Kultbuch neu übersetzt

10.08.2009
In vielen Junkie-Büchern, man denke an die notorischen "Kinder vom Bahnhof Zoo", verbindet sich kaum verhohlener Erfahrungsstolz mit einer gerade deshalb eher unglaubwürdigen Drogenwarngeste. Man kennt die Mischung auch aus zahllosen Rocksongs. Auch "Naked Lunch" wurde mit dem Junkie-Etikett zum Underground-Standardwerk.
Der Reiz des Buchs besteht jedoch weniger im Drogen-Insidertum als in den schräg-surrealen Szenerien, die sich den Jahren der Sucht mit ihren Enthemmungen, Ängsten und Entzugsdelirien verdanken. Autor William S. Burroughs steigert sie mit aller Lust am Makabren und Schockierenden zum globalen Panorama: Eine völlig auf den Hund gekommene Menschheit gibt dem Affen Zucker und frönt "insektenhaften Gelüsten".

"Junk" steht dabei für alles, was besinnungslos begehrt werden kann: Drogen, Liebe, Macht, Sex. Wo Abhängigkeit ist, ist auch Macht, und wo Macht ist, ist auch Kontrolle. So lässt sich der hohe Paranoia-Faktor des Buches gleichsam organisch auf die Drogenerfahrungen zurückführen: grandiose, gelächtervolle Szenen über merkwürdige Überwachungsstaaten wie "Interzone" und die Auftritte von ärztlichen Autoritäten wie Dr. Benway, einem Mediziner der Vorhölle, Spezialist für Verhörtechniken, Gehirnwäsche und Kontroll¬praktiken und skrupelloser Schlächter in burlesk entgleisten Operationsszenen.

Der Roman treibt das Obszöne an die äußerste Grenze: atemlose Beschreibungen von Orgien und Exzessen, die irgendwo zwischen Hieronymus-Bosch-Vision, Karikatur à la Robert Crumb und Special-interest-Porno angesiedelt sind. Der Unterschied zu vielen Unterleibsromanen jüngerer Zeit besteht im surrealen Charakter der Darbietung. Was der Erzähler von "Naked Lunch" notiert, sind keine Erlebnisse, die mit Authentizität punkten wollen, sondern Phantasmen des homosexuellen Extremgenusses. Es gibt da Momente sehr spezieller Komik, aber auch abgeschmackte Zumutungen, etwa die fixe Idee der finalen Stimulation durch Erhängen und Genickbruch.

Burroughs übertrug mit seiner Cut-up-Methode das Collage-Verfahren von der Kunst auf die Literatur und brachte den Zufall als kreativen Faktor ins Spiel. Er zerschnitt seine Texte und setzte sie in "beliebiger" Reihenfolge wieder zusammen. Deshalb kann man den Roman kreuz und quer lesen. Eine durchgehende Handlung gibt es nicht, allenfalls eine gewisse Rahmung durch die Flucht des Junkie-Agenten Lee, die in New York beginnt und über Mexiko nach Tanger und in die "Zone" führt. Ansonsten bekommt man es mit einem Ragout aus rasant gemixten Szenen zu tun, das sich über weite Strecken faszinierend liest.

Als "ursprüngliche Fassung" präsentiert sich diese Ausgabe. Da sprießen bei einem Werk dieses Kalibers hohe Erwartungen, zumal die Entstehungs- und Editionsgeschichte überaus verwickelt ist. Um so mehr stutzt man, wenn die "ursprüngliche Fassung" fast wie die alte daherkommt. Im Nachwort schreiben die Herausgeber, man habe nicht der "akademischen Lauterkeit zuliebe" Textteile streichen wollen, "aus denen in vor längerer Zeit erschienenen wissenschaftlichen Arbeiten zitiert wurde; und kein Leser, der das Buch schon lange kennt, möchte seine Lieblingsstelle einfach gestrichen sehen". Wie bitte? Diese "ursprüngliche Fassung" scheint eher in Richtung Mogelpackung zu tendieren.

Das größte Verdienst der deutschen Fassung ist indessen die sehr gelungene Neuübersetzung von Michael Kellner. Burroughs komplexe Sprache ist eine harte Nuss für Übersetzer, denn mit Genauigkeit allein ist es hier nicht getan. Vielmehr gilt es, eine Sprachmusik nachzukomponieren. In der Neuübersetzung wird vor allem die bizarre, an Céline geschulte Komik von Burroughs endlich angemessen vermittelt.

Besprochen von Wolfgang Schneider

William S. Burroughs: Naked Lunch. Die ursprüngliche Fassung.
Herausgegeben von James Grauerholz und Barry Miles.
Aus dem Englischen von Michael Kellner.
Verlag Nagel & Kimche, München 2009. 378 S., 24,90 Euro