Krieg im Jemen

Der hohe Preis für Frieden

25:56 Minuten
Ein Mann trägt in Sanaa (Jemen) Säcke mit Getreide.
Im Jemen sind Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. © picture alliance / dpa / Hani Al-Ansi
Von Pia Behme, Carsten Kühntopp und Andre Zantow · 08.02.2021
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Vor zehn Jahren führten Proteste im Jemen zum Rücktritt des Langzeitherrschers Saleh. Doch statt Demokratie kamen die Huthis, eroberten 2015 den Norden. Seitdem herrscht Krieg im Land. Nun weckt die US-Regierung Hoffnungen auf ein Ende des Konflikts.
Hadil al-Mowafak ist jetzt 25 und kann schon auf ein bewegtes Leben zurückblicken: Sie wächst in einem Oppositionshaushalt im Jemen auf. In der Hauptstadt Sanaa. Früh wird sie zur Aktivistin. Mit 13, 14 Jahren tritt sie ins Jugendparlament ein. Mit 15 reiht sie sich ein in die riesigen Proteste Anfang 2011:
"Meine Schule war in der Nähe des ‚Change Squares‘, der Platz, auf dem die Menschen protestiert haben. Nach der Schule bin ich meistens direkt dorthin, statt nach Hause zu gehen. Das erste Mal, als ich den Platz betreten habe, das war ein Moment, der mein Leben verändert hat. Es war das erste Mal, dass ich mich – als Frau im Jemen – sicher gefühlt habe. Ich habe mich gleichberechtigt gefühlt mit allen, die mit mir dort waren. Ich war erstaunt darüber, wie die Männer auf dem ‚Change Square‘ mich angeguckt haben. Ich war diesmal kein Sexobjekt in ihren Augen, wie es sonst häufig auf Sanaas Straßen passiert. Sie haben mich als ihre Mitbürgerin angesehen."

Die neue Generation hat Frust statt Perspektiven

Im Protest ist da auf einmal so eine Einheit spürbar, erzählt die Jemenitin. Hunderttausende gehen auf die Straßen. Sie fordern: Gerechtigkeit, soziale Veränderungen, wirtschaftliche Perspektiven und mehr politische Freiheit. Anfangs ging es gar nicht um einen Regierungswechsel, aber als die Regierung dann versuchte, die Revolution zu ersticken, da wollten sie den damaligen Präsidenten Ali Abdullah Saleh nicht mehr an der Macht sehen, erinnert sich Hadil.
"Das Problem an dem Rücktritt von Ali Saleh 2012 war, dass hinter dem Prozess, der zu dem Ganzen geführt hat, vor allem die alten politischen Eliten standen. Junge Menschen, die Teil der Revolution waren, die Zivilgesellschaft, Frauen – sie wurden alle ausgeschlossen. Der neue Präsident Hadi hatte eine Chance, Dinge langfristig zu verändern, aber er hat sie verpasst. Leider hat die neue Regierung versucht, genau das zu kopieren, was das alte Regime schon gemacht hat: Sie wollte ihre Leute in Top-Militär-Positionen bringen. Nichts hat sich wirklich verändert."
"Enttäuschung", ist das Wort, das Hadil immer wieder hört, wenn sie mit Freunden und Bekannten im Jemen spricht: ein sehr junges Land. Fast jeder Zweite ist unter 15 Jahren. Die neue Generation hat Frust statt Perspektiven:
"Sie sehen ihr Land täglich mehr ins Chaos rutschen. Und sie können nichts dagegen tun. Sie haben keine wirtschaftlichen Chancen. Sie sehen zu, wie ihre Zukunft ins Nichts verschwindet. Sie leben jeden Tag ohne Ziel und deswegen sind sie frustriert. Sie glauben nicht, dass es bald Veränderung geben wird. Manche bereuen, dass sie protestiert haben. Andere halten noch an der Hoffnung fest, dass Chaos nach einer Revolution erst einmal normal ist und die Veränderung noch kommen wird. Aber sie sind frustriert und enttäuscht, weil sie nichts zu sagen haben, bei dem, was gerade in ihrem Land passiert."

Satire-Videos über die islamistischen Huthi-Rebellen

Für ihr Studium ging Hadil 2016 in die USA - zur Stanford University in Kalifornien. Jetzt forscht sie beim Thinktank Yemen Policy Center zum Thema Peacebuilding. Und nebenbei fing sie im ersten Lockdown an, satirische Videos zum Jemen ins Netz zu stellen.
"In diesem Video spiele ich die UN-Friedensverhandlungen nach, als Paartherapie. Ich versuche, die Sicht der einzelnen Akteure zu erklären. Es passieren so viele absurde Dinge, wirklich absurd. Die eignen sich sehr gut für Satire. Die Leute fanden die Videos wirklich gut. Ich glaube, es war erfrischend, mal jemanden zu sehen, die alle Akteure des Krieges kritisiert."
Beliebtes Satireobjekt von Hadil sind auch die Huthis: eine islamische Rebellen-Bewegung im Norden, die anfangs die Revolution unterstützt hat, aber dann mit Hilfe des abgetretenen Präsidenten Ali Saleh den neuen Präsidenten Hadi aus Sanaa vertrieb und dort seit 2015 das Kommando führt.
"Die Huthis sind sehr rassistisch. Sie glauben, dass sie von königlichem Blut oder so etwas abstammen. Ich weiß, dass Menschen in westlichen Ländern den Vergleich nicht mögen, aber für uns Jemeniten sind die Huthis unsere Nazis. Sie teilen die gleiche Ideologie wie die Nazis. Sie glauben, dass sie mehr wert sind als Jemeniten. Das zeigt sich in der Art, wie sie mit Menschen aus dem Jemen umgehen, die nicht von ihrer Blutlinie abstammen. Ich glaube, dass die Huthis eine Bedrohung für unsere Identität sind. Das sieht man heute vor allem darin, wie sie Frauen behandeln."
Aus den USA engagiert sich Hadil als Aktivistin besonders für Frauen- und Kinderrechte. Hier gebe es unter den Huthis große Rückschritte, weil die Rebellen Gesetze eingeführt hätten, die Gleichberechtigung unmöglich mache. Zum Beispiel soll es eine Trennung von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit geben.
"Die Huthis schließen Restaurants, in denen Männer und Frauen zusammensitzen. Sie zwingen Restaurantbesitzer, ihre weiblichen Angestellten zu entlassen, damit sie auf der Arbeit nicht in Kontakt mit Männern kommen. Das ist absurd! In der Geschichte des Jemens haben Frauen und Männer immer zusammengearbeitet und waren zusammen in der Öffentlichkeit. Die Huthis machen es schwieriger für Frauen, Verhütungsmittel zu bekommen. Sie brauchen dafür nun die Erlaubnis ihres Ehemanns. Ich glaube, warum die Huthis das alles tun, ist ihre Logik, so ihre Bevölkerung zu vergrößern, damit sie mehr Kämpfer für ihren Krieg haben. Vor allem, weil sie bereits Kindersoldaten in ihren Kämpfen eingesetzt haben. Ich befürchte, dass diese neuen Regeln lange bleiben werden. Ich befürchte, dass die neue Situation normal wird – und dass die jemenitische Gesellschaft in Zukunft so aussieht wie die afghanische oder iranische."

Lange Autoschlangen wegen Treibstoffmangel

Was es bedeutet, unter der Regentschaft der Huthis zu leben, erfährt Abdulsalam al-Rubaidi jeden Tag. Er lebt in Sanaa und schildert am Telefon:
"Sanaa ist weit entfernt von den Fronten des Krieges. Um einen Überblick über den Konflikt im Jemen zu geben: Der Krieg ist nicht überall im Land. Es gibt einige Orte, an denen gekämpft wird. Zum Beispiel in Hudaydah im Westen und in Marib in der Mitte des Landes. Das Leben hier in Sanaa läuft normal. Manchmal gibt es Bombenangriffe von der Allianz der Golfstaaten. Das letzte Mal, als sie Gegenden um Sanaa herum bombardiert haben, war vor etwa einem Monat. Hier gibt es vor allem wirtschaftliche Probleme: zum Beispiel, wenn man durch Sanaa läuft, sieht man lange Auto-Schlangen, die vor der Tankstelle warten, weil es nur wenig Treibstoff gibt. Das ist zurzeit ein Problem. Und es gibt viele Menschen, die arm sind, weil es nicht mehr so viele Jobs wie vor dem Krieg gibt. Viele junge Menschen sind arbeitslos."
Abdulsalam ist Kulturjournalist und arbeitet an einer Uni in Sanaa. Er kann sich noch über Wasser halten, im Gegensatz zu anderen, die er auf dem Weg zur Arbeit sieht:
"Wenn ich morgens mit dem Auto zur Universität oder zu dem Laden meines Bruders fahre, sehe ich Menschen, die aus dem Müll essen, und viele, die auf der Straße betteln. Wir haben jetzt eine Zweiklassengesellschaft: Die Reichen werden reicher, und die Armen, die Mehrheit des Landes, werden ärmer. Vor 20 Jahren hatten wir eine Mittelschicht. Jetzt wird die Schere zwischen Reich und Arm immer größer."

Keine Meinungsfreiheit mehr unter den Huthis

Jemens Hauptstadt liegt im Norden des Landes. Dort regieren seit 2015 die Huthi-Rebellen. Seitdem hat sich viel verändert:
"Wir leben unter der Kontrolle der Huthis und haben nicht die Freiheiten wie zuvor. Es gibt keine Redefreiheit, keine Meinungsfreiheit in den Medien. Jemen war nach der Vereinigung 1990 auf eine gewisse Art und Weise offen. Wir hatten eine Parteien-Pluralität. Es gab sozialistische Parteien, islamische, nationalistische, aber nun haben wir nur noch eine Stimme. Viele der Intellektuellen, der Journalisten hier in Sanaa können sich nicht mehr äußern. Du musst neutral sein und nicht über Politik sprechen."
Abdulsalam hat als Kultur-Journalist weniger Probleme, meint er, aber für andere ist es schon gefährlich geworden, wenn man sich kritisch äußert über die Huthis.
"Ja, und auch für deine Familie. Du musst vielleicht ins Gefängnis. Einige Leute, die ich kenne, sind nun für fünf Jahre im Gefängnis, oder für sechs Jahre. Zum Beispiel, wenn sie sagen, du respektierst das Land nicht. Die Menschen sind hier auch polarisiert. Die einen unterstützen die Huthis, die anderen die Regierung. Wobei der Jemen jetzt sogar in drei Gebiete unterteilt ist. Im Norden sind die Huthis, ganz im Süden ist die Separatistenbewegung ‚Southern Movement‘ – und zwischen Aden und der Mitte Jemens ist die international anerkannte Regierung. Und diese Dreiteilung macht das Leben der Menschen so schwierig, alleine wenn man mal vom Süden in den Norden will."

Träume für die nächste Generation haben sich nicht erfüllt

Keine Bewegungsfreiheit im eigenen Land, dazu die Armut, der Hunger, der Krieg, die humanitäre Krise – so zieht Abdulsalam eine kritische Bilanz der vergangenen zehn Jahre:
"Wir sehen, dass unsere Träume für die nächste Generation sich nicht erfüllen. Aber vielleicht ist das der Preis, den die Menschen des Jemen bezahlen müssen, für ihren Frieden und für künftige Generationen. Wir erinnern uns noch, wie die Menschen nach draußen gegangen sind – auf die Straßen und demonstriert haben. Diese Erinnerungen – wir haben sie noch!"
Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende im Jemen weckt die neue US-Regierung. Bisher waren die Vereinigten Staaten Mitglied in der von Saudi-Arabien geführten Allianz, die gegen die Huthis und ihren Verbündeten Iran kämpft. Auch kurz vor dem Auszug aus dem Weißen Haus traf die Trump-Administration noch eine folgenschwere Entscheidung.

Trump-Regierung stufte Huthis als Terrororganisation ein

US-Außenminister Mike Pompeo stempelte die Huthi-Rebellen im Jemen offiziell zu einer Terrororganisation. Die Vereinten Nationen protestierten. Denn wenn die Huthis auf der US-Terrorliste stehen, ist es noch schwieriger als bisher, die notleidenden Menschen im Jemen zu versorgen.
Kürzlich kündigte Antony Blinken, der neue US-Außenminister, an, Pompeos Beschluss wieder aufzuheben – die Hilfslieferungen kommen, aber es reicht nicht, seit Langem schon nicht. Nasser al-Saady floh mit seiner Familie aus der umkämpften Hafenstadt Hodeidah nach Sanaa.
"Früher haben wir jeden Monat Unterstützung bekommen, jetzt nur noch alle zwei Monate. Wir bitten darum, es wieder umzustellen, damit wir unsere Familien, unsere Kinder ernähren können. Wir haben kein Einkommen, nichts. Wir bitten, mehr zu erhalten, und wir brauchen auch Ausrüstung und Werkzeug für zu Hause."

Die schlimmste humanitärer Krise weltweit

Bereits vor Kriegsbeginn 2015 war der Jemen das ärmste Land der Arabischen Halbinsel. Jetzt steckt er in der schlimmsten humanitären Krise der Welt. Etwa 80 Prozent der Menschen brauchen Unterstützung. Millionen Jemeniten hungern, das Coronavirus wütet, das Gesundheitswesen kommt schon lange nicht mehr hinterher.
Der Konflikt im Land ist vielschichtig, einzelne Wurzeln reichen Jahrzehnte zurück. Gleichzeitig ist er ein Produkt des sogenannten Arabischen Frühlings, des Versuchs der Jemeniten, nach dem Sturz ihres Langzeitherrschers 2012 Freiheit und Demokratie zu erreichen. Erst überrannten die Huthis weite Teile des Landes und verjagten die international anerkannte Regierung des Landes. 2015 begann eine Militärkoalition unter saudischer Führung mit Luftangriffen auf die Huthis.
Bislang kostete der Krieg mehr als 100.000 Menschen das Leben. Beide Seiten kämpfen ohne jede Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.

US-Präsident Biden kündigt Wende in Jemenpolitik an

Präsident Joe Biden kündigte nun eine Wende in der Jemen-Politik seines Landes an:
"Dieser Krieg muss enden. Um unsere diesbezügliche Verpflichtung zu unterstreichen, beenden wir jede amerikanische Unterstützung für offensive Operationen im Krieg im Jemen, relevante Waffenverkäufe eingeschlossen."
Doch das bedeutet längst nicht, dass die saudische Luftwaffe plötzlich am Boden bleiben müsste. Zudem scheiterte vor Monaten der bisher letzte Versuch, zu einer Waffenruhe zu kommen, nicht an den Saudis, sondern am kategorischen Nein der Huthis.

Der Konflikt wirkt wie eingefroren

Einige Aktivisten von 2011 schütteln heute den Kopf über die Entwicklung ihres Landes, so Ahmed Abdo Hezam Mohammed, der in der Stadt Taiz lebt, in Regierungsgebiet.
"Am Anfang wussten wir nicht, dass der Aufstand dazu führen würde. Aber für jede Revolution gibt es Opfer. Manchmal kostet die Freiheit etwas mehr. Aber der Preis einer Unterwerfung unter ein tyrannisches Regime wäre noch höher."
Längst wirkt der Konflikt wie eingefroren, es herrscht ein Patt. Weder schaffen es die Saudis, die Huthis zu schlagen, noch können die Aufständischen hoffen, weitere wesentliche Geländegewinne zu machen.
Die Regierung versöhnte sich kürzlich mit den Separatisten im Süden – doch gegen die Huthis geholfen hat ihr auch das bisher nicht. International ist die Regierung von Präsident Hadi allgemein anerkannt, bei den meisten Jemeniten aber gewiss nicht mehr. Umgekehrt können auch die Huthis wohl kaum noch behaupten, vom breiten Volkswillen getragen zu werden.
Was die Vermittlungsbemühungen der UN-Diplomaten seit Jahren erschwert: Der Jemen-Konflikt ist zu einem Stellvertreterkrieg geworden. Auf Seiten der Huthis mischt der Iran mit. Damit findet das erbitterte Tauziehen zwischen den beiden Regionalmächten Iran und Saudi-Arabien auch auf jemenitischem Boden statt.

Redaktioneller Hinweis: Wir haben das Manuskript an einigen Stellen vervollständigt.
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