Krisenintervention

Wenn die Welt zusammenbricht

Trauernde am 28.4.2002 vor dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, wo zwei Tage zuvor ein 19-jähriger ehemaliger Schüler bei einem Amoklauf 16 Menschen und sich selbst getötet hatte
Trauernde am 28.4.2002 vor dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, wo zwei Tage zuvor ein 19-jähriger ehemaliger Schüler bei einem Amoklauf 16 Menschen und sich selbst getötet hatte © dpa / picture alliance / Stephanie Pilick
Von Tim Wiese · 24.03.2016
Unfälle, Naturkatastrophen oder Verbrechen: Unerwartete Ereignisse stürzen Menschen in Krisen, die sie alleine nicht bewältigen können. Im EU-Forschungsprojekt "PsyCris" untersuchen Wissenschaftler, welche psychosoziale Hilfe im Einzelfall nötig ist.
Jürgen Röhr: "Wir sind jetzt auf dem Weg. Wir fahren jetzt zu einem See hier in Berlin, wo ich zum Einsatz war. Da ist eine Frau beim Schwimmen, die war mit ihrem Mann da am See im Sommer letzten Jahres, ist einfach beim Schwimmen untergegangen und nie wieder aufgetaucht. Man hat sie dann über Stunden gesucht."
Jürgen Röhr engagiert sich in der Notfallseelsorge/KriseninterventionBerlin. Er ist einer von 140 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in der Stadt, die Menschen in unerwarteten Ausnahmesituationen beistehen. Der ehemalige Polizist wird alarmiert, wenn sich Unfälle, Katastrophen oder Verbrechen ereignet haben. Wenn für die Betroffenen die Welt zusammenbricht. Zum Beispiel weil ein geliebter Angehöriger aus dem Leben gerissen wurde.
Röhr: "Ja, dann überlegt man schon, was erwartet mich da. Werde ich auch angenommen von den Menschen und hoffentlich kann ich helfen, hoffentlich kann ich unterstützen. Ja, das sind schon diese Grundgedanken."
Jürgen Röhr sitzt am Lenkrad seines Autos. Er trifft auf Menschen, die verstört, verängstigt und verzweifelt sind. Überfordert mit der Situation, in der sie sich plötzlich befinden.
Röhr: "So jetzt sind wie angekommen. An dem Ort."
Es sind ein paar Meter bis zum See. Jürgen Röhr steckt die Hände tief in seine dicke Jacke. Es ist kühl. Langsam laufen wir zum Ufer. Hier erinnert nichts mehr an das schlimme Ereignis. Für den 55-Jährigen sind die Bilder von damals aber noch sehr präsent.
Röhr: "Da stand auch der Ehemann der Frau noch da, rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die Taucher waren immer noch unterwegs und suchten im Wasser nach der Frau. Es waren Schaulustige in einer gewissen Entfernung, die man dann auch zurückgeschickt hatte. Man hatte das auch abgesperrt. Polizei war da. Feuerwehr. Es war schon eine sehr bedrückende Situation, auch wenn man hinkommt natürlich. Immer dieses zwischen Hoffen und Bangen: 'Was wird? Lebt meine Frau noch und kann man sie noch retten?' Das hat mich hier erwartet."
Reporter Tim Wiese: "Wie sind Sie dann hier auf den Mann zugegangen?"
Röhr: "Ja, da geht man einfach hin und dann stellt man sich vor: 'Mein Name ist Jürgen Röhr, ich bin von der Berliner Notfallseelsorge und ich bin jetzt für Sie da. Sie können mich alles fragen und ich stehe ihnen jetzt hier zur Seite.'"
Straßenbahnunglück war ein Erweckungserlebnis
Jürgen Röhr weiß noch, wie froh der hilflose Mann über den unerwarteten Beistand war. Dass es jemanden gab, der ihm die Arbeit der vielen Helfer vor Ort erklärte, Struktur in das Chaos brachte und ihn vor den Schaulustigen abschirmte. Als es schließlich fürchterliche Gewissheit gab, die Taucher die Tote bargen, vermittelte Röhr zwischen den Rettungskräften und dem Hinterbliebenen, damit sich der Mann von seiner Frau verabschieden konnte.
Röhr: "Dass man eben das Menschenmögliche tut für den Mann, für die Verarbeitung seiner Trauer, dieses Realisieren der Situation, dass man einfach hilft, dass man da ist. Wenn man dann geht, wie es dann auch in dem Fall war, dass einem dann auch von dem Mann herzlich gedankt wird und man eben spürt, er ist jetzt auf dem Weg. Man hat auch gemeinsam dran erinnert, was zu tun ist, dass man Verwandte und Freunde informiert, anruft und organisiert, dass sie zum Ort kommen und dann eben für ihn da sind."
Andreas Müller-Cyran: "Ich war gerade beim Mittagessen auf der Rettungswache, als der Piepser ging und ich dann alarmiert wurde auf ein Meldebild, das jeden Rettungsdienstmitarbeiter dann doch unter Druck setzt, nämlich ein Kind, das von einer Straßenbahn erfasst wurde."
Andreas Müller-Cyan ist ein junger Rettungsassistent, als er Ende der 80er Jahre zu dem Straßenbahnunglück gerufen wird. Für ihn eine Art Erweckungserlebnis.
Müller-Cyran: "Ich war das erste Fahrzeug dann an der Einsatzstelle und habe eigentlich gleich gesehen, wie ich das Kind dann unter dem Gleisbett hervorgehoben habe, dass das Kind nicht überleben wird. Mir ist dann aber am Rande aufgefallen, dass da eine Frau und ein Mann stehen und die stellten sich heraus als die Eltern des Kindes, die also natürlich mit großer Sorge sahen, dass mit ihrem Kind etwas Schlimmes passiert ist, aber die zu dem Zeitpunkt nicht wussten, dass das Kind das nicht überleben kann. Und da habe ich mir gedacht, wir konzentrieren uns jetzt hier mit acht Leuten, mit zehn Leuten auf das Kind, dem nicht mehr zu helfen ist und den Menschen, die ein Leben lang mit diesen Eindrücken werden leben müssen, diese Menschen begleitet überhaupt niemand. Die stehen da völlig alleine an der Seite."
Diese Beobachtung sollte den jungen Mann nicht mehr loslassen. Er sieht den Bedarf und widmet ihm seine Arbeit. Andreas Müller-Cyran studiert Theologie und Psychologie. 1994 gründet er in München das erste Kriseninterventionsteam Europas.
Müller-Cyran: "Ein Mitarbeiter ist immer erreichbar rund um die Uhr für die Rettungsleitstelle und wenn Einsatzkräfte wie zum Beispiel ein Notarzt an der Einsatzstelle den Eindruck haben, dass es jetzt hier um Menschen geht, die weniger eine medizinisch körperliche Zuwendung brauchen, sondern eher eine psychologische Wahrnehmung brauchen, dann verständigen sie die Krisenintervention über die Rettungsleitstelle, die dann, wie wir das sagen, alarmiert und dann macht sich der Kollege sofort auf den Weg und ist innerhalb von durchschnittlich 20 Minuten an der Einsatzstelle."
Justus Münster: "Notfallseelsorge Berlin, Münster. Ah, die Leitstelle der Berliner Feuerwehr. Hallo."
Zu Besuch im Büro von Justus Münster. Der Pfarrer koordiniert die evangelische Notfallseelsorge im Verbund der Notfallseelsorge und Krisenintervention Berlin. Er erklärt mir, welche Voraussetzungen ehrenamtliche Helfer mitbringen müssen.
Münster: "Wenn man mitarbeiten möchte, muss man natürlich gefestigt sein. Wir schleppen alle unseren Rucksack mit herum. Mit unseren Lebensereignissen. Und dieser Rucksack muss auch schon fest gepackt sein, damit ich anderen Menschen in Krisensituationen beistehen kann. Und ich denke, das Wesentliche ist, dass wir verhindern müssen, dass sich Notfallseelsorger und Krisenhelfer in einem Einsatz abarbeiten."
Die Freiwilligen erhalten eine Ausbildung. Sie dient dazu, sich selber und die eigene Belastbarkeit zu reflektieren. Es wird Wissen zu Abläufen an einem Einsatzort und zur Zusammenarbeit mit Polizei und Feuerwehr vermittelt. Außerdem lernen die Helferinnen und Helfer in den 110 Unterrichtseinheiten psychologische und medizinische Grundlagen.
Münster: "Sie müssen wissen, was eine akute Belastungsreaktion ist. Das ist die Situation, dass Menschen eben nicht wissen, wo oben und unten, hinten und vorne ist. Sie wissen nicht, ob sie Durst haben. Sie sind auf ihre ureigensten Körperfunktionen zurückgestellt. Man merkt das im Laufe der Zeit, wenn wir in einer Betreuung sind, dann gehen diese Menschen auch mehr aus sich raus und fangen dann auch irgendwann an, ihre sozialen Netze zu entdecken und das ist natürlich eine wichtige Situation, die wir beschulen müssen."
Justus Münster ist sehr froh, dass es viele Bewerber für das Ehrenamt gibt. Sie kommen aus allen Bereichen: Von Handwerkern über Beamte bis zu Rentnern.
Zwei Motivationen begegnen Justus Münster bei den Helferinnen und Helfern immer wieder.
Münster: "Das eine ist, dass sie selber eine schwere Erfahrung im Leben gemacht haben und sich damals eine Begleitung gewünscht hätten, die sie nicht bekommen haben und jetzt einfach mit ihrem Dienst das unterstützen möchten, dass es anderen Menschen nicht so geht, wie es ihnen damals ergangen ist. Und das zweite ist, dass mir Notfallseelsorger und Krisenhelfer auch immer erzählen, ich habe in meinem Leben Glück gehabt, mir ist wenig Schweres passiert und davon möchte ich jetzt auch etwas zurückgeben."
Röhr: "Einmal Links, einmal rechts und dann stehen wir vor dem Dilemma. Ja... Oder was auch immer. Es ist ein schwerer Weg."
Ich habe mich mit Jürgen Röhr in Berlin Kreuzberg verabredet. Nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem sich sein Leben im Bruchteil von Sekunden änderte. Hier erlebte er selber eine der Katastrophen, durch die er heute andere begleitet.
Röhr: "Ja, es war da. Gegenüber diesen roten Hauses, wo heute noch dran steht: ‚Berliner Desinfektionsanstalt'. Dort gegenüber ist es im Prinzip passiert. Nun kommt hier auch noch einer Feuerwehr vorbei. Also das ist so . Gehen wir in die andere Richtung."
Im Juni 2003 war Jürgen Röhr hier als Polizist im Einsatz. Zwei Straßen weiter in einem Café hatte sich ein Beziehungsdrama ereignet. Ein Mann hatte seine Lebensgefährtin mit zwei gezielten Kopfschüssen getötet und einen vorbei kommenden Fahrradfahrer lebensbedrohlich verletzt. Danach flüchtete der Amokschütze zu Fuß. Jürgen Röhr kam mit einer Kollegin dazu, als zwei andere Beamte den Täter überwältigen wollten.
Röhr: "Ich habe dann versucht, von hinten an ihn ranzukommen. Er stand ja mit den Rücken zu mir und das ging auch soweit, aber kurz vorher, bevor ich ran war, bemerkte er mich. Drehte sich um, ließ alles fallen, was er in den Händen hatte, griff nach hinten unter seinen Blouson und da sah ich schon etwas Silbernes, da steckte die Waffe. Und ich hatte noch versucht, mich wegzudrehen, um keine Angriffsfläche zu bieten, aber aus dieser kurzen Distanz war das natürlich illusorisch. Dann ging der Schuss von quer unten in meinen Bauch rein und unter dem Arm kam er wieder raus. Jetzt haben dann auch die Kollegen angefangen, auf ihn zu schießen. Und wie das hier in der Stadt so ist, waren dann Querschläger. Die Kugeln pfiffen und ich habe mich abgewandt, bin in Deckung gegangen, er hat noch mal hinter mir her geschossen und mich nicht getroffen und er ist dann auf den Hinterhof geflüchtet. Die Kollegen sind dann hinterher und auf dem Hof hat er sich dann selbst erschossen."
Jürgen Röhr ist so schwer verwundet, dass er für 85 Tage in ein künstliches Koma versetzt wird. Die Kugel hat seine Leber fast durchtrennt, den Darm abgerissen, den Magen durchschlagen und die Aorta verletzt. Als der Polizist im September 2003 aus dem Koma erwacht, ist er elfmal operiert worden.
Röhr: "Es ist natürlich nie wieder richtig geworden mit so vielen Verletzungen. Das zog sich über drei Jahre hin, alleine die Wunde war ein Jahr offen. Die wuchs nicht zu. Also es war sehr komplikationsreich."
Jürgen Röhr kann nie wieder in seinem Beruf arbeiten. Bei unserem Spaziergang muss er immer wieder Pausen machen. Das Laufen fällt ihm schwer, er bekommt nicht gut Luft. Aus dem Schicksalsschlag schöpft der ehemalige Polizist aber heute auch die Motivation, als Kriseninterventions-Helfer anderen beizustehen.
Röhr: "Also für mich ist es zumindest so, dass ich eben weiß, wie schlecht es sich anfühlt, wenn man Ähnliches erlebt oder auch nur schlimme Nachrichten erhält oder man denkt, die ganze Welt bricht zusammen. Und ich weiß, was es bedeutet, wenn wirklich jemand da ist, der einem ehrlich zur Seite steht in den ersten schweren Stunden und eben Struktur in das normale Leben zurückgibt. Ich darf ja auch noch leben, was ja eigentlich nicht so selbstverständlich war laut den Ärzten. Und das hat ja irgendwo auch einen Sinn. Und vielleicht ist es auch dieser Sinn, also ich empfinde es zumindest so."
Christine Adler: "Der Begriff Krisenintervention kommt ursprünglich aus dem Bereich Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie."
Und zwar ging es ursprünglich darum, dass man alle Möglichkeiten ausschöpft, die den Verlauf einer Lebenskrise sozusagen günstig beeinflussen.
Dr. Christine Adler. Die Psychologin erforscht an der Ludwig Maximilian Universität München, welche Unterstützung Menschen nach Katastrophen benötigen.
Adler: "Also ein Mensch, der in eine Lebenskrise kommt, hat in der Regel wenige Möglichkeiten, sich mit all seinen Sinnen, seinen Möglichkeiten sich frei zu entscheiden oder selbst Entspannung zu suchen oder zu finden oder Lösungen für sein Problem zu finden."
Und hier setzen die Kriseninterventionsteams an. Sie sollen den Betroffenen einen Weg aus ihrer Hilflosigkeit zeigen, damit diese wieder handlungsfähig werden und sich auf ihre seelischen und körperlichen Möglichkeiten besinnen.
Adler: "Wenn Sie so etwas erleben, sind Sie manchmal in einer Schockstarre und das Naheliegendste fällt Ihnen nicht ein und Sie brauchen eine Person, die Ihnen dabei hilft, dass Ihre Einfälle, Ihre Gedanken wieder fließen können."
Müller-Cyran: "Oft geht es da gar nicht darum, viel zu reden mal zunächst. Sondern geht es wirklich darum, in der Nähe des Betroffenen zu sein, ihn wahrzunehmen und dann stellen sich oft viele Fragen, auf die wir dann versuchen, zu antworten, damit der Betroffene wieder so ein bisschen versteht, was um ihn herum vorgeht."
Die Hinterbliebenen müssen auch aufgefangen werden
Andreas Müller-Cyran, der die Krisenintervention in Deutschland etabliert hat, leistet auch selber noch erste Hilfe für die Seele. Der katholische Diakon leitet im Bistum München das Krisenpastoral und trifft in Einsätzen immer wieder auf Menschen in Ausnahmesituationen.
Müller-Cyran: "Mir ist es wichtig, dass der Betroffene, wenn es ihm möglich ist und wenn er das möchte, das, was er gerade erlebt und erlitten hat, dass er das in Worte fassen kann, also dass er sprachfähig wird, eventuell auch das zur Geschichte werden zu lassen, was er gerade erlebt hat."
Der 4. Juli 2005. Martina Schäfer erinnert sich noch gut an die ausgelassene Stimmung an diesem warmen Sommertag.
Martina Schäfer: "Wir waren alle gut gelaunt, guter Dinge, wir hatten am Abend ein großes Fest geplant mit allen Nachbarn. Es war wirklich eine ausgelassene, fröhliche Stimmung und wir waren alle guter Dinge, weil wir eigentlich nur feiern wollten."
Auch der sich eintrübende Himmel schmälerte die gute Laune nicht. Ein großes Zelt im Garten sollte die Partygäste vor möglichem Regen schützen.
Schäfer: "Man sah dunkle Wolken am Himmel und die Kinder wollten einfach noch eine Runde spazieren gehen mit ihrem Au Pair. Da haben wir gesagt: Gut, nehmt halt die Regenjacken mit, es schaut nach Regen aus und ich sause jetzt noch mal zum Einkaufen. Als ich wiederkam, waren sieben Anrufe in Abwesenheit und da rief ich halt zurück. So nach dem Motto: 'Was will mein Mann jetzt schon Dringendes von mir?' Und dann sagte er mir nur, dass etwas Schlimmes passiert sei und die Kinder hatten einen Unfall gehabt. Es waren zwei Bäume durch eine plötzliche Windböe oder Windhose entkront worden und hätten unsere Kinder und das Au Pair getroffen."
Martina Schäfer musste erleben, wie sie aus dem Nichts mit der schlimmsten Situation ihres Lebens konfrontiert wurde.
Als die junge Mutter ihr Zuhause erreichte, herrschte ein unüberschaubares Durcheinander. Nachbarn hatten sich versammelt, die Polizei war da und fremde Menschen redeten auf sie ein.
Martina Schäfer befand sich in einem Schockzustand, als sie ein Mitarbeiter des Münchner Kriseninterventionsteams ansprach.
Schäfer: "Und er stellte sich vor und sagte: 'Frau Schäfer, ich bin jetzt für Sie da!' Ich bringe sie zu ihrem Sohn. Und da war das erste Mal, wo ich merkte, dass sich jemand um mich kümmert und der mich in meiner Situation auffängt."
Während die Tochter und das Au Pair glücklicher Weise nicht schwer verletzt wurden, kämpften die Ärzte im Krankenhaus um das Leben des kleinen Moritz. Einen Tag vor seinem dritten Geburtstag. Der Kriseninterventionshelfer und eine Kollegin blieben an der Seite der verzweifelten Eltern, beantworteten so gut wie möglich ihre vielen Fragen.
Schäfer: "Was uns in der Situation natürlich sehr stark geholfen hat, dass wir einfach wussten, was genau mit ihm geschah. Als es dann klar war, dass wir jetzt keine Operationsmöglichkeiten mehr hatten, hat uns das Kriseninterventionsteam darauf vorbereitet, wie der Tod ausschaut und haben uns durch diese Stunde Null begleitet und jetzt im Nachhinein weiß ich, dass ich eben sämtliche Möglichkeiten aufgezeigt bekommen hatte, die ich wissen musste, um hinterher nichts zu bereuen."
Adler: "Was häufig passiert, wenn man sich nicht richtig verabschieden kann, dass man einer Illusion aufsitzen kann. Das heißt, man entwickelt Vorstellungen, dass der Mensch vielleicht doch nicht tot ist. Also da geht es auch darum, den Körper noch einmal in irgendeiner Form anfassen zu können und zu merken, er ist kalt, das Leben ist erloschen. Es ist endgültig."
Deshalb erklären die Kriseninterventionteams den Betroffenen, wie wichtig der Abschied von den Verstorbenen ist. Oft sprechen sie am Einsatzort mit der Polizei, damit die Angehörigen zum Verstorbenen vorgelassen werden. Nicht selten helfen sie auch mit, den Toten für die letzte Begegnung vorzubereiten. Sie verdecken zum Beispiel Wunden, damit den Hinterbliebenen kein schlimmer Anblick zugemutet wird.
Adler: "Die zweite Frage, die oft auch im Raum steht ist, mit den eigenen Schuldgefühlen umgehen zu können. Es entwickeln viele Menschen dann Phantasien, Illusionen, die in die Richtung gehen: 'Hätte ich doch die 112 eher gewählt.' Und auch dazu gehört eine ruhigere Atmosphäre, um sich damit noch einmal beschäftigen und verabschieden zu können."
Auch Martina Schäfer berichtet, dass ihr der Abschied von ihrem Sohn geholfen hat. Nicht nur deshalb ist sie heute dem Kriseninterventionsteam zehn Jahre nach seinem Tod noch sehr dankbar.
Schäfer: "Dass es trotzdem, wie man da durchgegangen ist, eine gute Erfahrung war, dass man begleitet worden ist, dass jemand anderes da war, hat das Ganze wohl ertragbarer gemacht. In der Situation auf jeden Fall und im Nachhinein auch."
Röhr: "Ja, Hallo die Krisenintervention, Jürgen Röhr hier. Du, ich habe einen Einsatz für dich, du steht ja gerade in der Bereitschaftsliste und in deinem Bezirk da gibt es einen Einsatz, da bittet die Feuerwehr um Unterstützung. Könntest du diesen Einsatz jetzt übernehmen?"
Bis das Netz von Familie und Freunden greift
Zurück in Berlin. Zuhause bei Jürgen Röhr. In dieser Woche hat er den Leitungsdienst der Notfallseelsorge und Krisenintervention Berlin. Das heißt, er ist der erste Ansprechpartner für die Notrufzentralen von Polizei und Feuerwehr und schickt dann eine Kollegin oder einen Kollegen zum Einsatzort.
Röhr: "Gut, dann danke ich dir für deinen Einsatz erst einmal, dass du den übernimmst. Ich wünsche dir viel Kraft für diesen Einsatz. Und wenn du noch Hilfe und Unterstützung brauchst, meldest du dich. Wie gehabt. Danke dir, dann auf später. Tschüss!"
Der Einsatz der ehrenamtlichen Kräfte geht in der Regel solange, bis das soziale Netz der Betroffenen greift, Freunde oder Familie zur Stelle sind. Außerdem bekommen die Hinterbliebenen Informationen an die Hand, wie und wo sie anschließend weitere Unterstützung erhalten.
Doch wie verarbeiten die Helferinnen und Helfer selber die Extremsituationen, mit denen sie immer wieder konfrontiert werden?
Röhr: "Jeder Fall bleibt einem ein Stück weit in Erinnerung. Man nimmt auch jeden Fall ein Stück weit mit. Man hat ja immer in diesen Einsätzen die Bilder des Grauen vor sich wie andere Rettungskräfte auch. Aber was irgendwie schwieriger ist, die Rettungskräfte packen irgendwann ein und gehen und wir bleiben da. Und dann muss man eben in diesen Situationen auch aushalten langes Schweigen, Schreie oder ... Es ist alles möglich. Wutausbrüche. Und das Gute ist eben, das man hier ja auch professionell aufgefangen wird. Man kann zu einer Einzel-Supervision gehen."
Adler: "Das heißt, dort sprechen die Betreuer über ihr Erlebtes, über ihre Erfahrungen, weil wir auch, das ist der theoretischen Hintergrund, wissen, dass es die sekundäre Traumatisierung gibt und die sekundäre Traumatisierung bedeutet, dass Menschen, die nicht direkt betroffen sind, sondern indirekt als Helfer oder auch als Zuschauer dieselben Symptome entwickeln können."
Das Gespräch und der Austausch auch mit anderen Kriseninterventionshelfern spielt daher für die Verarbeitung eine zentrale Rolle. Oft sind die Ehrenamtlichen auch zu zweit im Einsatz, um sich gegenseitig zu unterstützen und mögliche Probleme erkennen zu können. Deshalb wird schon bei der Auswahl der Kräfte neben der psychischen Belastbarkeit auch auf Teamfähigkeit geachtet.
Erfurt 2003 - Polizei Durchsage: "Verlassen Sie bitte das Objekt weiträumig, hier wird scharf geschossen."
Schülerin: "Ich bin total fertig, die hatten Todesangst da drinnen. Die konnten kaum atmen. Die sind jetzt auch total fertig."
Schüler: "Also es war ein bewaffneter Mann, der kam aus der Toilette, bewaffnet."
Die Kriseninterventions-Helfer sind auch bei sogenannten Großschadenslagen im Einsatz. Also wenn viele Menschen betroffen sind. Zum Beispiel nach Naturkatastrophen, Flugzeugabstürzen oder Situationen wie dem Amoklauf eines ehemaligen Schülers am Gutenberg Gymnasium im Erfurt im April 2002. Damals starben 16 Menschen und der Amokschütze. Andreas Müller- Cyran erinnert sich.
Müller-Cyran: "Ich bin nach Erfurt gekommen zusammen mit einem Psychologen der bayrischen Polizei und ich bin in die Situation gekommen, wo die Toten in der Schule identifiziert waren und die Vermissenden, die natürlich noch intensiv hofften und hofften, dass ihre Angehörigen sich noch in einem Krankenhaus befinden. Diese Hoffnung mussten wir ihnen dann nehmen und ihnen mitteilen, dass die Angehörigen verstorben sind. Also ich bin da in einer sehr dramatischen Situation eingetroffen. Und ich habe eigentlich nie erlebt wie bei diesem Einsatz, dass Polizeibeamte und Einsatzkräfte selber so stark betroffen waren wie bei diesem Einsatz."
Adler: "Erfurt ist eine Stadt, die durch den Amoklauf einfach komplett überrascht wurde. Also das ist, was wir ganz oft sehen, dass man eigentlich überhaupt nicht damit rechnet, dass es einen selber trifft, heißt auch die eigene Gemeinde oder das eigene Gemeinwesen trifft."
Christine Adler hat zusammen mit anderen die Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen nach dem Amoklauf in Erfurt aufgearbeitet. An der Ludwig- Maximilian- Universität in München koordiniert sie das europaweite Forschungsprojekt "PsyCris", das sich mit psychosozialen Maßnahmen nach Krisenfällen beschäftigt.
Adler: "Wir haben zehn Jahre danach Daten ausgewertet und sehen da, dass wir immer noch Menschen sehen, die chronifiziert traumatisiert sind. Das heißt, die immer noch psychotherapeutische, psychiatrische Hilfe benötigen."
Niemand hatte die traumatisierten Schüler und Lehrer im Blick
Das Problem damals in Erfurt: Niemand hätte anfangs die langfristige Betreuung der traumatisierten Schüler, Lehrer und Angehörigen im Blick gehabt. Der Täter sei gefunden gewesen und der Katastrophenschutz wollte sein Arbeit einstellen. Letztlich ist die Unfallkasse Thüringen eingesprungen. Sie organisierte die psychologische Betreuung der Betroffenen und fungierte als Koordinierungsstelle.
Adler: "Wenn es keinen Zuständigen gibt im Krisenmanagement, im Katastrophenschutz, der dafür offen ist und der dafür eine Macht hat, solche Dinge wie so ein Koordinationszentrum oder eine Koordinierungsstelle einzurichten, dann gibt es auch keine Angebote, dann bleiben die Menschen alleine."
Die Betreuung für Betroffene müsste aber über den Beistand in der akuten Situation hinausgehen. Auf die Krisenintervention sollte die sogenannte psychosoziale Unterstützung folgen. Sie umfasst alle Maßnahmen, die mittel- und langfristig die Soforthilfe ergänzen. Im Rahmen des PsyCris -Projekts entwickeln die Wissenschaftler daher einen Katalog mit Handlungs-Empfehlungen nach Katastrophen.
Betroffene Flutkatastrophe 2013: "Also hier in den Regalen sieht man auch den Schlamm und dann sieht man auch, wie hoch hier das Wasser gestanden ist. Ich bin 1,60 und das Wasser ist hier ungefähr 1,70 gestanden."
"Das ist alles kaputt, kannst alles rausreißen, kannst alles wegschmeißen. Alles, was irgendwie feucht geworden ist, kannst alles wegschmeißen, weil alles nass ist, alles stinkt, alles kaputt ist."
Die Flut 2013. 500 Jahre lang wurden nicht so hohe Pegel an Elbe und Donau gemessen. Menschen waren plötzlich mit einer enormen Zerstörung konfrontiert. Zu den besonders betroffenen Gebieten gehörte der Landkreis Deggendorf in Bayern, wo Deiche den Wassermassen nicht standhielten.
Betroffene 2013: "Also die emotionalen Belastungen sind schon da, aber man weiß, dass man eigentlich gegen das Hochwasser nichts machen kann. Man kann einfach nur hoffen, dass es nicht so hoch kommt."
Noch heute würde in der Region Deggendorf ein Viertel der Bevölkerung psychologische Hilfe benötigen. Das ergab ein Screening im Rahmen des PsyCris-Projekts. Der Landkreis habe aber auch Modelcharakter für eine erfolgreiche psychosoziale Betreuung, die dort vorbildlich zentral koordiniert würde.
Adler: "Aus Spendengeldern und auch aus Mitteln des Landkreises gibt es dort einen Psychologen und zwei Sozialarbeiter, die wirklich da sind für die Menschen und sie unterstützen, betreuen, Hilfestellungen leisten, therapeutische Angebote, Erstgespräche machen. Suchen, ob es irgendeinen Psychotherapeuten gibt, wenn es notwendig ist, und dort die Betroffenen hinbegleiten."
Auch die Belastung der Helfer im Blick
Im Mittelpunkt der Bemühungen steht immer, dass sich Betroffene nach einem extremen Erlebnis nicht zurückziehen und den Kontakt zu anderen Menschen nicht verlieren. Die Krisenintervention ist dafür der erste wichtige Baustein. Die Forscher haben aber immer auch die Belastung der Helfer im Blick.
Adler: "Ein wichtiges Werkzeug ist der Umgang mit dem eigenen Stress, dazu entwickeln wir oder haben schon entwickelt, eine Möglichkeit des Stresstrainings, wenn sie da besser mit sich selber umgehen können, wenn sie besser wissen, welche Situationen auftreten können. Dass man dann zwar vielleicht noch einiger Maßen ruhig und gelassen die Situationen im Stabsraum regeln kann, aber sobald man in Kontakt kommt mit der Bevölkerung, die gerade ihre Häuser überschwemmt hat oder alles verloren hat, sieht das noch mal ganz anderes aus."
Nur wer ausgeglichen ist, kann andere beruhigen und in Extremsituationen besser handeln. Deshalb schenken die Forscher der Stressreduzierung für die Helfer viel Aufmerksamkeit.
Müller-Cyran: "Ich glaube, ohne das, was passiert ist, relativieren zu wollen, wir verstehen uns ein Stück weit auch als Brücke in diese Erfahrung hinein, dass trotz allem Furchtbaren, was passiert ist, doch das Leben weitergeht und auch in einem guten Sinne weitergehen kann."
Krisenintervention und psychosoziale Unterstützung leben durch das Engagement der vielen Ehrenamtlichen in Deutschland. Der europäische Vergleich im PsyCris-Projekt zeigt, dass das keine Selbstverständlichkeit ist.
Adler: "Das gibt es in anderen Ländern zum Teil gar nicht. Da gibt es nur diese freiwilligen Strukturen. Und Freiwilligkeit ist etwas anderes als Ehrenamtlichkeit. Weil Ehrenamtlichkeit ist genau das, was wir brauchen bei diesen Kriseninterventionsteams. Das heißt eine Bindung auf längere Zeit und eine Verpflichtung auf längere Zeit."
Nur so können die Mitarbeiter umfassend geschult und auf ihre schwierige Aufgabe vorbereitet werden. In einigen EU-Staaten ist der Katastrophenschutz auch sehr militärisch geprägt. Dort spielen psychosoziale Aspekte meistens keine Rolle.
Es sind außergewöhnliche Menschen mit besonderen Geschichten wie Andreas Müller-Cyran und Jürgen Röhr, die anderen überall in Deutschland in größter Seelennot und darüber hinaus beistehen.
Röhr: "Weil es eine Arbeit oder eine Tätigkeit ist, die vom Herzen kommt für viele in dieser Ehrenamtlichkeit. Und das spürt man auch, dass es nie darum geht, dass man hinterher einen Rechnungsblock rüber schiebt, sondern dass es vom Herzen kommt."
Mehr zum Thema