"Konservative Politiker reden so, als würden die noch bomben"

Michael Sontheimer im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 14.05.2010
Die Studentenbewegung habe gesehen, dass der Weg der RAF "absolut falsch" sei. Dass die Repression gegen die radikale Linke insgesamt durch die RAF-Taten gerechtfertigt wurde, habe sie "sehr sauer gemacht", sagt Michael Sontheimer, Journalist und Autor des Buches "Natürlich kann geschossen werden".
Klaus Pokatzky: Heute vor 40 Jahren begann das, was als Krieg gegen den westdeutschen Staat bezeichnet wird. Am 14. Mai 1970 wurde Andreas Baader, der Kaufhausbrandstifter, aus der Untersuchungshaft befreit. Die Journalistin Ulrike Meinhof war dabei und ging in den Untergrund. So begann die Geschichte jener Terrororganisation, die sich selbst als Rote Armee Fraktion bezeichnete und in der Öffentlichkeit Baader-Meinhof-Gruppe oder Bader-Meinhof-Bande genannt wurde. Pünktlich zu diesem Jahrestag hat der Journalist Michael Sontheimer ein Buch veröffentlicht, "Natürlich kann geschossen werden", eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion. Michael Sontheimer ist Redakteur im Berliner Büro des "Spiegel", er gehörte Ende der 70er-Jahre zu den Gründern der Tageszeitung "taz" und war in den 80er-Jahren Redakteur bei der "Zeit" in Hamburg. Willkommen im Studio, Michael Sontheimer!

Michael Sontheimer: Guten Tag!

Pokatzky: Insgesamt 15 ehemalige Terroristen haben mittlerweile autobiographische Texte veröffentlicht. Die Standardwerke zur Geschichte der RAF haben enzyklopädische Ausmaße angenommen, schreiben Sie in Ihrem Vorwort zu Ihrem Buch, also die Standardwerke unserer Journalistenkollegen Stefan Aust, Butz Peters, Willi Winkler mit einer Seitenzahl zwischen mindestens 528 und höchstens 896. Ihr Buch kommt vergleichsweise schmal daher mit 224 Seiten – warum brauchen wir Ihr Buch überhaupt noch?

Sontheimer: Es gibt ja jüngere Menschen, die das Internet schätzen und nicht gerne 800, 900 Seiten lesen. Ich hatte da immer meinen bald 17-jährigen Sohn vor Augen, der zwar auch Bücher liest, aber keine solchen Wälzer. Und aus der Distanz (die RAF trat ja zum ersten Mal vor 40 Jahren in Erscheinung) kann man ja auch Wichtigeres von Unwichtigerem mittlerweile trennen. Mir ging es also darum, die wichtigsten Handlungsstränge zu beschreiben, aber auch Dinge zusammenzufassen, durchaus auch mal zu werten und zu analysieren und nicht akribisch jede Kleinigkeit da aufzuschreiben, die in diesem Zusammenhang vorgekommen ist.

Pokatzky: Hat Ihr 17-jähriger Sohn Leon denn das Buch dann auch gelesen und wenn ja, was sagt ihm denn überhaupt die RAF?

Sontheimer: Na er hat das Manuskript gelesen und hat mich auf die Dinge aufmerksam gemacht, die er nicht so weiteres versteht und wo ich zu viel voraussetze, das war sehr lehrreich und hilfreich.

Pokatzky: Was war das zum Beispiel?

Sontheimer: Na bestimmte Fremdworte oder wenn ich bestimmte Personen nicht erklärt habe oder Abkürzungen. Aber wichtiger eigentlich ist, dass bei ihm natürlich auch so diese Faszination so Bonnie and Clyde, das war doch cool und so und wie die damals aussahen, so mit Sonnenbrillen, Baader, das war doch cool –, er aber dann doch verstanden hat, dass das eine sehr brutale Gruppe war, die eben aus, um eine Moral zu vollstrecken, zu absolut amoralischen Mitteln letztlich gegriffen hat. Also von daher glaube ich hat er ein bisschen was da gelernt und das ist ja schön, so soll es ja sein.

Pokatzky: Wenn wir mal diesen Menschen, die Sonnenbrillen oder die Perücken, die sie teilweise getragen haben, abnehmen, was waren das für Typen?

Sontheimer: Das waren in jedem Fall relativ außergewöhnliche Menschen, denn so unsereiner, wir würden ja auch nicht unser Leben so einfach aufs Spiel setzen, wir würden ja nicht uns bewaffnen, was ja immer bedeutet, dass wir vielleicht diese Waffe benutzen oder dass auch gegen uns Waffen benutzt werden und der Gegner ist viel, viel stärker.

Pokatzky: Ja da könnte ich jetzt sagen, weil wir vielleicht normal sind, weil wir nicht krank sind?

Sontheimer: Nein, krank, ich würde das nicht gleich so als Pathologie beschreiben, sondern das waren eben Leute … Nehmen wir Gudrun Ensslin, eine Pfarrerstochter, die es nicht ertragen hat, dass in Vietnam Kinder mit Napalm umgebracht werden, und zwar nicht ein Kind oder zwei Kinder, sondern Tausende von Kindern, über Jahre. Die gesagt haben, sich auf Martin Luther berufen hat und gesagt hat, wenn so etwas passiert, wird man schuldig, wenn man nicht handelt. Sozusagen, sie sollten die erste Generation der RAF wollte den Vietnamkrieg stoppen und …

Pokatzky: Also hier schieße ich, ich kann nicht anders.

Sontheimer: Genau. Und das ist eine Haltung, die muss man natürlich kritisieren, die ist gerade in einem demokratischen Land wie der Bundesregierung, bei aller Kritik, die man Demokratie haben kann, kann man nicht mit Gewalt die Verhältnisse ändern wollen. Und es ist auch völlig unrealistisch, wie die RAF gezeigt hat, dass man das mit Gewalt verhindern will. Aber dass das gewöhnliche Kriminelle sind oder Irre – Irre vielleicht schon, aber es sind keine gewöhnlichen Kriminellen, wie die Politiker immer gesagt haben, das ist natürlich falsch.

Pokatzky: Sie haben mit vielen von ihnen gesprochen. Haben die damals damit gerechnet, wozu das führen würde, dass ja, wie Sie mehrfach in Ihrem Buch schreiben, die Bundesregierung mit den RAF-Aktivitäten ja fast an den Rand des Staatsnotstandes gekommen ist – haben die mit dieser Dynamik auch gerechnet?

Sontheimer: Am Anfang gar nicht. Die haben verdrängt, wie gefährlich das ist, die haben verdrängt, dass im Grunde der Ausgang aus der RAF Friedhof oder lebenslanges Gefängnis heißt; aber die zweite Generation, die dann im Herbst 77, im sogenannten, mit der Ermordung von dem Generalbundesanwalt Buback oder aber auch der Entführung von Schleyer losgelegt haben, die wussten natürlich, was los ist. Damals saßen schon ihre Genossen im Gefängnis, die sie da rausholen wollten, das heißt die sind mit einer ganz anderen Härte losmarschiert. Und die dritte Generation, die sogenannte, die also diese ganzen unaufgeklärten Morde begangen hat, Herrn Herrhausen, Herrn Rohwedder, die waren sehr kühle Killer.

Pokatzky: Wie konnte es denn überhaupt zu dieser Spirale der Gewalt kommen? 1972 sind ja die führenden Köpfe der RAF festgenommen worden, wie konnte das dann trotzdem noch so weitergehen?

Sontheimer: Na die haben es geschickt verstanden, die dann inhaftierten RAF-Leute, allen voran Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, die ja zum Teil auch brillant schreiben konnten und kluge Köpfe waren, die haben es geschickt verstanden, unter dem Stichwort Isolationshaften, dass sie im Gefängnis ermordet werden, dann Sympathie auch bei den Linksliberalen bis hin zu Heinrich Böll zu erzeugen, die gegen die Haftbedingungen …

Pokatzky: Der vom Krieg der sechs gegen die sechs Millionen geschrieben hat …

Sontheimer: … die sechs Millionen, der natürlich überhaupt nicht für die RAF war, aber dessen Wochenendhaus dann irgendwie mit Maschinenpistolen im Rheinland und Dutzenden von Polizisten durchsucht wurde, weil er als Sympathisant galt – also diese Konfrontation wollten die RAF-Leute durchaus und man muss sagen, der Staat, die Polizei, die Justiz waren nicht darauf vorbereitet, die haben überreagiert. Die haben, die Politiker, die führenden, waren natürlich auch existentiell mit dem Leben bedroht. Und von daher haben die eine Sonderbehandlung bekommen mit diesem Gefängnis in Stammheim, mit diesem …

Pokatzky: Isolationshaft.

Sontheimer: Ja, die es durchaus gab bei Ulrike Meinhof und Astrid Proll, und dann dieses Gerichtsgebäude. Und gleichzeitig wurde immer gesagt, das sind ganz normale Kriminelle. Und diese, sozusagen diese Ambivalenz also diese Lüge, die hatte natürlich kurze Beine und die hat sich die RAF auch zunutze gemacht.

Pokatzky: Im "Radiofeuilleton" zu Gast der Journalist Michael Sontheimer, der gerade das Buch veröffentlicht hat "Natürlich kann geschossen werden", eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion. Michael Sontheimer, Sie sind Jahrgang 1955. Gibt es im Verlauf dieser 22 Jahre RAF-Terror für Sie auch so ein Schlüsseldatum, was sich bei Ihnen so eingeprägt hat und was Sie nicht mehr vergessen, vielleicht auch, was Sie an dem Tag gemacht haben?

Sontheimer: Ich werde nie mehr vergessen den Morgen des 18. Oktober, als …

Pokatzky: 1977?

Sontheimer: 1977, als in Stammheim tot in ihren Zellen gefunden wurden Andreas Baader, Gudrun Ensslin und der sterbende Jan-Carl Raspe. Das war ja so wie eine griechische Tragödie im Grunde dann, da war dieses Flugzeug, die "Landshut" entführt worden, das wurde glücklich, die Geiseln wurden glücklich befreit von der GSG 9, dann brachten (Anm. d. Red.: Auslassung, da schwer verständlich) und dann wurde noch Schleyer umgebracht, das war also im Grunde, und da weiß ich noch genau, wie ich vor der Händlerschürze meines Zeitungskiosks stand und irgendwie fassungslos war und erschüttert und das mich wirklich mitgenommen hat.

Pokatzky: Sie haben dann ja später die Tageszeitung "taz" als linksalternatives Medium mitbegründet. Hat diese Gründung auch irgendetwas damit zu tun gehabt, wie damals die Medien berichtet haben auch über die RAF und wie Häftlinge meinetwegen behandelt wurden?

Sontheimer: Ganz wesentlich. Also ich kann mich noch erinnern, die ersten Diskussionen in der linksradikalen Szene über die Gründung einer eigenen Tageszeitung fanden statt Ende 1977. Damals hatte man die freiwillige Nachrichtensperre, der sich die westdeutschen Journalisten von Funk, Fernsehen und Presse unterworfen hatten, noch gut in Erinnerung. Und ein Argument dafür, dass wir eine linke Tageszeitung, eine unabhängige, brauchen, war immer, dass wir gesagt haben, wir unterwerfen uns nicht einer solchen Nachrichtensperre. Also von daher hängt das durchaus miteinander zusammen. Auf der anderen Seite haben wir auch damals gesehen, dass dieser Krieg, den die RAF vom Zaun bricht, diese Konfrontation mit dem Staat nirgendwo hinführt, und wir haben gesagt, wir bauen Alternativen auf, wir bauen eine alternative Zeitung auf, wir bauen eine alternative Gesellschaft auf.

Pokatzky: Die RAF begann ausgerechnet in der Phase der Bundesrepublik Deutschland, wo durch die sozialliberale Koalition Altverkrustetes aufgebrochen wurde. Also Willy Brandt mit mehr Demokratie wagen. Hat dieser Terror das behindert oder vielleicht teilweise sogar blockiert?

Sontheimer: Nein, da würde man die RAF überschätzen, und man muss auch sehen – ich habe vor ein paar Tagen ein Film über den Weather Underground, das war ein sozusagen die RAF in den USA, gesehen. Es gab die Roten Brigaden in Italien, es gab die Rote Armee in Japan. Es war damals im Zuge der Studentenbewegung, die radikalsten Teile, die nicht sehen wollten, dass ihre Rebellionen gescheitert waren, haben dann bewaffneten Kampf gemacht. Das war eine internationale Entwicklung. Von daher ist auch zwar die RAF sehr deutsch, weil sie immer weitergemacht hat und 28 Jahre und nie aufhören wollte wie so Stalingradkämpfer, aber sie war Teil eines internationalen Prozesses.

Pokatzky: Welches "Ansehen", in Anführungsstrichen, hatten sie denn überhaupt, welches Image in der Studentenbewegung?

Sontheimer: Als arrogante Marxisten, Leninisten, die Lebens- und Arbeitsbedingung der sogenannten legalen Linken, von uns, sehr erschwert haben. Denn plötzlich gab es diese Razzien, 129a, Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, also die Repression gegen die Linke, insgesamt gegen die radikale Linke wurde ja gerechtfertigt durch die RAF, und das hat einen sauer gemacht. Ich fand die RAF von Anfang an das Allerletzte.

Pokatzky: Ist am Ende die Bundesrepublik, wenn wir jetzt eine Bilanz mal ziehen, ist am Ende die Bundesrepublik dadurch nicht auch an sich selber gewachsen? Hat sich der Rechtsstaat unter dem Strich nicht bewahrt, hat die Bundesrepublik sich bewährt? Ich denke da an den Zeitungsartikel, den Golo Mann, der Historiker Golo Mann damals geschrieben hat, auf dem Höhepunkt der Schleyer-Entführung, wo ja er die Möglichkeit ins Spiel gebracht hat, inhaftierte Terroristen hinzurichten …

Sontheimer: Als Geiseln zu erschießen, richtig.

Pokatzky: Ich finde nicht, dass die Bundesrepublik so souverän mit dem Terrorismus, Polizei und Justiz, umgegangen sind. Der positive Effekt ist glaube ich folgender, dass die radikale Linke, dass die gesehen hat, dieser Weg der RAF in Westeuropa, in (Anm. d. Red.: Auslassung, da schwer verständlich), ist absolut falsch. Und die haben dann zum Beispiel die Grünen gegründet als politisches Projekt und haben sich in diese Bundesrepublik integriert und haben ihren Frieden mit dieser Bundesrepublik und sind sozusagen zu Menschen geworden, die positive Beiträge geleistet haben.

Sontheimer: Der letzte Satz in Ihrem Buch lautet, die Rote Armee Fraktion existiert nicht mehr, aber sie ist noch da. Wo ist sie denn?

Pokatzky: Also sie spukt da rum. Man kann sehen, immer wenn über das Thema geredet wird, wird es ganz schnell emotional und hysterisch, da, konservative Politiker reden so, als würden die noch bomben … Die Linken spalten sich, ob es nun irgendwie nicht doch irgendwie vielleicht berechtigt war oder ob die RAF… also es ist ein sehr emotional besetztes Thema. Und es gibt noch keinen Konsens darüber, warum sie überhaupt entstanden ist und es ist auch so, dass die ganzen Taten ja nicht aufgeklärt sind. Und das werden die Übriggebliebenen, die Mehrheit der ehemaligen RAF-Leute, die die RAF richtig finden, auch zu verhindern wissen, indem sie weiter schweigen.

Sontheimer: Danke, Michael Sontheimer, Ihr Buch "Natürlich kann geschossen werden. Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion" ist erschienen als "Spiegel"-Buch bei der Deutschen Verlags-Anstalt mit 224 Seiten, es kostet 19,95 Euro.
Cover: "Natürlich kann geschossen werden. Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion“
Cover: "Natürlich kann geschossen werden. Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion“© Deutsche Verlagsanstalt