Kultur der Selbstausbeutung

16.11.2010
Weil das "Leistungssubjekt" an die Stelle des "Gehorsamssubjekts" getreten ist, droht der Mensch an der Unendlichkeit seiner Möglichkeiten zu scheitern. Mit seinem Essay "Müdigkeitsgesellschaft" liefert der Philosoph Byung-Chul Han einen spannenden Beitrag zur Kultur der Selbstausbeutung.
Der Philosoph Byung-Chul Han hat einen überaus anregenden und streitbaren Essay über unsere heutige, wie er es nennt, "Müdigkeitsgesellschaft" geschrieben. Die Müdigkeitsgesellschaft, so lautet Hans These, ist gekennzeichnet durch krankmachende Entgrenzung. Der Mensch des 21. Jahrhunderts fürchtet sich nicht mehr vor einem Außen, einer todbringenden Negativität, vor der es sich zu schützen gilt, sondern er kollabiert gewissermaßen an seiner eigenen Potenz.

Neuronale Erkrankungen wie Depression, ADHS und Burn-out sind Han zufolge darauf zurückzuführen, dass wir in unserer globalisierten Leistungsgesellschaft nichts mehr als verboten, fremd oder unterdrückend begreifen, sondern ganz im Gegenteil alles als Herausforderung verstehen. Anstatt sich vor einer wie auch immer gearteten äußeren Macht zu fürchten, kollabiere der Mensch des 21. Jahrhunderts an der Unendlichkeit seiner Möglichkeiten.

Diesen Paradigmenwechsel an unserem heutigen Verhältnis zur Arbeit zu verdeutlichen, ist das Hauptanliegen des Buches. Das positive Modalverb "können" – man denke an Obamas Wahlspruch "Yes, we can" – ist Han zufolge das Kennzeichen der Müdigkeitsgesellschaft, die sich von der "Disziplinargesellschaft" des vergangenen Jahrhunderts maßgeblich unterscheidet. Im 20. Jahrhundert gab es klare Verbote und Regulierungen, die ständig zu Leistung und Gehorsam zwangen.

Heute ist an die Stelle des ehemaligen "Gehorsamssubjekts" das "Leistungssubjekt" getreten, das aus sich heraus produktiv ist. Das Leistungssubjekt, so Han, leidet nicht mehr an der Negativität von Verboten, sondern seine Krankheit resultiert gerade umgekehrt aus einem Übermaß an Positivität: Es kann, bis es nicht mehr können kann. Der depressive Mensch, schreibt der Philosoph, "ist jenes animal laborans, das sich selbst ausbeutet, und zwar freiwillig ohne jede Fremdzwänge".

Doch genau an dieser Stelle wird es problematisch. Was kann es heißen, dass wir uns gänzlich ohne Fremdzwang zugrunde richten? Zu selbstzerstörerischen Produktivitätsmaschinen werden Menschen nicht ohne Druck. Wir leben in einer Gesellschaft stets dräuender Arbeitslosigkeit, und, damit verbunden, unaufhörlich wachsender Leistungsanforderungen, denen wir uns zur Not auch mit Hilfe von Medikamenten anpassen.

Das Verbot und die mit ihm verbundene Negativität sind nach wie vor wirkmächtig – auch und insbesondere im Bereich des Politischen. In Zeiten der Globalisierung, so meint Han zu Beginn seines Buches, werde Fremdes nicht mehr als Gefahr, sondern allenfalls als Belastung wahrgenommen. Wie falsch diese Einschätzung ist und wie sehr sich unsere Gesellschaft offenbar immer noch vor dem Anderen fürchtet, zeigt sich nicht nur an Thilo Sarrazins besorgniserregendem Bucherfolg mit "Deutschland schafft sich ab".

Außerordentlich spannend wird Hans Buch immer dann, wenn er nicht eine Logik gegen die andere ausspielt, sondern danach fragt, in welchem Verhältnis Negativität und Positivität, Zwang und Freiheit zueinanderstehen. Inwiefern ist ein Können immer auch ein Sollen? Die Antwort auf diese Frage würde den Schlüssel für eine neue Kulturtheorie liefern, die sich nicht mehr mit dem Disziplinarsubjekt, sondern mit dem sich selbst ausbeutenden Menschen befasst.

Besprochen von Svenja Flaßpöhler

Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010
68 Seiten, 10,00 Euro
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