Kulturpolitischer Aufbruch in Saudi-Arabien

"Die konservative Ebene schwächelt"

Zwei Frauen und ein Kind laufen durch die City von Jeddah in Saudi-Arabien
Zwei Frauen und ein Kind laufen durch die City von Jeddah in Saudi-Arabien © picture alliance / Mikhail Voskresenskiy/Sputnik/dpa
Najat Abdulhaq im Gespräch mit Eckhard Roelcke · 11.12.2017
In Saudi-Arabien sollen Kinos bald erlaubt werden. Die Bevölkerung sei "durstig" nach Kultur, sagte die Nahost-Wissenschaftlerin Najat Abdulhaq. Und der saudischen Führung sei bewusst, dass sie die Menschen nicht mehr "einsperren" könne. Dennoch werde es vermutlich getrennte Filmvorführungen für Männer und Frauen geben.
Eckhard Roelcke: Seit 1868 haben Schweizer Frauen versucht, das aktive und passive Wahlrecht zu erhalten. Doch 103 Jahre hat es gedauert, bis es so weit war, seit 1971 dürfen alle Schweizerinnen wählen, bei einer Volksabstimmung stimmten damals 66 Prozent dafür – immerhin noch 34 Prozent dagegen. Die Macht der Tradition!
Und damit kommen wir nach Saudi-Arabien. Dort hat selbstverständlich nicht das Volk über das Wahlrecht für Frauen abgestimmt, sondern die Obrigkeit. Seit den Kommunalwahlen im Dezember 1995 dürfen Frauen ihre Stimme abgeben und sie dürfen kandidieren. Und mehr noch: Seit Juli dürfen Mädchen am Sportunterricht staatlicher Schulen teilnehmen. Im September wurde bekannt, dass Frauen im kommenden Jahr auch Auto fahren, den Führerschein machen dürfen. Und nun die Nachricht des Tages: Auch öffentliche Kinos wird es wieder geben in Saudi-Arabien, nachdem sie vor 35 Jahren geschlossen wurden.
Was bedeutet das für die saudische Kulturszene? Das möchte ich nun mit der Nahost-Wissenschaftlerin Najat Abdulhaq besprechen, sie ist zu mir ins Studio gekommen. Einen schönen guten Abend!
Najat Abdulhaq: Einen schönen guten Abend!
Roelcke: Es gab Kinos in Saudi-Arabien bis, glaube ich, Anfang der 80er-Jahre. Dann wurden sie geschlossen. Mit welcher Begründung damals?
Abdulhaq: Saudi-Arabien hat eine starke religiöse Wendung nach den Ereignissen in Mekka 1979 erfahren. Und mit diesen eigentlich politisch-religiösen Ereignissen hat der konservative Flügel im Königreich die Oberhand gewonnen und somit alles, was mit Musik, mit Kino, mit Theater, Schauspielerei …, verbannt, und dazu kam noch die sehr strenge Kleidung der Frauen und Trennung von Frauen und Männern im öffentlichen Raum. Und der offizielle Grund ist, dass es gegen die Religion ist.

"Die saudische Gesellschaft ist eine eher konservative Gesellschaft"

Roelcke: Und die saudische Bevölkerung hat das akzeptieren müssen? Oder gab es da damals ein Grollen, ein Murren, irgendwie eine Art von Widerstand?
Abdulhaq: Wir müssen uns auch vorstellen, dass die saudische Gesellschaft eine eher konservative Gesellschaft ist, und auch 1982 war es keine urbane Gesellschaft. Jeddah, die Stadt im Westen von Saudi-Arabien, am Roten Meer, ist eine historische Hafenstadt, die immer offen war und bis heute auch sehr offen ist im Vergleich zu Riad oder Dammam oder anderen kleineren Städten. Also das Land ist im Vergleich zu anderen arabischen Ländern auch konservativ von der Gesellschaft her oder konservativer als andere. Und deswegen gab es damals keinen großen Aufstand sozusagen, weil auch die Zahl der Kinos gering war.
Roelcke: Wenn jetzt – ab März, glaube ich, wird das sein – die Kinos wieder geöffnet sind in Saudi-Arabien, welche Hoffnungen verbinden die Saudis damit, die Bevölkerung, die Menschen?
Abdulhaq: Die Bevölkerung von Saudi-Arabien ist circa 32 Millionen. Wir müssen uns vorstellen, dass 70 Prozent von denen Menschen sind, die unter 35 sind. Wenn man in dem Land ist, es gibt so viele junge Menschen auf den Straßen, die ich auch nirgendwo so gesehen habe. Und die Jugend hat unheimlich viele Hoffnungen in die sogenannte neue, jüngere Führung. Wir müssen das im größeren Kontext betrachten. Mohammed bin Salman, der Vizekönig, hat einen Plan bis 2030 gestartet vor anderthalb Jahren, in dem er das Land modernisieren möchte. Und in diesem Rahmen sehen wir, dass Frauen arbeiten werden beziehungsweise mehr als vorher, wieder auf den Arbeitsmarkt oder überhaupt auf den Arbeitsmarkt dürfen, dass Frauen Auto fahren, wie Sie erwähnt haben, Frauen dürfen auch seit ein paar Wochen in die Stadien – aber in Extraabteilungen, vorher war es für sie verboten –, …
Roelcke: Also an Sportveranstaltungen dürfen sie teilnehmen.
Abdulhaq: Genau, Fußball und Ähnliches, ja. Es gibt Musikkonzerte, zum Beispiel am nächsten Donnerstag, am 14. Dezember, wird Cheb Khaled, der berühmte algerische Raï-Sänger, wird in Jeddah eine Performance haben. Und diese Öffnung der Kinos oder Gründung der Kinos – denn es gibt ja keine Kinos – muss man in diesem Rahmen betrachten. Und ich glaube, besonders die Jugend, was ich noch auf Twitter so sehen konnte, ist sehr glücklich darüber. Es gibt ganz lustige Tweets, ganz fröhliche Tweets. Ja, und sie erwarten, dass sie wirklich mal normal, wie alle Jugendlichen auf der Welt, auch mal ins Kino gehen können.
Roelcke: Jetzt kann man natürlich sagen, Frau Abdulhaq, dass das eine ganz pragmatische Entscheidung ist: Die jungen Leute können heutzutage mit ihrem Internet, mit ihrem Smartphone natürlich Filme problemlos streamen, also ist das eigentlich unter Umständen ja nur ein kleiner Schritt auch, die Kinos wieder zu öffnen?

"Die Menschen sind durstig nach Ausgehen, Kino, Theater und Musik"

Abdulhaq: Ich würde sagen: Jein. Einerseits ist der saudischen Führung bewusst, dass die Jugend eigentlich durch die Smartphones schon außerhalb Saudi-Arabiens lebt. Die Zahl der Saudis, die an normalen oder längeren Wochenenden oder Feiertagen das Land verlassen, nach Dubai, Abu Dhabi, Doha, Bahrein, Istanbul, Kairo, Beirut, Amman, ist so hoch, weil die Menschen durstig nach eben Ausgehen, Kino, Theater und Musik sind. Und daher wissen sie, dass sie die Leute nicht mehr so konservativ einsperren können.
Das andere ist: Es ist ein wirtschaftlicher Faktor. Ich meine, wenn wirklich 300 Kinos für circa 200.000 Zuschauer eröffnet werden, ist es auch eine Einkommensfrage. Und die saudische Gesellschaft beziehungsweise auch die saudische Wirtschaft muss sich umstellen, das ist ihnen auch bewusst. Und es wurde sogar eine Unterhaltungsautorität, also Entertainment Authority gegründet, …
Roelcke: Eine Behörde.
Abdulhaq: … eine Behörde sozusagen, genau, um das alles zu planen. Es soll auch in der Nähe von Riad so eine große, wie sage ich …, so wie ein Hyde Park gebaut werden, mit Kinos und Ähnlichem, um auch die Leute sozusagen auf das neuste Unterhaltungsniveau zu bringen.
Roelcke: Das bedeutet, so wie Sie es beschreiben, Frau Abdulhaq, dass die konservative Geistlichkeit an Einfluss verliert?
Abdulhaq: Das auf jeden Fall. Also das Erste ist, dass diese sogenannte Sittenpolizei abgeschafft wurde. Mein letzter Besuch in Riad, im Mai, da gab es die nicht, im Oktober davor waren sie noch vorhanden. Dazu kommt noch, dass die Mitarbeiter dieser Autorität jetzt irgendwie Büroarbeit machen werden, und somit werden die peu à peu entmachtet. Im letzten Interview von Prinz Mohammed bin Salman hat er auch gesagt: Wir möchten einen moderaten Islam, wie Saudi-Arabien eigentlich war, wiederherbringen. Ich denke schon, dass die konservative Ebene schwächelt. Aber wir sollen auch nicht denken, dass es sehr schnell geht, es wird viel Zeit brauchen.
Roelcke: Noch mal zurück zu den Kinos! Gab es denn in der Zwischenzeit, in diesen 35 Jahren ohne Kinos, eine Filmszene? Wurden da auch Filme richtig produziert, saudische Filme? Oder gab es da westliche Filme, die auch irgendwie ins Land geströmt sind und privat angeschaut wurden?

"Aber wir sollen auch nicht denken, dass es sehr schnell geht, es wird viel Zeit brauchen"

Abdulhaq: Ich denke, privat geht in Saudi-Arabien alles. Es gibt Riesenprivatpartys, es gibt bestimmt auch Privatkinos. Aber was die Filmszene betrifft, gibt es so kleine Anfänge. Haifaa Al-Mansour hat 2013 den Film "Wadjda" über das Mädchen, das sich ein Fahrrad wünscht, produziert. Und Mahmoud Sabbagh hat "Barakah meets Baraka", "Barakah trifft Baraka" produziert, der 2016 auf der Berlinale in Berlin gezeigt wurde und da seinen allerersten internationalen Start hatte. Allerdings wurde "Barakah meets Baraka" bis jetzt – und "Wadjda" auch – nicht in Saudi-Arabien gezeigt.
Auf der anderen Ebene gibt es in Jeddah eine Frauenuniversität – was sehr typisch für Saudi-Arabien ist, dass es Frauenuniversitäten gibt – und das ist die einzige Universität, die den Studiengang Film – Film und Filmregie und Filmproduktion – anbietet. Und ich finde es weiterhin noch interessant, dass im Osten von Saudi-Arabien, und zwar in Dammam, es seit vier, fünf Jahren ein saudisches Filmfestival gibt, das jedes Jahr im April stattfindet. Und der Mann, der das ins Leben gerufen hat, ist Sultan al-Basi, Leiter der Kommission für Kultur und Kunst in Saudi-Arabien. Und das ist ein wirklich sehr liberaler Mann, dem Kunst und Kultur sehr naheliegen, und er gehört gleichzeitig zu den großen Familien im Land, und der das peu à peu, ganz langsam, ganz still, so in Kinderschritten gegründet hat.
Roelcke: Ich finde es ganz erstaunlich, was Sie uns hier erzählen, Frau Abdulhaq, das ist eigentlich in Deutschland oder im Westen gar nicht so bekannt, so diese Vielfalt, auch die Vielfalt der kulturellen Aktivitäten, so wie Sie sie beschreiben. Haben wir da einfach die Augen verschlossen, waren wir da irgendwie zu eng, dass wir das nicht wahrgenommen haben? Oder gab es einfach solche Beobachter nicht wie Sie, die dann auch in die Öffentlichkeit gegangen sind und das einfach mal erklärt haben?
Abdulhaq: Ich denke, es ist eine Mischung von allem. Das Erste ist, dass diese Aktivitäten intern bekannt sind. Und das Land wollte sich auch nicht aus dieser Sicht zeigen. Und die sind auch nicht so stark, die bewegen sich am Rande, auch die Kunstszene in Jeddah.
Roelcke: Nach wie vor.

"Es ist definitiv eine Aufbruchsstimmung"

Abdulhaq: Genau. Aber sie rücken mehr und mehr in den Mittelpunkt. Das Weitere ist, dass natürlich Saudi-Arabien sehr stark mit der Ölindustrie, überhaupt mit der ganzen Ölfrage für uns oder überhaupt für Westler bekannt war. Und ehrlich gesagt, das Land ist auch so wie eine schwarze Box irgendwie: Wenn man keinen Zugang hat, kann man das auch alles nicht wissen. Man muss wirklich vor Ort sein, um das zu sehen. Ich selber war erstaunt bei meinem Besuch in Saudi-Arabien, bei meinem langen Aufenthalt zum Dreh, wie dann peu à peu sich viele Dinge öffnen, die man vorher sich gar nicht vorgestellt hat.
Roelcke: Sie haben dort gedreht?
Abdulhaq: Ich war Produktionsleiterin für einen Dokumentarfilm für arte.
Roelcke: Und wenn man jetzt das Gespräch zusammenfasst, Frau Abdulhaq, dann kann man sagen, das, was Sie da gerade erlebt haben oder erleben, in diesen Wochen, in diesen Monaten, das ist eine Aufbruchsstimmung?
Abdulhaq: Auf jeden Fall. Es ist eine Aufbruchsstimmung. Wir müssen jetzt über die anderen politischen Ereignisse in Saudi-Arabien nicht sprechen, das sprengt das Thema, aber das gehört alles zusammen.
Roelcke: Und den Zeitrahmen …
Abdulhaq: Ja. Definitiv ist es eine Aufbruchsstimmung, aber ich würde trotzdem sagen: Mit Vorsicht genießen! Die Veränderungen werden dauern. Ich glaube nicht, dass wir in Saudi-Arabien innerhalb von einem Jahr Frauen und Männer im gleichen Kinosaal finden werden. Denn höchstwahrscheinlich – das ist noch unklar – werden die Kinosäle getrennt sein. Es wird zum Beispiel um 20 Uhr der Film für Männer sein und um 22 Uhr für Frauen, oder andersherum.
Roelcke: Kinos künftig erlaubt – der kulturpolitische Wandel in Saudi-Arabien, eingeordnet von der Nahostwissenschaftlerin Najat Abdulhaq. Vielen Dank!
Abdulhaq: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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