Kritiker der Angepassten

Von Peter B. Schumann · 18.05.2009
Der uruguayische Dichter und Schriftsteller Mario Benedetti ist tot. Er starb im Alter von 88 Jahren in Uruguays Hauptstadt Montevideo. Benedetti gilt als einer der populärsten Schriftsteller Lateinamerikas und schrieb mehr als 80 Werke. Sein Roman "Die Gnadenfrist" wurde in 19 Sprachen übersetzt. Berühmt wurde er durch Lyrik.
Mario Benedetti war ein Meister der kurzen Form. Mit zahlreichen "Chroniken" über kulturelle und politische Ereignisse hat er sich zu Wort gemeldet und hat vor allem mit Gedichten seine zahllosen Leser entzückt. "Das kleine Uruguay taugt einfach nicht für große Formen", hat er dazu einmal gesagt. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, Romane zu schreiben und auch damit zu einem der populärsten Autoren der spanischsprachigen Literatur zu werden. Dazu machten ihn erstaunlich viele junge Leser.

"Es ist für mich sehr anregend, dass diese Last mit dem Publikum zu zwei Dritteln aus Jugendlichen besteht. Es freut einen Achtzigjährigen ungemein, dass er noch in der Lage ist, mit 18-Jährigen zu kommunizieren. Es kommt mir wie ein Wunder vor. Manche glauben, dass dieser Erfolg an der Klarheit meiner Sprache liegt. Kann sein, denn ich war immer besessen davon, mich klar auszudrücken, von Anfang an."

Berühmt geworden ist der 1920 auf dem Land Geborene in den 50er und 60er Jahren durch poetische Momentaufnahmen wie seine Montevideanos. Damit mischte er sich in das saturierte Leben der Bewohner von Montevideo und überhaupt der Uruguayer ein, die damals bereits mit 45 Jahren in Rente gehen konnten. Mit diesen Büro-Gedichten von 1956 entlarvte er eine Welt des Konformismus und der Resignation, in der - wie er schrieb - "die Hoffnung in einem Fingerhut Platz fand" und "das Leben verrinnt, einfach vertröpfelt wie ranziges Öl".

"Damals erfüllte mich die bürokratische Lebensart, die in Uruguay herrschte, mit großer Sorge. Ich habe halb im Ernst, halb im Scherz gesagt, dass Uruguay das einzige Büro auf der Welt sei, das die Dimension der Republik erreichte. Und ich habe wirklich viele ganz sensible, intelligente, kreative Leute getroffen, die sich in graue, mediokre Erscheinungen verwandelten und ihren Antrieb verloren, sobald sie sich mit der Bürokratie einließen. Diese Lebensart war so ansteckend, dass sie nicht vor der öffentlichen Verwaltung Halt machte und sich sogar auf die Privatbanken und die großen Unternehmen erstreckte."

Das war sein zentrales Thema: die Gesellschaft der täglich Scheiternden, der Angepassten und das System der Entfremdung, das diese einstige "Schweiz Lateinamerikas", diese mustergültige Demokratie, zu einer Bürokratie verkommen ließ. "Die Gnadenfrist" hieß 1960 der herausragende Roman dieser frühen Jahre, der mit inzwischen 125 Auflagen sein erfolgreichster wurde. Später - unter dem Eindruck der kubanischen Revolution und der politischen Entwicklung auf dem Subkontinent - beschränkte er sich nicht mehr darauf, den Krisenzustand der Montevideaner zu diagnostizieren, sondern gab seinem Werk eine allgemeingültigere, lateinamerikanische Dimension. Als dann die Militärs 1973 Uruguay in ihre Gewalt brachten, da wurde der engagierte Bürger zum politischen Kämpfer. Aber Partei-Literatur ist dabei nicht entstanden.

"Priorität hat die Literatur, egal, ob ein Gedicht, ein Roman, ein Band mit Erzählungen wichtige politische Themen aufgreift, wenn sie in eine stumpfsinnige Verpackung gehüllt werden, dann schadet das der politischen Aussage ... Das heißt aber nicht, dass ich keine politischen Dinge in meiner Literatur behandle."

Sie ist auf eine zurückhaltende Weise sogar voll davon. Die Welt des Mario Benedetti der 70er und 80er Jahre - der Zeit des Exils - ist düster. Terror überall, Angst lässt wenig Raum für andere Gefühle. Jetzt sind es die Aufrechten, die im Mittelpunkt stehen, jene, die aufbegehren und dabei in ein neues Räderwerk geraten, das nicht so teuflisch fein und lebenslang mahlt wie das andere, sondern auf grauenvolle Weise Leben löscht. Doch gerade die Erfahrung des Abgrunds mobilisiert die Kraft, die Menschlichkeit, für die der Kampf sich lohnt. "Frühling im Schatten" hieß 1982 bezeichnenderweise der wichtigste Roman dieser Jahre.

Mario Benedetti stand stets im Schatten eines anderen Uruguayers: Juan Carlos Onetti mit seinen abgründigen, zutiefst pessimistischen Romanen. Doch beide gehören zu jener Generation von Schriftstellern, die in den 40er und 50er Jahren die moderne Literatur Lateinamerikas begründeten. Onetti war allerdings avantgardistischer in der Darstellung seines Katastrophen-Szenariums. Benedetti war dagegen engagierter, politischer und sah immer Licht am Ende des Tunnels.

Er verweigerte sich dem Zeitgeist, war auf bewegende Weise altmodisch, blieb sich, seinen literarischen und politischen Überzeugungen treu, dieser humanistischen Grundhaltung, die sein gesamtes Werk durchzieht und die seinen Tod überdauern wird.