Krank ohne Krankenversicherung

Von Thomas Gerlach · 26.11.2012
49 Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung. Ärzte betreiben deshalb überall im Land kostenlose "Mobile Health Clinics". Vor allem in abgelegenen Gegenden mit schlechter Infrastruktur ist ihre Arbeit sehr wichtig.
Zahnpatientin Regina: "Das ist eine prima Sache. Sie haben für eine wirklich gute Organisation gesorgt. Ich war vor Jahren schon mal hier. Heute bekomme ich Zähne gezogen. Seit 7 Uhr warte ich und hoffe, bald dran zu kommen. Aber es sind ja so viele Leute hier."

In einem langen Gang in der Riverview Elementar- und Mittelschule von Grundy sitzen auf beiden Seiten Frauen und Männer aller Altersstufen Schulter an Schulter und warten geduldig. Regina Helton ist eine von ihnen.

Auch Mike, ein junger Mann, ist wegen seiner Zähne hier und hofft, dass die Ärzte die richten können, die ihm wehtun, und dass sie sie nicht ziehen müssen.

Es ist bereits das dritte Mal, dass Mike in diese mobile Klinik gekommen ist, und jedes Mal wurde ihm geholfen. Der Flur öffnet sich schließlich in einen großen Saal – auch er voller Menschen. Und wieder das gleiche Bild: ruhig warten, dass man dran kommt. Aber sie haben ihr Ziel schon vor Augen: die Zahnärzte, die an diesem Wochenende freiwillig in den hintersten Winkel Virginias im Osten der USA gekommen sind in die Kleinstadt Grundy. Neben einem älteren Herrn in der ersten Reihe ist ein wenig Platz. Ich frage, ob ich mich setzen darf, stelle mich vor (Journalist aus Deutschland) und erfahre, der nette Herr ist jünger als ich:

"Ich bin 60 und komme schon zum sechsten Mal. Mein Name ist Bernard McClanahan und ich war übrigens schon in Deutschland. Ich habe Militär-Hubschrauber repariert. Die Ärzte haben schon früher meine Weisheitszähne gezogen, zwei Füllungen gemacht und anderes mehr; so messen sie den Blutdruck. Als ich heute hier ankam, sagten sie mir, mein Herz schlage nicht regelmäßig. Deshalb wurde ich erst mal durchgecheckt, bevor ich zum Zahnarzt durfte. Hoffentlich helfen sie mir auch heute wieder."

Bernard McClanahan schaut direkt auf die hintere Hälfte des Saals, die in der Mitte durch eine mobile Wand zweigeteilt ist. Dort wird auf 47 Zahnarztstühlen gleichzeitig behandelt und die Aufteilung dort entspricht jener der wartenden Patienten. Sie sind unterteilt in "fillings" und "extraction", also Füllungen oder Ziehen.

Grundy liegt im äußersten Westen von Virginia – wenige Meilen weiter beginnt Kentucky. Fremde verirren sich selten in die unendlichen Wälder des Appalachen-Gebirges. Der vierspurige Highway liegt schon lange hinter mir, eine Stunde mindestens. Die Landstraße wird zunehmend enger, die Flanken der Berge rücken immer näher zusammen – es bleibt gerade noch Platz für Bach und Straße. Kurve folgt auf Kurve, Geraden gibt es nicht. Aber es ist auch niemand vor einem, den man überholen müsste. Die Gegend ist menschenleer – es ist ja auch kein Platz für Dörfer da inmitten dieses Urwalds. Nur dort, wo ein Nebental einmündet, klemmt sich mal ein Haus in die Lücke. Die schöneren, die gepflegten sind in der Minderheit, aber dafür besonders herausgeputzt mit weißen Säulen, bunten Blumen, der unvermeidlichen Flagge – es wirkt gekünstelt wie eine besonders bombastische Frisur.

Komm nach Grundy, hatten mir die Leute von RAM in einer E-Mail geschrieben. RAM steht für "Remote Area Medical", Medizin für abgelegene Regionen. RAM ist eine Hilfsorganisation, die dorthin geht, wo in den USA das Elend daheim ist; wo arme und notleidende Menschen ohne Krankenversicherung leben und ohne RAM nie einen Arzt zu Gesicht bekommen.

Jean Jolly managt die Expedition oder Klinik, wie sie bei RAM sagen. Für das Wochenende sind nun viele Freiwillige nach Grundy gekommen, teils von weit her und auf eigene Kosten:

""Wir haben hier neun Ärzte, knapp 30 Krankenschwestern, wir haben 47 Zahnarztstühle mitgebracht. Außerdem sind mehr als zehn Augenoptiker dabei und viele Studenten helfen beim Augen- wie beim Zahnarzt. Also, da haben wir wirklich genug Personal."

Als Jean nach dem arbeitsreichen Wochenende schriftlich Bilanz zieht, fällt die so aus:

"1.026 Patienten wurden verarztet und damit deutlich mehr als erwartet. 3400 Mal haben sie an diesem Wochenende eine medizinische Dienstleistung erbracht. Insgesamt halfen dabei 560 Freiwillige."

An der Spitze von RAM steht der unermüdliche Stan Brock. Er ist Brite, 75 Jahre alt und Gründer von RAM – das war 1985. Seither gelten diese Grundsätze:

"Die Ärzte bekommen kein Geld; das ist überhaupt unsere Basis – niemand wird entlohnt, auch ich erhalte nichts. Alle sind Freiwillige. Es gibt nur eine Handvoll Ausnahmen: Mitarbeiter in unserem Hauptquartier in Noxville, Tennessee, die für die Organisation und den Betrieb wichtig sind, die die Buchhaltung machen oder alles vorbereiten für die nächste Expedition unserer Freiwilligen von RAM. Wir sind die größte Organisation dieser Art in den USA."

Stan Brock hatte sich selbst als Cowboy vorgestellt und danach sieht es auch aus, wenn er schaukelnd vor einem hergeht. Als junger Mann hatte er auf einer Ranch in Südamerika jahrelang Pferde zugeritten, in Britisch-Guayana. Dort hat er – von einem Hengst schwer verletzt – selbst erfahren müssen, was es heißt, wenn kein Doktor da ist. In seinem Fall wären es 26 Tagesmärsche gewesen, illusorisch. Nun begegnen wir uns also im Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten, im hintersten Winkel von Virginia. Grundy ist – so wie es RAM im Namen trägt – very remote, sehr abgelegen:

"Wenn ich morgens die Tür öffne, so wie heute und 685 Mal zuvor, wenn ich den Leuten sage, wie willkommen sie uns sind, dann sehe ich so viel Menschen in beklagenswertem Zustand. Leute, die kaum laufen können oder in selbstgezimmerten Rollstühlen sitzen; Leute mit Sauerstoffflaschen. Ich war Helfer in Haiti, in Guatemala und Honduras und so etwas dort zu sehen, ist keine Überraschung; aber hier erwarte ich es nicht. Es hat mein Leben verändert festzustellen, welche Menschenmassen sich in diesem Land in einer verzweifelten Lage befinden."

Die Patienten, denen Stan die Glastür zur Schule geöffnet hatte, kommen in ein lichtdurchflutetes Treppenhaus, an einem Geländer hängt ein großes weißes Transparent. Darauf bedankt sich RAM bei allen Einrichtungen und Organisationen, die zu dieser Klinik beitragen. Es sind sehr viele Namen. Gleich hinter der Treppe ist die Aufnahme in die Klinik, das verrät jedenfalls das Schild mit dem Aufdruck "Triage" – und dort erwartet Amy die Patienten zusammen mit Kolleginnen. Amy ist Krankenschwester und nennt nur ihren Vornamen. Aber offenkundig ist Amy, die erstmals für RAM arbeitet, sichtlich bewegt von dem, was sie zu sehen bekommt:

"Das ist wirkliche eine Erfahrung – so viele Menschen, die Hilfe benötigen. Gut, dass sie herkommen konnten. Es ist wirklich sehr erstaunlich, dass so viele Leute unsre Hilfe brauchen. Hier nehmen wir ihre Krankengeschichte auf und fragen, welche Medikamente sie nehmen. Wir messen ihren Blutdruck, um zu sehen, dass er nicht extrem hoch ist. Vielleicht ein wenig erhöht, kein Wunder angesichts der Aufregung rundherum. Wir fühlen ihren Puls und sagen ihnen dann, wo sie hingehen sollen. Ich bin seit halb sechs hier, aber andere Helfer, die alles hergerichtet haben, waren noch früher da und die Patienten wurden ab 6 Uhr reingelassen."

Patienten erzählen, dass es noch sehr lange dunkel war, als sie angekommen sind auf dem Parkplatz vor der Schule, der später hoffnungslos überfüllt ist. Mancher hat seinen Allrad einfach schräg die Böschung hochgeparkt. Und einer ist dem Nachbarn zu nahe gekommen, verrät die Durchsage im Schulhaus.

Die ersten hatten 24 und mehr Stunden gewartet, bis sich die Tür zur mobilen Klinik geöffnet hat – das zeigt, wie arm sie dran sind, wie groß ihre Not ist. 49 Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung, das ist jeder sechste und mehr als alle Spanier zusammen. Doch nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Milliardäre als in den USA. Hier im Bergwald von Virginia sind bereits die Oktobernächte kalt. Charlene Nashbee und ihre Freundinnen helfen den Bedürftigen auf ihre Weise, sie verteilen Kleidung:

"Es war eine Spende, die Kirche hat uns 40 Kisten mit Kleidung gegeben. Das war wirklich eine ganze Menge. Wir kamen um fünf. Gegen halb neun begann es zu regnen und es wurde kälter. Da haben wir den Leuten draußen, die froren, Mäntel und Pullover gegeben. Wir sind Freiwillige und machen das seit vier Jahren."

... erläutert Charlene stellvertretend für ihre Freundinnen hinter einem Tisch, auf dem schon gegen Mittag kaum mehr Kleidung liegt. Sie standen am Ende eines anderen langen Flurs, typisch Schulhaus eben – auch er wieder voll mit Patienten, darunter viele Kinder. Und wieder sitzen sie ruhig da, geduldig wartend. Nur diese Frau ist so aufgeregt, dass sie meine Frage nicht beantworten kann, das übernimmt flugs die Krankenschwester an ihrer Seite:

"Wir reden ihr gerade gut zu, sich impfen zu lassen. Gegen Grippe, Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten. Es ist kostenlos und wir empfehlen es all jenen sehr, die nicht geimpft sind. Keuchhusten ist auf dem Vormarsch. Sie sollen sicher durch den Winter kommen. Sie ist nur nervös."

Einige Schritte weiter hat sich eine lange Menschenschlange gebildet, die stehend nach links in einen anderen Flur abbiegt. Die letzte in der Reihe ist schon vor Tagesanbruch hier eingetroffen. Cathy heißt die Dame und wie so oft in den USA redet man sich nur mit Vornamen an, der Nachname ist nebensächlich:

"Ich bin zur Augenkontrolle da. Mal sehen, was passiert. Ich war schon früher mal da, vor drei Jahren, und sie haben mir wirklich geholfen. Probleme mit den Augen habe ich schon mein ganzes Leben lang. Ich weiß nicht, ob sie schlechter geworden sind, aber sie waren noch nie gut. Ich hoffe mal, dass sie sich jetzt nicht verschlechtert haben."

In Buchanan-County, dem Landkreis, in dem Grundy liegt, gibt es gerade mal einen Optiker, zwei Zahnärzte und einen Tierarzt. Das sei typisch, sagt RAM-Gründer Stan Brock:

"Besonders auf dem Land gibt es zu wenige Allgemeinmediziner. Was ein anderes Problem darstellt. Studenten werden Ärzte, aber wenn sie die Uni verlassen, haben sie 100.000 Dollar und mehr Schulden. Unglaublich! Deshalb wollen sie sich spezialisieren – als Zahnarzt oder als Facharzt wie zum Bespiel für HNO, Hals-Nasen-Ohren. Sie denken nicht an eine Landpraxis, denn dann könnten sie ihre Schulden nicht abtragen. Das ist sehr problematisch."

Nirgendwo sonst in den USA ist die Armut so groß, die Arbeitslosigkeit so hoch wie in weiten Teilen der Appalachen, diesem 2.400 Kilometer langen Gebirgszug. Das Gebiet umfasst 13 Bundesstaaten und der Begriff "ländlich" gilt hier für mehr als 40 Prozent der Bevölkerung – doppelt so viele wie im US-Durchschnitt. Zahlreiche Landkreise gehören zu den ärmsten in den USA, haben wenig Infrastruktur und die medizinische Versorgung ist schlecht. Zahnerkrankungen sind weitverbreitet und deshalb das größte medizinische Problem. Denn oft verursacht ein Zahn nicht nur höllische Schmerzen, sondern ruft weitere Gesundheitsprobleme hervor. Augen- und Zahnbehandlung haben bei RAM höchste Priorität. Jean Jolly, die hier die mobile Klinik leitet, erklärt das so:

"Die Leute schließen eine Krankenversicherung ab, haben dann aber kein Geld mehr, um Augen- sowie Zahnbehandlung zu versichern. Zumal in einer Krise wie momentan und angesichts der hohen Versicherungsprämien und eines Selbstbehalts von 20 Prozent. Deshalb sind viele Menschen gar nicht in der Lage, eine Augen- oder Zahnversicherung abzuschließen."

Eigentlich brauchen Amerikaner sogar noch eine vierte Versicherung, ansonsten müssen sie die oft teuren Medikamente selbst bezahlen. Die werden nämlich von keiner der andern Versicherungen abgedeckt. Was aber, wenn jemand ohne Krankenversicherung nach einem Unfall ins Krankenhaus gebracht wird? Dann erhält er dort ganz selbstverständlich alle Hilfe, die nötig ist. Er bekommt auch eine Rechnung – aber da er sie nicht zahlen kann, bleibt die Klinik auf den Kosten sitzen. Oder richtiger: letztlich zahlen alle versicherten Patienten für die unversicherten Unfallopfer mit.

Stan Brock: "Wir gehen nur dorthin, wo man uns haben will. Ohne Einladung kommen wir nicht, es sei denn, es handelt sich um eine Katastrophe wie den Hurrikan Katrina. Meist laden uns kirchliche oder andere Gruppen ein. Sie suchen den Ort aus wie die Schule hier und sie stellen die Verpflegung. Das Essen oben im ersten Stock sind Spenden und es ist sehr gut. Wir sind eine steuerbefreite und öffentlich unterstützte Organisation. Ihre Spende für RAM ist deshalb steuerlich absetzbar."

… erklärt Stan Brock und sagt dann noch, dass es RAM ohne üppig fließende, wenngleich oft kleine Spenden gar nicht gäbe. Frannie Minton, die sich immer wieder mal in ihrem Rollstuhl ausruhen muss, lebt in Grundy und ist sozusagen die Gastgeberin, sie hat RAM eingeladen, zum zehnten Mal übrigens. War es schwierig, Freiwillige zu finden?

"Nein, wir sind sehr vom Glück verwöhnt. Studenten von gleich zwei Hochschulen sind gekommen und viele Freiwillige von überall. Sie möchten nur zu gern mit Remote Area Medical zusammen arbeiten. RAM ist sehr, sehr berühmt. Stan Brock und seine Leute sind Spitzenklasse, 1a oder wie wir im Süden sagen: das Sahnehäubchen, einfach spitze."

Dieses Geräusch erzeugen die Apparaturen, die zur Herstellung von Brillen benötigt werden. Gut 300 werden es in Grundy am Ende der Veranstaltung sein. Die Werkstatt befindet sich in einem riesigen weißen Sattelzug, der RAM gehört. Er stammt aus der Konkursmasse eines Auto-Rennstalls. Wo früher auf zwei Etagen Rennwagen transportiert wurden, reisen nun die Zahnarztstühle oben und die Brillen-Manufaktur unten. Eine lange Reihe von Schubladenschränken ist voller Gläser und Gestelle. Wie lange dauert es, eine Brille anzufertigen, frage ich Judy Dandridge.

"Für den ersten am Morgen – 20 Minuten. Sind Sie Nummer 500 – zwei Stunden."

Sie und Thom, ihr Mann, sind bei RAM festangestellt, kümmern sich um die Brillenherstellung und den Lastwagen. Doch in Grundy arbeiten auch sie als Freiwillige. War es schwer, den ewig langen Sattelzug über die engen Nebenstraßen nach Grundy zu bugsieren?

"Nicht so schwierig. Man muss halt gut auf die kleinen Autos achtgeben, die sich reindrängeln. Und auf einigen engen Straßen muss man über die durchgezogenen Linien fahren und aufpassen, dass man nicht seitlich runterfällt."

Einmal hat Thom seinen Truck nach Los Angeles gesteuert – vier Tage hin, vier Tage zurück. In L.A. hatte RAM an einem Wochenende 7.000 Patienten verarztet und gleich viele aus Kapazitätsgründen abweisen müssen. In Grundy, in einem weiteren Spezial-LKW, behandelt Dr. Josef Webster seine Patientinnen. Er ist Gynäkologe und umwerfend fröhlich:

"Ich bin zum ersten Mal dabei, bin von Florida heraufgefahren. Aber es macht viel Freude und schafft so viel Genugtuung, weil man sieht, wie die Leute von uns profitieren."

Und Amy, die Krankenschwester, die mit ihrem Auto über 700 Kilometer aus Washington hergefahren ist, sagt auf die Frage, warum sie gekommen sei, kurz und schlicht:

"Weil ich es kann und sie es brauchen."
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