Krim ohne Feierlaune

Die unversöhnliche Geschichte

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Ein Mann trägt die russische Fahne in der Stadt Sewastopol nach der Annektierung der Krim im Frühjahr 2014. © Hannibal dpa
Von Thielko Grieß · 06.11.2017
100 Jahre Oktoberrevolution wollte Präsident Putin auf der Krim feiern. Es wäre ein resonanzträchtiges Unterfangen geworden - auf der ukrainischen Halbinsel, die russische Truppen vor drei Jahren annektierten. Aber es gibt Streit, auch über ein Denkmal.
Unten rollen friedliche Wellen ans Ufer, gleich dahinter steigt das Küstenrelief einige Dutzend Meter hoch hinauf. Von hier oben ist die Sicht frei auf eine der städtischen Buchten Sewastopols. Kirill Sisikow lässt den Blick schweifen.
"Da sind die Einfahrt zur Bucht und das Meer. Das ist das Tor zu Sewastopol, seine Hauptschlagader, durch die alle Schiffe fahren, sowohl Kriegsschiffe als auch Passagierschiffe."
Er ist örtlicher Koordinator einer Gruppierung mit dem blumigen Namen "Kern der Zeit", kämpft darum, was Kern der russischen Geschichte sein darf und was nicht, ob und wie Geschichte sichtbar wird. Ein Teil dieses Kampfes findet hier oben statt: Kirill deutet auf das bereits gegossene Betonfundament, neben dem er steht, vielleicht 100 Quadratmeter groß, aus dem Metallstäbe unfertig herausragen.
"Das soll eine 25 Meter hohe Stele werden mit der Mutter-Heimat-Figur oben drauf. Unterhalb und vor ihr sollen ein Weißgardist und ein Rotarmist stehen, beide mit in Richtung Meer geneigten Köpfen. Zwischen ihnen wird ein Kranz mit einem Ewigen Feuer platziert."
Großer Betonsockel mit Metall-Stäben, die herausragen.
Auf der Krim in Sewastopol steht bisher das Fundament für das Denkmal anlässlich der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution in Russland.© Deutschlandradio / Thielko Grieß

Die Weißen und Roten sollten sich versöhnen

Das Denkmal soll Versöhnung zwischen den Kontrahenten des russischen Bürgerkriegs stiften, der nach der Oktoberrevolution vor gut 100 Jahren ausgebrochen war: rote Bolschewiken gegen weiße Bürgerliche und Monarchisten. Das Ergebnis ist bekannt, aber weniger bekannt ist vielleicht, dass die Krim noch bis Ende 1920 von den Weißen verteidigt wurde. Die Idee zu dem Denkmal hatte vor wenigen Jahren der Nachfahre eines Weißen, ein US-Amerikaner, der heute in London lebt. Dann hat die Idee in Moskau Unterstützer gefunden, besonders in der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft. Ihr wissenschaftlicher Direktor Michail Mjagkow:
"Auseinandersetzungen und Streits über Gründe und Folgen der Oktoberrevolution 1917 und über den auf sie folgenden Bürgerkrieg müssen wir Historikern überlassen. Wir sollten heute einen Schlusspunkt unter die Konfrontation zwischen Weißen und Roten setzen. Statt einer Ideologe der Spaltung sollten wir Russlands Wohlstand zuliebe eine Idee der Versöhnung und der Verständigung schaffen."
Doch was sich die neuen Machthaber, die die Krim vor gut dreieinhalb Jahren annektiert haben, mit dem Versöhnungsdenkmal wünschen, stößt in der Hafenstadt am Schwarzen Meer auf Widerstand. Kirill Sisikow hat Klage eingereicht; nicht etwa, weil er die Annexion verurteilen würde, sondern weil er Kommunist ist. Für ihn, den 33 Jahre jungen Programmierer, ist ein Denkmal, das die Gegner von vor 100 Jahren würdigt, undenkbar.

Es soll für die "Einheit Russlands" stehen

"Warum sind wir gegen den Bau solcher Denkmäler ohne öffentliche Anhörungen? Wir sehen, dass in ganz Russland unter dem Vorwand der Versöhnung faschistische Kollaborateure und Kriegsverbrecher reingewaschen werden."
Kläger gegen das Revolutions-Denkmal Kirill Sisikow steht auf dem Beton-Fundament.
Kirill Sisikow hat Klage gegen das Denkmal zum „100-jährigen Jubiläum der Revolution von 1917“ eingereicht - nun ruht das Vorhaben.© Deutschlandradio / Thielko Grieß
Geplant war, das Denkmal jetzt, Anfang November, im Beisein von Präsident Wladimir Putin einzuweihen. Inzwischen ist die Rede von einer Einweihung im nächsten Jahr. An diesem erbitterten Streit um die Vergangenheit zeigt sich, wie die Brüche und Risse, die der Gesellschaft im Zarenreich, dann in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland zugefügt worden sind, heute mehr denn je übereinander liegen und ineinander verwickelt sind. Seit der Annexion der Krim sind noch mehr Verknotungen hinzugekommen.

"Ich erkenne diese Regierung nicht an"

Tatiana hat einen öffentlichen Platz als Treffpunkt benannt. Niemand soll erkennen, dass sie mit Journalisten spricht. Es ist dunkel und kühl. Hinter der Balustrade ist unten ein Teil des Hafens von Sewastopol zu sehen, nebenan reckt sich der Turm des Theaters "Klub der Matrosen" in die Höhe. Zum Gespräch kommt Tatiana mit ihrem Mann Oleg.
"Ich erkenne diese Regierung nicht an. Deshalb habe ich schriftlich erklärt, dass ich auf die russische Staatsbürgerschaft verzichte."
Der russische Pass war ihr nach der Annexion, wie allen anderen auch, angeboten worden. Aus Protest gegen das Vorgehen Russlands hat sie ihn abgelehnt.
Den russischen Pass abzulehnen, ist keine Kleinigkeit gewesen. Tatiana erzählt, welche Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten sie zu bewältigen hat. Ein Beispiel ist ihr Auto, das nach wie vor ein ukrainisches Nummernschild besitzt.
"Deshalb können wir die Krim nicht mehr verlassen. Genau genommen dürfen wir ausreisen, aber nicht mehr einreisen. Hier sind wir wie in Haft. Wenn wir ausreisen würden, würden wir gefragt: ‚Haben Sie einen russischen Pass?‘, Warum haben Sie ihn nicht beantragt?‘ Das sind ständige Verhöre."

"Krimbewohner ohne russische Pässe bekommen keine Rente"

Eine Arbeit zu finden sei praktisch unmöglich. Wer Ukrainer bleiben will, muss verzichten. Diesem Druck hält nicht jeder stand.
"Meine Mutter und meine Verwandten hatten die russische Staatsbürgerschaft zuerst abgelehnt. Sie haben so lange gezögert, bis man überall eine Bekanntmachung ausgehängt hat, dass Krimbewohner ohne russische Pässe ab Oktober 2014 keine Rente und keine medizinische Hilfe bekommen würden. Für alte Menschen ist das eine Frage von Leben und Tod."
Den Druck, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, haben die Vereinten Nationen jüngst in einem Bericht kritisiert. Russland mache sich gravierender Menschenrechtsverletzungen schuldig, schreiben die Autoren. Während Tatianas Mutter dann doch die neue Staatsbürgerschaft angenommen hat, wollen die Tochter und ihr Mann durchhalten.
"Wie kann man ohne Hoffnung leben? Ich muss weinen. Wir glauben an unser Land, weil wir sehen, wie man dort kämpft. Ich weiß nicht."
Auf der Hand von Tatjana liegt ein gelb-blauer Bommel und wird in die Kamera gehalten.
Tatiana zeigt den blau-gelben Bommel, an dem sich die Ukrainer auf der Krim erkennen.© Deutschlandradio / Thielko Grieß
Tatiana dreht sich zur Seite, um auf ihre Handtasche zu deuten. An deren Schlaufe hat sie einen kleinen Bommel aus gelb-hellblauen Fransen befestigt, in den Farben der ukrainischen Flagge, und ein metallenes Abzeichen, das die Umrisse der Krim zeigt. Sie sagt, auf diese Weise erkennen sich die Ukrainer in der Öffentlichkeit untereinander.
"Der eine hat in seinem Auto ein gelb-hellblaues Spielzeug, der andere eine Band. Sehen Sie sich um, dann sehen Sie, wie viele solcher Leute es hier gibt."
Was auch gelegentlich passiert, zum Beispiel im Bus: Irgendwo klingelt ein Handy und es ertönt ein ukrainisches Lied. Dann fühlen sich die beiden nicht mehr ganz so allein. Dieses Lied auf dem Handy von Oleg, Tatianas Mann, heißt "Nadija Je"; das ist Ukrainisch für: "Es gibt Hoffnung".

"Es gibt keine politische Repression auf der Krim"

Andere dagegen haben sich mit der neuen Macht arrangiert, wie etwa Sergej Aksjonow. Er war schon vor der Annexion Politiker und ist nach dem März 2014 zügig aufgestiegen. Heute ist er Oberhaupt der Republik Krim. Das ist die ganze Halbinsel außer der Stadt Sewastopol, die einen besonderen Status besitzt. Er lobt die eigene Minderheitenpolitik:
"Ukrainisch und Krimtatarisch sind heute Amtssprachen auf der Krim, im Unterschied zu der Ukraine, in der Russisch keine Amtssprache ist."
Zuletzt sind sogar zwei gerichtliche Urteile gegen Angehörige einer anderen Minderheit ausgesetzt worden. Vor gut zwei Wochen wurden zwei Anführer der muslimischen Krimtataren, Achtem Tschijgos und Ilmi Umerow, freigelassen. Umerow hatte öffentlich gesagt, er erwarte, dass die Annexion rückgängig gemacht werde. Das ist nach russischer Rechtslage als Separatismus strafbar. Die beiden Männer sind inzwischen über die Türkei nach Kiew gelangt. Oberhaupt Aksjonow kann sich bestätigt sehen:
"Es gibt keine politische Repression auf der Krim."
Für die offiziell 250.000 auf der Halbinsel verbleibenden Krimtataren, die die neuen Machtverhältnisse mehrheitlich ablehnen, entsteht ein neues Problem: Ihre gewählte Führung befindet sich nun nicht mehr auf der Krim, sondern de facto im Ausland.
Im Interview hält sich Oberhaupt Sergej Aksjonow mit den Vorwürfen von Menschenrechtlern nicht lange auf. Er weiß: Über Arbeit, Beschäftigung und Wohlstand entscheidet das Wohlergehen des Tourismus, der wichtigsten Branche. Seinen Zahlen zufolge sind bis Anfang Oktober 4,7 Millionen Touristen auf die Krim gekommen; das bedeutet ein Minus gegenüber dem Vorjahr und ein noch größeres Minus gegenüber der Zeit vor der Annexion.
Touristen auf der Krim baden im Schwarzen Meer. Eine Aufnahme vom 30. Juni 2014.
Touristen auf der Krim baden im Schwarzen Meer.© picture alliance / dpa / Pochuyev Mikhail
"Ja, nicht die ganze touristische Infrastruktur der Republik Krim entspricht heute internationalen Standards. Dafür brauchen wir Zeit. Außerdem gibt es auf der Krim ein besonderes Problem, die kurze Tourismus-Saison, die nur zweieinhalb bis maximal drei Monate dauert. Um das ganze Jahr über arbeiten zu können, müssen wir Einrichtungen modernisieren, die touristische Dienstleistungen anbieten."
Einen wichtigen Grund für die Schwierigkeiten im Tourismus nennt das Oberhaupt nicht: Die Krim ist heutzutage viel schlechter als früher erreichbar. Die Eisenbahnverbindungen aus der Ukraine hat die Regierung in Kiew gekappt – die vielen tausend Menschen, die früher mit Nachtzügen anreisten, kommen nun nicht mehr. Von Russland aus fahren Fähren, aber die sind langsam, Flüge sind teuer und etwas weiter südlich lockt die ohnehin wärmere Türkei.

Deutscher aus Kasachstan zieht auf die Krim

Die neue Krim – sie ist für Alexej Grünewald ein Traum. Er will unbedingt hierher umziehen. Aus dem Bergischen bei Gummersbach in die Stadt Saki im Westen der Krim. Hier sitzt er in einem Café.
"Ich wollte weg. Weil ich da nicht zu Hause bin. Da bin ich Russkij. Für mich ist das unangenehm, ich bin kein Russkij. Ich betone das immer wieder. ‚Was bist du für ein Landsmann?‘ Da sage ich: ‚Ich bin als Deutscher in Kasachstan geboren."
Grünewalds Familiengeschichte ist mit der Krim verwoben. Die Familie wurde auf Befehl Stalins wie viele Russlanddeutsche nach Kasachstan deportiert, wo er auf die Welt kam. Anfang der 90er Jahre, als er 20 Jahre alt war, zog er mit seinen Eltern nach Deutschland, hat Arbeit gefunden, eine eigene Familie gegründet. Doch hat er sich nie richtig willkommen gefühlt.
Außerdem verändere sich Deutschland, worüber er nur bei ausgeschaltetem Mikrofon sprechen will. Aber er lässt durchblicken: Die Flüchtlinge und Einwanderer aus dem Nahen Osten sind ihm zu viele.
"Die Entscheidung fiel, als die Krim zu Russland überging. Ich habe meine Frau angeguckt und gefragt: ‚Fahren wir auf die Krim?‘ Ohne zu zögern sagt sie: ‚Ja!‘ Also ich bin in Steppen aufgewachsen. Was sehen Sie hier? Steppen, kleine Hügel, ausgetrocknetes Gras. Wenn der Wind weht auf dem Flughafen, wenn es heiß ist – so eine Luft kriegen Sie nicht in Deutschland."
Dass die Krim international als besetzt gilt, macht ihm keine Sorgen. Er will hier Arbeit finden, sein Kind zur Schule schicken, ein kleines Haus bauen. Dafür ist er bereit, alles aufzugeben, was er sich in Deutschland erarbeitet hat. Aber so einen Neuanfang, sagt er mit einem Lächeln, das seine Zuversicht ausdrückt, mache er in seinem Leben ja nun auch nicht zum ersten Mal.
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