Kritik an Flüchtlingspolitik

Gegen den Visazwang

Auf dem Deck eines Schiffs der italienischen Küstenwache liegen gerettete Flüchtlinge.
Die italienische Küstenwache konnte 28 Flüchtlinge retten, nachdem vor der libyschen Küste ein Schiff mit Hunderten Flüchtlingen versank. © picture alliance / dpa / Ivan Consiglio
Sabine Hess im Gespräch mit Nicole Dittmer und Julius Stucke · 20.04.2015
Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer habe gezeigt, dass "man den Tod zum eigenen Helfershelfer macht", sagt die Migrationsforscherin Sabine Hess und kritisiert die europäische Flüchtlingspolitik. Das Zynische sei, dass viele der Ertrunkenen - wären sie in Deutschland angekommen - auch hätten bleiben dürfen.
Die Katastrophe im Mittelmeer, bei der bis zu 950 Flüchtlinge ums Leben kamen, wird politische Folgen haben. Noch aber wird vor allem diskutiert. Dabei, so die Professorin für Kulturanthropologie, Sabine Hess, müssten sich mit sofortiger Wirkung neben der italienischen Marine auch Soldaten anderer Länder an der Rettung der Flüchtlinge beteiligen.
"Das ist das Gebot der Stunde. Wenn man jetzt weiter zuschaut und diskutiert, während im Mittelmeer weitere Boote verunglücken, ist es natürlich geboten, sich zu erinnern ans Gelingen der italienischen Seenotrettungsaktion 'Mare Nostrum' letztes Jahr."
Fährverkehr statt Schleuser-Kriminalität
Die Operation der italienischen Marine und Küstenwache habe im vergangenen Jahr geholfen, dass Sterben im Mittelmeer zu minimieren. Die eigentliche Katastrophe bestehe darin, dass Seenotrettungskreuzer und auch Schiffe der Grenzschutzagentur Frontex vor der Küste seien, diese aber nicht aufs Meer fahren, um die Flüchtlinge zu retten. Hess appellierte außerdem an die italienische Regierung, Handelsschiffe und Fischkutter, die helfend eingreifen, nicht mehr zu kriminalisieren.
Einige Hilfsorganisationen fordern, Europa sollte ganz auf den Schutz der Grenzen verzichten und Fähren zwischen Afrika und den Mittelmeerländern einrichten. Hess sagte, die Idee an sich sei nicht utopisch, da es diese Verbindungen bereits gebe. Sie sagte im Deutschlandradio Kultur:
"Sie transportieren Touristen, sie transportieren Waren, sie transportieren Geschäftsleute und Leute mit Visum sowieso schon übers Mittelmeer. Wenn man den Visazwang aufheben würde, dann gibt es Reiseverbindungen, die jeder Mensch nehmen kann und die sicher nicht so teuer sind wie die mittlerweile gestiegenen Preise im Schlepper-Geschäft."
Zahlreiche Menschen stehen an einer Küste und beobachten ein auf Grund gelaufenes Schiff.
Auch vor Rhodos lief ein Flüchtlingsschiff auf Grund - es gab mehrere Todesopfer.© picture allinace / dpa / Loukas Mastis
Besonders zynisch sei, dass zum Beispiel mehr als 80 Prozent der Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland bleiben dürfen und nicht abgeschoben werden, die potenziellen Asylbewerber aber nicht übers Meer zu dem Ort gelangen können, der ihnen Schutz bieten würde.
"Die Politik weiß - sobald die Syrer es hierher geschafft haben, werden sie eben nicht mehr abgeschoben", sagt die Migrationsforscherin, "und obwohl man das weiß und das Gesetz einen Schutztitel vorsieht, lässt man sie weiter im Mittelmeer absaufen."
Das Zynische an der Flüchtlingspolitik sei, "dass man den Tod zum eigenen Helfershelfer macht".
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