Kritik nach Brexit-Votum

Kein Wahlrecht für die Wut-Alten

Unterstützer der Leave.eu Kampagne
Die Unterstützer der Brexit-Kampagne waren im Durchschnitt ziemlich alt. Jüngere Wähler stimmten gegen den EU-Austritt. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Von Sergej Lochthofen · 07.07.2016
Sergej Lochthofen ärgert sich über die unzufriedenen alten Männer: Sie machten Politik gegen Europa und alles, was ihnen nicht passe. Ihnen fehle der Blick aufs große Ganze, andernfalls gäbe es beispielsweise keinen Brexit, kritisiert der Publizist.
Ich bin in Sorge. Sogar in tiefer Sorge. Denn meine Disposition ist denkbar schlecht: Ich bin männlich. Ich bin weiß. Und der Tag ist nah, da wird auf meinem Konto die erste Überweisung der Deutschen Rentenversicherung eintreffen.
Da kommt unabwendbar etwas auf mich zu, was man bei uns in der Familie die "Alters-Tollwut" nennen.
Zuvor scheinbar unauffällige Menschen – die sich sogar selbst gern als "normal" bezeichnen - fangen im Alter an zu pöbeln, andere übel zu beschimpfen, sich zusammenzurotten oder im Chor mit weiteren alten Männern unsinnige Dinge zu skandieren.
Eine Spezies, die vor allem bei den Pegida-Aufmärschen in Dresden oder in dumpfem Herumstehen auf dem Erfurter Domplatz, zu beobachten ist.

Alte Rechthaber bestimmen über Zukunft der Jungen

Blickt man durch Europa, so ist es in vielen Ländern noch ärger.
Es waren vor allem die alten Männer, die das stolze Britannien beim Brexit zurück in die Vergangenheit schickten. Um dann mit langen Gesichtern zu beobachten, wie aus einem Groß-Britannien ein Klein-Britannien wird. Dann, wenn Schottland dem Vereinigten Königreich den Rücken kehrt.
Die Europa-Befürworter hingegen waren auffällig jung.
Es sind die alten Rechthaber, die in Wien auf eine zweite Chance ihres Kandidaten hoffen, um doch noch die Hofburg zu stürmen. So wird aus einer bunten Alpen- langsam eine bräunliche Bananen-Republik. Es sind die Alten, die in Frankreich jegliche Reform verhindern, obwohl das Land seit Jahren in einer Dauerkrise steckt.
Und dieser Alten werden es immer mehr. In Holland, in Dänemark, in Polen. Sie hassen jeden, der ihnen nicht nach dem Munde redet. Und vor allem hassen sie Europa.
Nationalisten, Rassisten, Antisemiten und sonstige Patrioten, sie alle haben Dank der alten unzufriedenen Männer Konjunktur. Von Fremdbestimmung, Gängelung und Selbst-Versklavung ist mit Blick auf das geeinte Europa die Rede.

Verzerrte Wahrnehmung wittert "Große Depression"

Weil eben diese Union wie keine zweite Vereinigung in der Geschichte des Kontinents für Freiheit, Wohlstand und Toleranz steht. Nicht nur allein für Deutsche. Nicht nur für Briten. Nicht nur für Franzosen. Sondern für alle.
Die verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit wird zusätzlich medial aufgeladen – in einem schrillen Überbietungswettbewerb. Wo einer gerade mal eine Schwierigkeit erkennt, glaubt der Nächste bereits ein Desaster zu sehen. Der Dritte macht gleich eine Katastrophe daraus. So werden täglich die Spatzen zu Elefantengröße aufgeblasen, vor allem auch in Deutschland. Die Realität sieht anders aus.
Die Wirtschaft brummt. Die Löhne steigen. Die Arbeitslosigkeit sinkt, selbst die Rentner bekommen einen großen Schluck aus der Pulle. Aber sieht man in die Gesichter all der Beglückten, so glaubt man sich ins Jahr 1929 versetzt, das Jahr der großen Depression.
Will man die Zukunft vor dem Zugriff der Wut-Alten bewahren, gibt es im Grunde nur eine Lösung: Auffälligen Männern ab 65 wird europaweit das Wahlrecht entzogen.

Europa scheitert am Mangel an Europäern

Der Brexit wäre bald Geschichte. In Österreich ginge es zu wie immer: nämlich gemütlich. Und selbst nach Sachsen könnte man wieder fahren. Über die Zukunft würden die entscheiden, die auch Zukunft haben: die Jungen.
Aber keine Sorge, soweit wird es nicht kommen. Von allen bösen Anwürfen, die man zu Europa hören kann, stimmt zumindest einer: Europa steht nicht für einfache, schnelle Lösungen. Richtig ist aber auch: im täglichen Klein-Klein ist dieser Generation der Blick fürs große Ganze verloren gegangen.
Wie einst die Weimarer Republik nicht am Mangel an Demokratie, sondern am Mangel an Demokraten zugrunde ging, droht Europa am Mangel von Europäern zu scheitern.
Sergej Lochthofen ist Journalist. Geboren 1953 in Workuta (Russland), kam er als Fünfjähriger mit den Eltern in die DDR, wo er eine russische Schule besuchte. Er studierte Kunst auf der Krim und Journalistik in Leipzig. Von 1990 bis Ende 2009 verantwortete er die Zeitung "Thüringer Allgemeine". Das Medium-Magazin wählte ihn zum regionalen "Chefredakteur des Jahres". Fernsehzuschauer kennen ihn als Stimme des Ostens im ARD-Presseclub oder in der Phoenix-Runde.
Sergej Lochthofen
Sergej Lochthofen© picture alliance / dpa-Zentralbild / Arno Burgi
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