Kulturgeschichte

Selbsterkenntnis im Hamsterrad

Ein Feldhamster sitzt in Heidelberg (Baden-Württemberg) im Zoo in der Feldhamster-Zuchtstation in einem Käfig.
Wenn in Arbeit ertrinken, denken wir an den Hamster im Rad. Aber warum? © picture alliance / dpa / Uwe Anspach
Von Frank Kaspar · 04.11.2014
Was liest ein Stimmtherapeut aus Spuren im Sand? Warum fühlen sich viele Menschen wie im Hamsterrad? Benjamin Bühler und Stefan Rieger haben eine originelle Kulturgeschichte der Dinge und Maschinen geschrieben, die mit zwei Bänden zum Abschluss kommt.
Ein "Lapidarium" ist eigentlich eine Sammlung kunstvoll behauener Steine: Skulpturen, Grabmäler, Zeugnisse der Erinnerungskultur. Früher leisteten sich Liebhaber archäologischer Ausgrabungen solche Steinsammlungen. Bis heute kann man sie in den Bauhütten alter Kirchen betrachten. Die Mineralien, chemischen Elemente und Naturphänomene, die Benjamin Bühler und Stefan Rieger in ihrem Buch "Bunte Steine. Ein Lapidarium des Wissens" versammeln, zeugen ebenfalls von menschlicher Kultur. Es sind Dinge, an denen Geschichte greifbar wird.
Der Germanist und Kulturwissenschaftler Bühler und der Medienwissenschaftler Rieger widmen den einzelnen Objekten kurze Abschnitte wie in einem Lexikon. Zum Stichwort "Kohle" skizzieren sie die Arbeitskämpfe und Energiekrisen der Industriegesellschaft und die Utopien ihrer Aussteiger. Der "Grenzstein" gibt ihnen den Anstoß zu einem Grundkurs in Geopolitik. Von "Flüssigkristallen", die wir heute in Bildschirmen und Displays verwenden, berichten sie, dass deren Entdeckung um 1900 zu einem heftigen akademischen Streit über die Grenzen von belebter und unbelebter Natur führte.
Die Grenzen der Ordnungssysteme interessieren die Autoren ganz besonders. In ihrem "Lapidarium" überschreiten sie selbst das Reich der Steine in Richtung Biologie und Technik: Der "Ohrstein" dient dem menschlichen Gleichgewichtssinn und funktioniert dabei ähnlich wie die Lage- und Bewegungs-Sensoren in Smartphones und Tablet-Computern. Im "Sand" machte Ernst Florens Chladni, ein Physiker der Romantik, Klänge sichtbar, indem er fein bestreute Glasscheiben mit einer Violinsaite in Schwingungen versetzte. Eine Weiterentwicklung seiner "Klangfiguren" wurde noch Anfang des 20. Jahrhunderts von einem amerikanischen Stimmtherapeuten eingesetzt, um die akustischen Charakteristika prominenter Sänger wie Enrico Caruso zu dokumentieren.
Der Weg vom Apparat zur Metapher
Bühler und Rieger nennen ihre Gegenstände "Wissens-Figuren". Die Grundidee ihrer Kulturgeschichte ist, dass an den ausgewählten Dingen ein abstraktes Wissen vom Menschen kristallisiert und Gestalt annimmt. Im besten Fall kann der Leser darin seinen historischen Ort erkennen und seine Weise in der Welt zu sein. Das gilt besonders für den gleichzeitig erschienenen Band "Kultur. Ein Machinarium des Wissens", der allerlei Artefakte und Apparate vorstellt. Sehr treffend skizzieren die Autoren darin die Entwicklung des Hamsterrads von einem Spielzeug für Tiere über ein Therapieinstrument für sogenannte "Tobsüchtige" bis zur modernen Metapher der Selbstausbeutung.
Die inspirierende Reihe, in der bereits ein "Bestiarium" und ein "Florilegium des Wissens" erschienen sind, führt kenntnisreich, überraschend und humorvoll zu den Rändern der Wissenschaft vom Menschen. Im Grundton akademisch, in der Sache mit Tiefgang, bieten die Bände keine durchweg leichte Lektüre. Aber man liest sie mit großem Gewinn.

Benjamin Bühler/Stefan Rieger: Bunte Steine. Ein Lapidarium des Wissens und: Kultur. Ein Machinarium des Wissens
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
278 bzw. 294 Seiten, je 18,00 Euro

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