Kreuzchen machen statt Zettel falten

Von Kirsten Heckmann-Janz · 18.03.2010
Nach den turbulenten Zeiten des Mauerfalls fanden am 18. März 1990 die ersten freien, demokratischen Wahlen in der DDR statt. Die ehemalige Blockpartei CDU konnte die überwiegende Zahl der Stimmen für sich verbuchen. Die Sozialdemokraten schnitten unerwartet schlecht ab.
"Wir haben jetzt genau zwei Minuten vor 18 Uhr, und ich taste jetzt mal um zum Palast der Republik."

Es ist der 18. März 1990, kurz vor Schließung der Wahllokale. Vor allem im Osten Deutschlands sitzen die Menschen gespannt vor den Radio- und Fernsehgeräten.

"Gut, dann kann ich schon langsam unser Publikum auf den Inhalt der Prognose vorbereiten, indem ich sage: Diese Wahl ist nicht langweilig, diese Wahlnacht wird spannend."

Seit dem Herbst 1989 erleben die Bürger der DDR eine aufregende und turbulente Zeit. Massendemonstrationen und Mauerfall hatten die SED gezwungen, am Runden Tisch mit der Opposition die Bedingungen für erste freie Wahlen auszuhandeln. Wochenlang hatte ein von Westparteien dominierter Wahlkampf das Land überzogen. Bundeskanzler Helmut Kohl, CDU, plädierte für einen schnellen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des bundesdeutschen Grundgesetzes. Die SPD setzte eher auf ein allmähliches Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten, sagt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.

"Die SPD, die ja im Osten aus der Oppositionsbewegung heraus gegründet worden war und eigentlich moralisch und politisch die besten Ausgangsbedingungen hatte, verspielte ihren Kredit in den ersten Wochen des Jahres 1990 immer mehr, weil vor allem westdeutsche SPD-Politiker skeptisch gegenüber der Einheit eingestellt waren, skeptisch gegenüber den Wegen, die eingeschlagen werden sollten, und das brachte doch eine große Verunsicherung in der DDR damals in weiten Teilen der ostdeutschen Bevölkerung."

Trotzdem schien der Sieg der Sozialdemokraten gewiss; bis zum Wahlabend, 18 Uhr.

"Nach der Prognose des ZDF hat die Allianz, also das rechte Bündnis, allein 50 Prozent zu erwarten. Die CDU, die ehemalige Blockpartei mit Lothar de Maizière an der Spitze, wird allein auf 40 Prozent der abgegebenen Stimmen kommen. Die SPD dürfte nach dieser Prognose nur 22 Prozent bekommen, die PDS, die Nachfolgepartei der SED, 14 Prozent, das liberale Bündnis 6 Prozent, das Bündnis 90, also Neues Forum, Demokratie Jetzt 3 Prozent und alle anderen würden dann 5 Prozent bekommen."

"Wenn man sich heute die Fernsehbilder anschaut oder die Radiointerviews von damals anhört, die ersten, die gegeben worden sind, dann waren alle überrascht. Lothar de Maizière war genauso fassungslos über das gewaltige Ergebnis für sich, wie führende Sozialdemokraten förmlich sprachlos waren angesichts des Einbruchs, den sie da erlitten haben."

Der Geschäftsführer der DDR-Sozialdemokraten, Stephan Hilsberg, bemüht sich als erster SPD-Politiker, das Desaster zu erklären.

"Die Mehrheit der DDR-Bürger hat sich offensichtlich beeindrucken lassen durch diesen Schlammschlacht-Wahlkampf, durch die Plakatierungsaktionen und durch dies Gerede mit dem Kapital. Und das ist so ja nicht haltbar. Es wird sich schon in den nächsten Tagen zeigen, was daran in Wirklichkeit ist."

Der Wahlsieger, Lothar de Maizière, lässt sich im Palast der Republik feiern.

"Wissen Sie, die erste Frage, die wir angehen müssen, ist, dass die Menschen unser Land nicht mehr verlassen, das heißt also: die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Die Währungsunion wird im Moment schon verhandelt und wir werden diese Verhandlungen übernehmen und werden sehen, dass wir sie zügig zum Ende führen können."

Für die SED-Nachfolgepartei PDS meldet sich ein relativ zufriedener Hans Modrow zu Wort: Die Wähler - so der Ministerpräsident - hätten die PDS als neue Partei akzeptiert. Dass die DDR-Oppositionsgruppen so wenige Wählerstimmen bekommen haben, bedauert der Liedermacher Wolf Biermann - aber: Er wundert sich nicht.

"Weil den allermeisten normalen Menschen das Hemd näher ist als der Rock, und weil sie auch müde sind. Und da können auch nicht die Linken jetzt kommen, solche wie ich, und sagen: Ja, aber ihr müsst doch was Besseres versuchen, das ist doch eine riesige Chance, die jetzt historisch entstanden ist. Da sagt eine Arbeiterin: Mein lieber kleiner Biermann, ich stehe an meiner Maschine, und ich kriege einen Dreck bezahlt für meine Arbeit, und ich will, bevor ich alt bin, noch ein bisschen besser leben. Und dann kann ich der keine Vorträge halten."

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk fasst zusammen:

"Am Wahlabend des 18. März brachte es - in meiner Perspektive - niemand anders so klar auf den Punkt, worum es eigentlich an diesem Abend ging, als die britische Premierministerin Thatcher, denn die rief am Abend nicht in Ostberlin an und gratulierte Lothar de Maizière zum Wahlsieg, die rief in Bonn an und gratulierte Bundeskanzler Helmut Kohl zum Wahlsieg, und das hat den Nagel einfach auf den Kopf getroffen."