck mitgebracht, zur Hälfte schrieb er sie während seines berühmten Aufenthaltes auf der damals noch wilden Insel. Frisch verliebt ließen sich Chopin und die Schriftstellerin George Sand im November 1838 in der Nähe von Palma de Mallorca nieder, und zunächst sah alles nach dem erhofften Arkadien aus.

Doch kurz darauf erlitt Chopin einen Tuberkuloseanfall und wurde aus der Stadt verbannt. Gemeinsam mit Sand und ihren Kindern fand er in dem verlassenen Kartäuserkloster Valldemosa Zuflucht. Den widrigen Lebensbedingungen und seiner schweren Krankheit zum Trotz, war die Zeit dort für Chopin ungemein fruchtbar.

Die Szenerie scheint aus einem Hollywood-Film zu stammen und erfüllt alle Klischees der Romantik – der ausgestoßene Künstler, der in einer Klosterzelle in Ruinen "zwischen Felsen und Meer" Meisterwerke schafft, "bei dieser Poesie, die hier alles atmet, bei dieser Farbe der wundervollsten Orte, die noch nicht von den Augen der Menschen abgenutzt wurde", wie Chopin schreibt. Folgte man der Vorstellung, beim romantischen Künstler seien Biographie und Werk kaum voneinander zu trennen, wäre es allzu verführerisch, ohrenscheinliche Spuren dieser extremen Entstehungsbedingungen in den Préludes zu suchen, und dies sicherlich umso mehr, als die Musik keine programmatischen Titel trägt.

In diesem Zusammenhang entstand auch eine der berühmtesten semantischen Zuschreibungen der Musikgeschichte: George Sand brachte das Prélude Nr. 15 in Des-Dur in Verbindung mit den Regentropfen, die auf das Dach des Klosters fielen, während ihr Lebensgefährte komponierte, und verhalf damit dem Regentropfen-Prélude zu seinem Namen.

Chopin selbst stand solchen programmatischen Zuschreibungen ablehnend gegenüber. Der Titel Prélude, mit dem er die 24 kurzen Stücke versah, evoziert heute vor allem die Tradition der Präludien von Johann Sebastian Bach, der im Wohltemperierten Klavier jeweils ein Präludium und eine Fuge der gleichen Tonart paarte.

Zu Chopins Zeiten war noch eine weitere Praxis lebendig, die inzwischen verloren gegangen ist: Vor einer längeren Komposition improvisierte der Musiker ein Prélude, mit dem er zum einen das Instrument testen, zum anderen die Zuhörer auf das folgende Stück einstimmen konnte. Chopin wird diese Tradition des préluder angesichts seines improvisatorischen Schaffensprozesses besonders entgegengekommen sein, und es ist überliefert, dass er diese Praxis auch in seinen eigenen Konzerten pflegte. Seine auskomponierten Préludes op. 28 zeigen typische Eigenschaften der Gattung, wie Kürze, Monothematik, fragmentierte Syntax und einen improvisatorischen Gestus. Doch genau in dieser Fortführung der Tradition liegt der eigentümliche Charakter der Sammlung.

So stark die Préludes die traditionellen Funktionen zunächst zu erfüllen scheinen, so wenig werden die geweckten Erwartungen anschließend eingelöst – auf die einzelnen Préludes folgt schließlich kein "großes" Werk, sondern "nur" ein weiteres Prélude, das in einigen Fällen (wie Nr. 1, 5, 10, 11 und 14) nach etwa 40 Sekunden schon wieder verklungen ist.

Dieser Effekt des Hinauszögerns wird von Chopin durch ein geschicktes Mittel noch gesteigert. In vielen der Charakterstücke verweigert er dem Hörer ein befriedigendes Ende – mal scheint der Abschluss kaum zu dem vorangegangenen musikalischen Geschehen zu passen, wie in den Préludes in a-Moll (Nr. 2), D-Dur (Nr. 5) oder in fis-Moll (Nr. 8), mal trennt Chopin die abschließende Kadenz durch eine Zäsur ab, wie in den Stücken in e-Moll (Nr. 4) oder in c-Moll (Nr. 20), oder er verunsichert den kadenziellen Schluss auf andere Weise.

Chopin entwickelt damit eine Dramaturgie der Verzögerung, durch die die 24 "Gesten der Eröffnung"(Anselm Gerhard) auch zusammen gehalten werden. Das Prélude in d-Moll (Nr. 24) bildet in diesem Sinne auch den Höhepunkt, nicht jedoch den eigentlichen Abschluss der Sammlung.

Chopin nobilitierte mit diesem Opus das Präludium von einer funktionalen Einleitung zum eigenständigen Konzertstück, ähnlich wie er bereits zuvor die Klavieretüde vom Makel des vermeintlich minderwertigen, kleinen Übungsstück befreit und zur großen Konzertetüde emporgehoben hatte. Sein Œuvre lehrt: Die künstlerische Qualität einer Komposition ist keine Frage ihrer Dauer.
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