Krampfhaftes Happy End

Von Ulrike Gondorf · 15.11.2008
Mit Beethovens "Fidelio" gibt Amelie Niermeyer, Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, ein Gastspiel an der benachbarten Deutschen Oper am Rhein. Doch in ihrer zweiten Operninszenierung überdecken Fehler im Umgang mit den ästhetischen Gesetzen des Genres Oper und dem Wechselspiel von Musik und Szene immer wieder die interpretatorischen Ansätze. Reinstes Beethovenglück strömt dagegen aus dem Orchestergraben.
"Wer ein solches Weib errungen, stimm' in unsern Jubel ein" - mit den Worten aus Schillers "Ode an die Freude" lässt Beethoven am Schluss seiner einzigen Oper seine Heldin feiern: Leonore, die in Männerkleidern und unter dem Namen Fidelio sich in das Gefängnis eingeschlichen hat, in dem ihr Mann als politischer Häftling gefoltert wird. Sie findet ihn und kann ihn in letzter Sekunde vor seinem Peiniger retten. Freiheit und Menschenrechte - das ist es, was Beethoven, der Republikaner, eigentlich verherrlicht.

Diesem Schluss, der großen Utopie von Recht und Selbstbestimmung, misstraut die Regisseurin Amelie Niermeyer. Mit ihrer zweiten Operninszenierung gibt die Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses ein Gastspiel an der benachbarten Deutschen Oper am Rhein. Wenn im Theater Duisburg das Stück zu Ende geht, sieht man ein krampfhaft und aufwendig "inszeniertes" Happy End.

Der Minister als Vollstrecker des Rechts fühlt sich sichtlich unwohl in der anarchischen Gefängnisszene, die seine Leibwächter kaum bändigen können. Immer wieder umarmt er demonstrativ den befreiten Florestan und zwingt Leonore, die aufgeschlossenen Handschellen triumphierend in die Höhe zu halten, damit ein imaginäres Heer von Pressefotografen die richtigen Bilder schießen kann. Dem Verbrecher Pizarro ermöglicht er zwischendurch diskret, ohne Aufsehen zu verschwinden.

Das wieder vereinte Paar ergreift schließlich kurz entschlossen die Flucht durch die Jubelchöre. Ein Happy End? Vielleicht - aber ein rein privates, kein politisches, kein allgemeines, kein Fanal der Befreiung. Ein "Betriebsunfall" der Justiz, und der Staat macht gezwungenermaßen gute Miene zu einem Spiel, das besser nie aufgeführt worden wäre.

Amelie Niermeyers Misstrauen in die große Versöhnungs- und Freiheitsutopie am Ende von "Fidelio" ist nachvollziehbar und begründet. Wie wird, fragt man sich angesichts dieser Szene, wohl die Schließung des Lagers in Guantanamo aussehen, wenn die neue US-Regierung sie denn endlich wird vollziehen müssen? Bedeutet die Tatsache, dass die Haft unrechtmäßig ist, auch, dass die Häftlinge unschuldig sind und Anlass zu ungetrübtem Jubel bestünde?

Die Dinge liegen komplizierter - darin hat Amelie Niermeyer nach allen Erfahrungen Recht. Aber Beethoven widerspricht ihr, zerschmettert diese politisch korrekte Alltagslogik mit der Kraft seiner Musik, die eben das Unmögliche möglich macht. Wie immer sich ein Regisseur dazu verhalten will, seine Aussage über dieses Schlussbild müsste dieselbe Unbedingtheit haben, dieselbe Rigorosität anstreben. Heimlich davonschleichen ist keine Lösung.

In Konflikt mit der Musik gerät Amelie Niermeyer immer wieder bei ihrer zweiten Operninszenierung. Augenfällig wird dieser Konflikt an ihrem Umgang mit den Realitätsebenen. Sie beginnt extrem realistisch, mit einem Film aus der JVA Köln, der während der Ouvertüre projiziert wird. Marzelline und Leonore auf den endlosen Gängen vor den Gefängniszellen. Wie direkt aus diesem Film tritt Marzelline auf, deckt den Tisch, setzt eine Kaffeemaschine in Betrieb. Realismus wie aus der Vorabendserie.

Der Bühnenraum, den der renommierte Architekt Stefan Braunfels gebaut hat, ist dagegen ein theatralisch überhöhtes, abstrahiertes Gefängnis von beeindruckender ästhetischer Klarheit: Vier Etagen hohe Wände zu beiden Seiten der Spielfläche, in denen sich die Zellen wie Waben öffnen. Die Herren des Chores sind den ganzen Abend dahinter zu sehen. (Nicht wenige treten leider immer von einem Bein aufs andere, schauen sich gelangweilt um oder schalten sichtbar einfach ab. Opernregisseure mit mehr Erfahrung hätten vermutlich gewusst, dass hier entweder viel mehr Probenarbeit oder viel weniger Präsenz angezeigt wäre.)

Wenn schon Filmrealismus einerseits und theatralische Überhöhung andererseits sich immer wieder stören oder gegenseitig aufheben an diesem Abend, sucht die Regisseurin mit ihren szenischen Mitteln auch noch symbolische Wirkungen, vor allem in der Lichtregie. Die Magie der Annäherung an das Licht, die Beethoven im Gefangenchor komponiert hat, mit dem Einschalten von Glühbirnen in den Zellen bebildern zu wollen, ist allerdings schlicht indiskutabel.

So überdecken Fehler im Umgang mit den ästhetischen Gesetzen des Genres Oper und dem Wechselspiel von Musik und Szene immer wieder die interpretatorischen Ansätze, die Amelie Niermeyer gesucht hat. Zum Beispiel in der Zeichnung der Titelfigur Leonore-Fidelio, bei der sehr zu Recht (und sogar mit dem Rückgriff auf ein später von Beethoven gestrichenes Duett mit Marzelline) die Problematik des Rollenspiels, der Betrug im Dienste einer höheren Wahrheit akzentuiert wird.

Der Mezzosopranistin Annette Seiltgen, seit vielen Jahren Ensemblemitglied der Rheinoper, gelingt ein sehr beeindruckendes Rollendebut. Auf dem dunklen Fundament ihrer Stimme steigert sie sich unforciert in die hochdramatische Attacke. Gut möglich, dass sich da ein Rollenwechsel anbahnt, den seit Kirsten Flagstad und Martha Mödl viele ihrer Fachkolleginnen erfolgreich vollzogen haben.

Reinstes Beethovenglück strömt an diesem Abend aus dem Orchestergraben. Die Duisburger Philharmoniker und der Dirigent Andreas Stoehr - eigentlich Experte für alte Musik - haben jede Note gewogen und gestaltet, jede Phrase konturiert und rhetorisch aufgeladen.

In einem wunderbar geschmeidigen Wechsel zwischen farblichen und dynamischen Valeurs eröffnen sie der Musik Räume, Licht- und Tiefenwirkungen, die vor den Ohren des Hörers eine grandiose Architektur entstehen lassen. In kleiner Besetzung, in einem weit nach oben gefahrenen Graben, musiziert das Orchester in einem intimen Dialog mit den Sängern, spielt aber an diesem Abend unstreitig die Hauptrolle.