"Konzept des Nationalstaats ist den Menschen eigentlich fremd"

Navid Kermani im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 09.10.2013
Am Balkan fasziniere ihn, dass so viele verschiedene Völker auf engstem Raum zusammen leben, sagt der Schriftsteller Navid Kermani. Er hofft, dass diese Völkergruppen in der Zukunft auch nationalstaatlich zusammen finden - so wie sie es kulturell immer getan haben.
Matthias Hanselmann: Navid Kermani, Schriftsteller und Islamwissenschaftler, ist soeben von einer Rundreise durch das ehemalige Jugoslawien zurückgekehrt, eingeladen hatte ihn das Belgrader Literaturfestival Krokodil, und die Reise führte ihn durch Serbien, das Kosovo und Bosnien. Jetzt ist Herr Kermani für uns in einem Studio in Köln. Willkommen beim "Radiofeuilleton"!

Navid Kermani: Guten Tag!

Hanselmann: Wie lange und mit wem waren Sie unterwegs, Herr Kermani?

Kermani: Also ich war für 15 Tage dort, es wurde ein Buch von mir übersetzt ins Serbische, das ich in verschiedenen Städten vorgestellt habe, und unterwegs war ich größtenteils alleine oder eben in den Städten auch mit Schriftstellern, die mich empfangen haben.

Hanselmann: Mit welchen Erwartungen sind Sie eigentlich losgezogen und mit welchen Gefühlen sind Sie zurückgekommen? Das ist ja alles noch ganz frisch in Ihnen sozusagen.

Kermani: Also meine letzte Reise durch den Balkan, das ist schon wirklich sehr, sehr lange her, da war ich auch noch ein Kind und bin mit den Eltern nach Iran gefahren über den Autoput, also das sind doch sehr vage Eindrücke gewesen. Danach habe ich eigentlich nur immer gelesen. Und der Balkan war insofern natürlich für mich interessant, weil es eine Region ist, in der verschiedene Völker auf engstem Raum zusammenleben, wo es ja auch zu diesen ganzen Katastrophen des Nationalismus gekommen ist, und insofern waren die Erwartungen jetzt gespannt, ob es wieder zu einer Art von Zusammenleben kommen kann, ob eventuell das europäische Projekt etwas ist, was eine Zukunft für diese verschiedenen Völker sein kann.

Hanselmann: Lassen Sie uns die Station Ihrer Reise kurz streifen. Wie gesagt, Sie waren vom Belgrader Literaturfestival eingeladen. Belgrad ist die Hauptstadt Serbiens und die größte, und erste Eindrücke haben Sie in der zweitgrößten Stadt Serbiens gesammelt, in Novi Sad. Wofür steht diese Stadt?

"Konzept des Nationalstaates passt vorne und hinten nicht"
Kermani: Ja, das ist vielleicht eine der großen multikulturellen Städte Europas, in der ganz viele verschiedene Menschen und auch Religionen zusammenleben, Christen, Juden, Muslime, Serben, Ungarn, Kroaten, früher ja auch sehr viele Deutsche, die dann aber nach dem Krieg die Stadt verlassen haben, und wo man besonders genau beobachten kann, wie dieses Konzept des Nationalstaates einfach vorne und hinten nicht mit der Realität der Menschen übereinstimmt.

Ich war unterwegs mit László Végel, einem sehr, sehr bekannten, auch im Deutschen oft übersetzten Schriftsteller, selbst ungarischstämmig, der also wie alle Ungarn enorm gelitten hat, als Serbien im Krieg war, weil sozusagen sie plötzlich nicht mehr zu diesem Serbien, zu dieser Nation gehörten, die da Krieg führte und sie unter Generalverdacht gerieten. Zugleich ist es aber auch eine Stadt, die sehr stark habsburgerisch geprägt ist und die vielleicht eine Zukunft hat in einem europäischen Kontext, das weiß man nicht, aber so wie jetzt, so das jetzige Leben dort, das scheint mit den staatlichen Gegebenheiten einfach nicht zusammenzugehen.

Hanselmann: Dieses Alte und das Neue, worin manifestiert sich das, also woran konnten Sie das beobachten?

Kermani: Na ja, das Neue ist zum Beispiel so, das gibt verschiedene Beobachtungen, also László Végel sagt immer zum Beispiel, dass die Ungarn, die jetzt während des Krieges ja sehr stark und unter Druck waren, dass es jetzt eine Art von neuer Solidarität gäbe zwischen allen Menschen der Stadt gegenüber den neuen Einwanderern. Es sind ja sehr viele Menschen aus anderen Teilen Serbiens in die serbischen Großstädte geflohen, eben auch nach Novi Sad, und jetzt, wo plötzlich die Neuankömmlinge kommen, die ja eigentlich viel fremder sind, auch für die Serben, weil sie eben Außenstehende sind. Jetzt gibt es eine Art von neuer Verbundenheit innerhalb der Stadt, das heißt, andere werden sozusagen ausgeschlossen.

Zugleich hat er mich zu vielen albanischen Geschäften geführt, wo man bis heute vermeiden muss aufgrund des Kosovo-Konflikts, sich als Albaner zu outen. Also der Kaffee ist auch kein türkischer Kaffee mehr natürlich, sondern er ist plötzlich ein hausgemachter Kaffee, weil man das Wort "türkisch" nicht mehr aussprechen darf. Also all solche kleinen Beobachtungen sieht man. Man sieht eigentlich, dass die Menschen da schon eigentlich mal viel weiter waren, als sie es heute sind.

Hanselmann: Konnten Sie auch einen Eindruck gewinnen über die serbische Literatur? Ihr serbischer Schriftstellerkollege Bora Ćosić hat es neulich in Berlin so formuliert: Die Leute lesen nichts mehr und was sie lesen, ist Mist, demnach würden sie auch den neuen Kermani nicht lesen.

Kermani: Na ja, das kann ich natürlich so nicht bestätigen, weil zu den Lesungen kommen ja nun diejenigen, die lesen. Es ist schon wahr: Man sieht auf den Straßen nicht viele Menschen, die Bücher lesen, aber das Publikum, jedenfalls bei den Lesungen – und nicht nur bei meinen Lesungen, sondern auch, wenn ich irgendwo unterwegs war –, das war schon da und das war auch voll, die Säle waren auch voll und die Fragen waren sehr interessiert. Also da kann ich mich nicht beschweren. Auffällig ist – und das ist, glaube ich, das für uns auch Wichtigere –, ist: Je mehr die Staaten auseinandergehen, je mehr sie sich auch bekriegen zum Beispiel – es ist viel schwieriger, von Belgrad … aus Deutschland nach Kosovo zu reisen als von Belgrad nach Kosovo zu reisen, das dauert viel länger, ist umständlicher –, also je mehr die Staaten sich auseinander bewegen, desto mehr versuchen die Schriftsteller dieser Region, diese nationalen Grenzen zu ignorieren.

"Es sind die Nationen, die Grenzen hochziehen"
Also sie laden sich gegenseitig immer wieder ein, sie lesen sich, sie halten daran fest, dass sie eine gemeinsame Sprache haben. Es ist ja so, dass plötzlich diese gemeinsame Sprache … In Bosnien heißt sie Bosnisch, in Kroatien heißt sie Kroatisch, in Serbien heißt sie Serbisch – faktisch ist es immer noch die gleiche Sprache. Die Menschen können die gleichen Bücher lesen. Es sind die Nationen, die Grenzen hochziehen, und es sind die Schriftsteller, es sind die Kulturschaffenden, die versuchen, diese Grenzen zu ignorieren und an einem Gemeinsamen festzuhalten.

Hanselmann: Von Novi Sad, von Serbien führte Sie Ihre Reise dann in den Kosovo, das von der serbischen Regierung nach wie vor als deren autonome Provinz betrachtet wird. Es wird jedoch eingeräumt, dass eine serbische Souveränität praktisch nicht vorhanden sei. Was haben Sie in diesem Spannungsfeld erlebt, das sich ja auch auf religiöser Seite abspielt? Die Mehrheit der Kosovaren sind ja Muslime.

Kermani: Also vielleicht zwei Beobachtungen, das eine: Ich habe selten ein Land erlebt, das so pro-amerikanisch war wie Kosovo, weil die Kosovaren ja ihre Unabhängigkeit dem Eingreifen des Westens verdanken und speziell auch von Bill Clinton, also man sieht überall amerikanische Flaggen, sogar ein Bill-Clinton-Denkmal, ein übrigens ziemlich scheußliches Denkmal, wo man sich nicht so wohl fühlt vor dessen Anblick. Aber jedenfalls, sie sind sehr, sehr … Es gibt einen großen Enthusiasmus dort.

Aber was mich noch mehr beeindruckt hat: Ich bin dann in die serbischen Klöster gefahren, also in die ältesten serbischen Klöster überhaupt, die eine hohe nationale Bedeutung auch für Serbien haben, und durfte teilnehmen an den religiösen Ritualen. Ich habe zum ersten Mal einen vollständigen orthodoxen Gottesdienst, der sich ja über mehrere Stunden hinzieht, teilnehmen, den beobachten dürfen, mit den Mönchen ins Gespräch gekommen. Und das waren einfach großartige, auch ästhetische Erfahrungen, die den Reichtum dieser Kirche auch anschaulich machen, die zeigen, wie viel eigentlich andere religiöse Traditionen verloren haben, indem sie auf dieses ästhetische Element, indem sie dieses ästhetische Element missachten.

Diese orthodoxen, diese ganze alten, die ja noch wirklich 1500 Jahre so sind, wie sie waren, wo jede Bewegung, jede Geste, jeder Weihrauchduft, jedes Anmachen der Kerzen, Ausmachen, Verlöschen der Kerze – all das ist noch genau so wie vor 1000, 1500 Jahren. Das ist ein großes Konzert, ein großes Orchester. Und die Mönche sagen selbst, auch wenn Sie vielleicht von den Serben national vereinnahmt werden, aber ihre Berufung, sagen sie, ist gar nicht so sehr jetzt, etwas für Serbien zu tun, sondern ihre Berufung ist, an diesen Ritualen, … diesen Gottesdienst zu bewahren, denn er ist nur in einem mönchischen Kontext vorstellbar, weil es reicht dafür nicht, einmal die Woche in die Kirche zu gehen.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Schriftsteller Navid Kermani über seine Reise durch drei Länder des ehemaligen Jugoslawien. Herr Kermani, Vertreibungen, Deportationen, Belagerung, Vernichtung von Städten und Kulturgütern, Morde und Gewaltanwendung haben sich auf dem Balkan während und nach dem Zerfall Jugoslawiens abgespielt; im Verlauf dieser Kriege zwischen den Ländern und Völkern wurden alle in unterschiedlichem Ausmaße zu Opfern oder Tätern – und dann führte Sie jetzt Ihre Reise nach Srebrenica im Osten von Bosnien und Herzegowina, eine Stadt, die dies alles besonders symbolisiert: Das Massaker von Srebrenica, bei dem rund 8000 Bosniaken, fast ausschließlich Männer und Jungen, von den serbischen Verbänden ermordet wurden, gilt als Völkermord. Wie konnten Sie sich heute, fast 20 Jahre danach, dieser Stadt nähern, räumlich und gefühlsmäßig?

"Menschen möchten nicht, dass man nach Srebrenica geht"
Kermani: Räumlich ist das relativ einfach. Man überschreitet die Grenze und fährt eben rein. Es gibt ja jetzt keine Barrieren oder so was. Gefühlsmäßig ist das schon schwieriger. Man ist in einem größtenteils serbischen Umfeld, also wenn man schon nach dem Weg fragt, wird man scheel angeguckt, weil die Menschen natürlich nicht gerne möchten, dass man da hingeht, und dann die Gedenkstätte selbst, wo noch Angehörige der Opfer dort sind, die einen noch herumführen, also Menschen, die das Massaker überlebt haben, die auch eigene Berichte geben, also wie es damals war, wie es geschah, wie sie selbst fliehen konnten.

Und dann kommt man auf dieses riesige Gräberfeld, es sind ja über 6000 Leichen schon gefunden, identifiziert und dann auch begraben worden, 6000 oder 6500. Das ist riesig. Das sind ja nicht 6500 Menschen, die zusammenstehen, dicht gedrängt, sondern da hat ja jedes Grab seinen Platz, seine zwei Meter mal ein Meter vielleicht Platz, sodass sich das wirklich hinzieht. Und man geht da lang und das ist wirklich ein anderer Eindruck als bei jeder Gedenkstätte, die ich jetzt je gesehen habe, weil man wirklich meint, die Gespenster reden zu hören.

Also man ist da sehr, sehr alleine, es hat nicht viele Besucher, und man geht durch diese weißen Stehlen, diese Gräber, die alle gleich aussehen, man sieht die Familiennamen, oft 20, 30 Familiennamen, die gleichen, also offenbar ein ganzes Dorf zum Teil, ganze Familien, die massakriert worden sind. Und man fragt sich natürlich schon: Wieso ist eigentlich dieses Srebrenica nicht so in der öffentlichen Wahrnehmung in Europa, obwohl es ja eigentlich auch zu den großen europäischen Wegmarken gehört leider?

Hanselmann: Aus Zeitgründen nenne ich nur noch die letzte Station Ihrer Reise, das war ganz in der Nähe, die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, Sarajevo. Aber abschließend die Frage: Sie als Islamwissenschaftler, Orientalist, als Schriftsteller, der sich viel mit Fragen der Religion beschäftigt in seinen Büchern, Fragen der Moral auch – was hat diese Reise durch ex-jugoslawische Länder am meisten bei Ihnen bewegt?

Kermani: Sie hat mir die natürliche Vielfalt vor Augen geführt, dass eben das Konzept des Nationalstaats, der einer homogenen Gesellschaft etwas eigentlich ja den Menschen Fremdes ist, … Die Menschen können eigentlich, so, wie sie aufgewachsen, wie sie gelebt haben, viel eher mit Selbstverständlichkeit mit Unterschieden umgehen, als es ihnen von den Ideologien gepredigt wird. Die religiösen Menschen zum Beispiel haben selten ein Problem miteinander, die jungen Menschen auch nicht, die Schriftsteller auch nicht. Und diese Normalität der Vielfalt festzuhalten, das ist, glaube ich, die Aufgabe, die uns das ehemalige Jugoslawien gibt und die wir natürlich auch im eigenen Umfeld fortführen müssen.

Hanselmann: Navid Kermadi war auf Reisen im ehemaligen Jugoslawien und hat uns davon berichtet. Vielen herzlichen Dank, Herr Kermani, nach Köln!

Kermani: Bitte schön!

Hanselmann: Tschüss!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.