Kulturkampf in Ungarn

Studenten wagen Aufstand gegen Orbán

23:18 Minuten
Demonstrantin in Budapest wickelt sich rot-weißes Flatterband um den Kopf.
Ein Symbol hat die neue Protestbewegung in Ungarn bereits: rot-weißes Flatterband. © imago images / Estost / Martin Fejer
Von Stephan Ozsváth · 09.11.2020
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Seit Monaten besetzen Studenten die Universität für Theater und Filmkunst in Budapest. Ihr Protest richtet sich gegen den wachsenden Einfluss der Regierung. Ministerpräsident Viktor Orbán will mehr Kontrolle über die liberale Kulturszene.
Budapest, Innenstadt: Gábor Szarka bahnt sich seinen Weg durch einen Journalistentross, Kameras klicken. Vor einer Reihe Studenten muss der neue Kanzler der Theater- und Filmhochschule (SZFE) stoppen. Der Eingang zum Gebäude ist mit rot-weißem Flatterband versperrt.
"Ich würde gerne mit jemand reden, bitte nennen Sie jemand in der Gruppe, der mit seinem Namen dafür einsteht, dass ich jetzt nicht ins Gebäude kann."

Im Podcast der Weltzeit spricht András Pap über Ungarns "illiberale Demokratie", wie Ministerpräsident Viktor Orbán sie genannt hat. Nach Verfassungsänderungen und Korruption stehe dessen dritte Amtszeit seit 2010 nun im Zeichen des Kulturkampfes gegen verbliebene liberale Stimmen im Land, so der Verfassungsrechtler von der Eötvös University in Budapest.

© Privat
Auf seinem Schreibtisch lägen eine Reihe von wichtigen Dokumenten und Verträgen, die könne er nicht unterschreiben, wenn er nicht ins Gebäude gelange, sagt der neue Uni-Kanzler Gábor Szarka und droht. "Die, die Sie hergeschickt haben, sind verantwortlich für die Konsequenzen."
Diese Szene – festgehalten auf einem Video der unabhängigen Wochenzeitung HVG – spielt sich Anfang Oktober ab. Zu dieser Zeit ist die Hochschule schon gut einen Monat besetzt. Dozenten haben gekündigt – darunter preisgekrönte Prominenz aus Film und Theater wie die Regisseurin Ildiko Enyedi, die 2017 den Goldenen Bären der Berlinale gewann. Am Streik beteiligen sich aber auch Hausmeister und Technikpersonal.
Der neue Kanzler der Uni hatte bisher in seinem Leben nur als Kinderdarsteller mit Film oder Theater zu tun. Er ist ein ehemaliger Militär und Abgesandter der Regierung von Ministerpräsident Orbán. Als eine der ersten Amtshandlungen drehte Gábor Szarka den Studenten das Internet ab, um den Streik zu beenden. Seine Begründungen: Seuchengefahr, die Brandschutzauflagen, es drohe ein verlorenes Semester.
Der Kanzler verliest eine vorbereitete Erklärung, dass weder die Besetzer, noch das Streikkomitee der Angestellten das Angebot zum Dialog angenommen hätten. Er habe sein Büro nicht betreten können, um seine Aufgaben wahrzunehmen. Das Gebäude in der Vas-Straße bleibt dem Technokraten verschlossen. Punktsieg für die Besetzer.

Regierung beschneidet Autonomie der Uni

Aber worum geht es den Studenten und Professoren in Budapest? László Bagossy ist preisgekrönter Theaterregisseur. Seinen Job als Leiter der Theaterabteilung der Hochschule hat er gekündigt und demonstriert seitdem – Seite an Seite mit seinen Studenten. Warum? "Unsere Ziele sind klar: Wir wollen unsere Autonomie wiederhaben."
Die sei schon kurz nach dem Machtantritt der Regierung Orbán vor zehn Jahren angegriffen worden, erklärt Bagossy im Telefongespräch. Per Gesetz wurden die Universitäten entmachtet – und der zuständige Minister gestärkt.
"Früher wählte der Uni-Senat den Rektor. Jetzt kann er nur noch Empfehlungen aussprechen. Der Minister der Regierung setzt jetzt den Rektor ein, der die Uni inhaltlich leitet. Dazu haben sie später noch den Kanzler eingeführt. Eine Art Verwaltungschef, ebenfalls ein Abgesandter des Ministers, der die Finanzangelegenheiten überwacht und so starken Einfluss auf die Universität ausübt. Und das war wohl noch nicht genug. Dann begann man, die Universitäten zu privatisieren oder sie in Stiftungen umzuwandeln. Damit konnte man noch mehr in die Universitäten hineinregieren. Auch das Kuratorium wurde vom Ministerium bestimmt. Und so kamen Orbáns Leute an die Spitze des Kuratoriums."
Namentlich Attila Vidnyánszky, Orbáns Kulturstatthalter. Er ist nicht nur Intendant des Nationaltheaters, sondern auch ein mächtiger Strippenzieher: ein ungarischer Mephisto, der im Namen der Freiheit Unfreiheit will?
"Es gibt Theater, aus denen keine andere Klangfarbe zu hören ist, eine andere Art zu denken. Denn dort denkt jeder das Gleiche. Ich habe den Eindruck: Dort darf man nicht anders denken. Im Nationaltheater darf man frei denken. Wir müssen uns rein am Fachlichen orientieren. Wir wollen positive Veränderungen. Die Gegenseite – auch die Studenten – sollte uns die Gelegenheit geben, zuhören. Dazu muss man sich zusammensetzen und reden."

Student beklagt Vorgaben von Orbáns Kulturmogul

Jakáb Ladányi sitzt auf einem Sofa vor seinem PC, in der besetzten Theater- und Film-Universität und kommuniziert per Videotelefonie. Jakáb möchte Regisseur werden. Seine Lehrer gehören zur Elite der ungarischen Kulturszene, Regisseure wie Pálffy oder Hajdú. Eigentlich hätte er bei Ildikó Enyedi eine Meisterklasse besucht. Aber jetzt ist alles anders. Und das hat auch mit Orbáns Kulturmogul Vidnyánszky zu tun. Den Studenten stören dessen Denkvorgaben.
"Man hörte mehrfach, dass es hier eine ideologisierte Ausbildung gebe, einen ‚liberalen Sumpf‘, der ausgetrocknet werden müsse. Es müssten mehr Werke zu den ‚Wundern von 1956‘, der ‚Heiligkeit der ungarischen Familie‘ und Ilona Zrinyi entstehen."
Zrinyi gilt als Heldengestalt des Kuruzenaufstandes gegen die Habsburger im Königreich Ungarn ab 1671. Das klingt nach einem national-romantischem Kulturverständnis. Nach der Linie von Ministerpräsident Orbán. Aber nur als Statthalter könne man Vidnyánszky nicht sehen, meint die Schriftstellerin Noémi Kiss. Sie beurteilt ihn nach seiner künstlerischen Arbeit am Nationaltheater.
"Es gibt gutes Theater in Ungarn, und Attila Vidnyánszky macht auch hervorragendes Theater. Er kommt aus der Ukraine und macht sehr gutes russisches Theater in Budapest. Ich würde ihn jetzt nicht bezeichnen als jemand, der patriotische und schlechte Kunst macht."
Nur: Der frühere Intendant eines Provinztheaters hat mittlerweile viel Macht, er sitzt in Entscheidungsgremien, die Gelder verteilen. Attila Vidnyánszkys Kulturverständnis deckt sich dabei mit dem des Regierungschefs. Viktor Orbán möchte seinen "illiberalen" Staat kulturell legitimieren. Er sagt:
"Eine Epoche ist mehr als ein politisches System. Es ist eine Art geistige Ordnung, eine Art gemeinsamer Stimmung, vielleicht auch Geschmackswelt, eine bestimmte Art, sich zu verhalten. Ein politisches System bringt Regeln und politische Entscheidungen, eine Epoche ist mehr. Das sind kulturelle Strömungen, kollektive Überzeugungen und Sitten. Jetzt stehen wir vor dieser Aufgabe, das politische System in eine kulturelle Epoche zu betten."

Konflikt zwischen national-konservativ und progressiv-liberal

Dabei wird nicht friedlich debattiert, dabei rollen Köpfe – ein Kulturkampf spaltet die Kulturszene in Ungarn. Linientreue ist gefragt. Dafür werden nicht nur Theaterdirektoren ausgetauscht. Orbáns früherer Diplomat Gergely Pröhle musste den Direktorensessel im Budapester Petöfi-Literaturmuseum einem jungen Literaten aus Siebenbürgen überlassen.
"Die Anfeindungen fingen damit an, dass es hieß, ich ließe ‚liberalen‘ Autoren zu viel Raum im Petöfi-Literatur-Museum, auch dass ich den Geburtstag von György Konrád gefeiert hätte, sei bezeichnend. Und dann noch diese zeitgenössische Ausstellung über die Räterepublik, die ja überhaupt keine Lobeshymne dieser Zeit war. Aber wenn man ein Haar in der Suppe sucht, findet man es."
Der politische Konflikt zwischen national-konservativ und progressiv-liberal verlängert sich in die Kulturszene. Die Wurzeln reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Seit damals ringen zwei kulturelle Strömungen miteinander: "volkstümliche" und "urbane". Die Gunst der Oberen entscheidet, wer den Silberling aus der Staatsschatulle bekommt. Das stört Schriftstellerin Noémi Kiss.
"Wenn wir über Kunstszene und institutionelle Kunst sprechen, dann ist es natürlich schon sehr von ‚oben‘ bedingt: Wer bekommt Unterstützung? Für viele unabhängige Theatermacher ist es unmöglich, diese Unterstützungen zu bekommen. Genauso wie in der Literatur. Und dieser Kulturkampf ist bedingt eigentlich, dass man die ganze Kunstszene ständig polarisiert. Die Leute, die unabhängiger sind, nicht mitmachen, die sind auf die Seite gestellt, für die ist es schwierig, das existenziell zu überleben. Nicht nach künstlerischer Begabung oder Arbeit sind sie belohnt, sondern aufgrund ihrer politischen Haltung. Und das finde ich sehr schlecht, wenn man das so macht in der Kunst. Das ist überhaupt nicht europäisch."

Menschenkette von der Hochschule bis zum Parlament

Janka Vesszelovszky stellt sich in einem Video vor: Sie studiert Schauspiel an der Budapester Theater- und Filmuniversität, und zeigt, wie sie aus einem Flatterband eine Kokarde macht.
Den Jahrestag des Ungarn-Aufstandes 1956 begehen die Ungarn traditionell mit einer rot-weiß-grünen Kokarde, also einem Abzeichen in Fächerform mit Schleifen am Revers. Diesmal waren es die Film- und Theater-Studenten, die zu Tausenden durch die Stadt zogen, mit weiß-roter Kokarde. Die Farben durch Belarus berühmt als Symbol des Widerstandes.
Seit Wochen organisieren die Studenten Foren und Aktionen. Staffelläufer haben den Ruf nach Hochschul-Autonomie durch ganz Ungarn getragen, eine Menschenkette von der Hochschule bis zum Parlament. Sie haben eine Lehr-Republik ausgerufen. Für die Studentin eine Lehrstunde in Demokratie, wie sie beiläufig erklärt. Allein das Wort "Republik ist für die "illiberale" Regierung von Orbán eine Provokation.
Die Zsolt Bayer-Show im regierungsnahen Hír TV: Geladener Gast ist Uni-Kuratoriumschef Vidnyánszky. Der Theatermann kennt das Machiavelli-Repertoire. Die Besetzung sei der Wahlkampfauftakt der linken Opposition, meint er.
Teile und Herrsche kann er, diffamieren, ein Schuss Antisemitismus, ein Schuss Anti-Kommunismus. Manche Studenten bringt er mit Tibor Szamuely in Verbindung, dem jüdischen Politkommissar, der 1919 für den "Roten Terror" in der ungarischen Räterepublik verantwortlich war.
"Es gibt einige Dutzend ‚Kämpfer‘ dort: ‚Lenin-Jungs‘ oder ‚Szamuely-Soldaten‘. Es ist schwer, denen Nein zu sagen. Studenten haben erzählt, dass es eine Abstimmung über die Besetzung gab. Aber in der Euphorie liefen sie auf die Bühne: Besetzen wir die Hochschule. Und keiner kann etwas dagegen sagen: Genau daran müssen wir arbeiten, die Wirbelsäule stärken. Der ganze Berufsstand müsste sich schämen: Die jungen Leute kommen zum Studieren, und das bekommen sie."

Hollywood-Stars wie Cate Blanchett protestieren mit

Kreativität sticht Verleumdungen. Vor dem zuständigen Ministerium für Technologie und Innovation in Budapest persiflieren die Studierenden der Theater- und Filmhochschule die Schmähungen: Kalkweiß sind die Gesichter geschminkt und sie verwandeln die Schmähungen in Kunst: Japanisches Kabuki-Theater mitten in Budapest.
Die Regierung will die Hochschule mit viel Geld reformieren. Dagegen haben weder Studenten noch Dozenten etwas, sagen sie. Aber sie wollen eine Reform von innen, nicht nach Gutsherren-Art. Drehbuchautor Gábor Németh hat Vidnyánszky mit einem Cowboy verglichen, der dem toten Indianer sagt: Lass uns das Kriegsbeil begraben. Schriftstellerin Noémi Kiss will eine politikfreie Zone.
"Das ist immer das Problem, dass Kunst von Politik beeinflusst wird, das hat auch die linksliberale Regierung versucht, und die neue Regierung macht das auch. Das ist sehr schlimm für Künstler."
In Budapest verlesen die Protestierer Solidaritätsbriefe von anderen Universitäten. Überall auf der Welt – nicht nur in Ungarn – haben sich Kultur-Institutionen hinter die Besetzer gestellt. Hollywood-Schauspieler wie Cate Blanchett, Schriftsteller. Es hat eine Anhörung vor dem Kulturausschuss des EU-Parlaments gegeben.
Orbáns Uni-Kanzler hat den Besetzern ein Ultimatum gestellt – das Gebäude zu räumen und den Lehrbetrieb einzustellen. Sie bleiben, sagt Student Jakáb Ladányi. Die alte Uni-Führung soll zurückkommen, fordern die Besetzer, Orbáns Leute sollen abziehen. Was wird? Keiner weiß es. Aber bleiben wird die Erinnerung an einen kleinen Freiheitskampf in Budapest. Dafür sorgt schon die Dokumentarfilm-Abteilung der Hochschule für Theater und Filmkunst, die den Protest festhält.
Bleiben wird auch eine Melodie, als Symbol des Widerstandes. Ein umgedichtetes Volkslied, es heißt "Titkos Egyetem", "heimliche" oder "geheime Universität". Gepfiffen wurde es zum Markenzeichen. Theaterregisseur László Bagossy meint:
"Ich glaube, der Plan war, dass Orbán die Hochschule seinen Leuten als Beute hinwerfen wollte. Der Bissen ist ihnen im Hals steckengeblieben. Sie haben nicht mit diesem Widerstand gerechnet. Sie haben nicht mit dem großen Talent unserer Studenten gerechnet. Noch dazu haben die auch Courage, Stolz und eine Sehnsucht nach Freiheit. Sie haben auch nicht damit gerechnet, dass die Uni-Gemeinschaft sehr zusammenhält. Wir sind eine starke Familie."
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