Kriegsethik und Religion

Wann Töten erlaubt ist

Israelische Soldaten an der Grenze zum Gaza-Streifen.
Israelische Soldaten im Gaza-Krieg 2014 © MENAHEM KAHANA / AFP
Von Thomas Klatt · 14.04.2017
Die Kriege des 21. Jahrhunderts finden praktisch überall statt, sind asymmetrisch. Wer ist nun ein Feind und wer nicht? Dürfen Drohnen oder Kampfroboter eingesetzt werden? Auch auf neue ethische Fragen geben alte religiöse Schriften des jüdischen Glaubens oder des Islam Antworten.
Für mehr als 1000 Jahre sei die Ethik des Krieges im Judentum nicht diskutiert worden, weil es kein eigenständiges jüdisches Staatsgebilde gab. Erst mit der Gründung des Staates Israel werde wieder vermehrt diskutiert: Wann und wie dürfen Juden Gewalt ausüben. Grundsätzlich gelte in Thora und Talmud das Tötungs-Verbot, aber mit einer gewichtigen Ausnahme, sagt der jüdische US-amerikanische Rechtswissenschaftler Michael Broyde.
"Die Rechtfertigung des Tötens. Die Aufhebung des Verbots des Mordes erfordert eine erhebliche Bedrohung unserer Gesellschaft oder eben des persönlichen eigenen Lebens. Es ist das Recht auf Selbstverteidigung. Es setzt aber voraus, dass die Tötenden, die Soldaten, mit der größten Präzision töten, die überhaupt möglich ist."
Chemische und biologische Massenvernichtungswaffen seien verboten, ebenso wie Fassbomben oder Streumunition, weil diese Waffen eben wahllos töteten. Immer sei den jüdischen Gelehrten bewusst gewesen, dass es bei jeder legitimen Anwendung von Gewalt auch unschuldige Opfer geben kann. Nur müssten diese so weit wie möglich vermieden werden.
"Maimonides hat es den vierten Pfad genannt. Wenn du eine Stadt belagerst, musst du ein Tor offen halten für unschuldige Bewohner, Alte, Frauen und Kinder, damit sie fliehen können. Und du sollst sie nicht töten."

Exzesse und Rache sind verboten

Eine Rücksichtnahme, die auch im Islam gilt. In mehreren Koransuren werden die Verhältnismäßigkeit der Mittel und die Vermeidung unnötiger Opfer angesprochen. Exzesse und Rache sind verboten. Die US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin Asma Afsaruddin zitiert Ali Gum’a, bis 2013 Großmufti von Ägypten. Wer als Gläubiger Gewalt anwendet, soll sich an folgende Punkte halten.
"Die Beachtung klarer ehrenwerter Regeln für das Anwenden der Mittel und die möglichen Ziele. Zweitens: Verbot des Angriffs auf Nicht-Kriegsteilnehmer und Vermeidung jeglicher Aggression gegenüber Zivilisten. Drittens: Kampfhandlungen müssen eingestellt werden, wenn das gegnerische Lager sich im Friedenszustand befindet und sich von Kämpfen zurückhält, außer denjenigen, die sich in einer akuten Verfolgungssituation befinden."
Der Koran erlaubt den Widerstand gegen religiöse Verfolgung. In den mekkanischen Suren, also den Suren aus der Frühzeit des Propheten Mohammed, wird sogar zu großer Zurückhaltung und Erdulden von Drangsal aufgerufen, bevor man mit Gewalt reagiert. Und weiter heißt es in den Richtlinien des Großmufti Ali Gum’a:
"Viertens: Schutz und humane Behandlung von Kriegsgefangenen. Fünftens: Schutz der Umwelt. Tiere dürfen nicht getötet werden, außer wenn es etwa im Falle von Hunger humanitären Zwecken dient. Bäume dürfen nicht gefällt werden. Die Ernte darf nicht vernichtet werden. Wasser darf nicht vergiftet werden und Häuser dürfen nicht einfach zerstört werden. Sechstens: Garantie auf Religionsfreiheit für Mönche und Eremiten in ihren Klöstern und Zellen und keine Feindseligkeiten."

"Man darf Menschen ins Visier nehmen, die mich töten wollen"

Religiöse Richtlinien, die in heutigen Auseinandersetzungen allerdings kaum eingehalten werden. Es gibt keine klar abgegrenzten Schlachtfelder mehr. Die Kriege des 21. Jahrhunderts finden praktisch überall statt und jeder könnte ein Kriegsteilnehmer sein. Wer ist nun ein Feind und wer nur ein harmloser Zivilist? Darf man etwa ein Krankenhaus bombardieren, wenn dort Waffen oder Kämpfer versteckt sind? - Michael Broyde:
"Man darf Menschen ins Visier nehmen, die mich töten wollen. Wenn diese sich entscheiden, sich in einem Krankenhaus zu verstecken, dann ist das schrecklich, aber ich muss dann schießen dürfen. Aber das ist etwas völlig anderes, als ein Krankenhaus grundlos zu bombardieren."
Also sei Grundvoraussetzung eines ethisch gerechten Kampfes die möglichst beste Aufklärung, auf wen man überhaupt schießt. Und da gebe es durchaus auch Fälle, in denen man zuerst Gewalt anwenden dürfe.
"Wenn ich mir hundertprozentig sicher bin, dass ich um sechs Uhr morgens angegriffen werde, dann darf ich bereits um 5:50 Uhr zuerst angreifen. Und wenn ich ganz genau weiß, dass jemand mich töten will, dann darf ich zuerst schießen. Ich muss nicht erst warten, bis er seine Pistole zieht."
Nur wie will man das innerhalb weniger Augenblicke entscheiden? Eines der vielen Dilemmata heutiger Kriegsethik. Vorgesetzten müsse man hundertprozentig vertrauen können. Würden Offiziere aber wahllos bombardieren lassen, so habe jeder religiös handelnde jüdische Soldat das Recht, den Befehl zu verweigern, meint Broyde.

Kriegsroboter - keine Horror-Vision?

Nur kann man das in hierarchisch militärischen Strukturen diskutieren? Wenn zwischen Befehl und Schuss oft nur Sekunden liegen? Und dann wird es in den Kriegen des 21. Jahrhunderts immer mehr autonome Waffensysteme und Kampf-Drohnen geben. Sind diese zu verbieten? Oder sind sie vielleicht besser, weil sie präziser und objektiver töten als jeder Mensch. Für den Juden Michael Broyde sind Kriegsroboter zumindest keine Horror-Vision.
"Die Sittlichkeit und Ethik hängt doch bei allen Waffen davon ab, wer sie benutzt und gegen wen sie eingesetzt werden. Diese Waffen schießen doch nur automatisch, weil sie jemand so programmiert hat. Können diese autonomen Waffen also besser sein als Menschen? Es ist eine Frage der Fehlerquote, nicht eine Frage für Theologen."
Eine Meinung, die durchaus kontrovers diskutiert werden kann. Denn welcher Religion und Ethik folgen künftig autonome Kampfmaschinen? Oder lassen sich der Glaube und das Gewissen auch in Algorithmen fassen?
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