Konservatismus und Freiheitssinn

Rezensiert von Gustav Seibt · 20.03.2006
Englischer geht es kaum: Konservatismus und Freiheitssinn lassen sich in Gilbert Keith Chestertons neu erscheinenden Buch "Die Wildnis des häuslichen Lebens" nicht trennen. Dieser glanzvoll übersetzte, klug ausgewählte Band ist die beste denkbare Einführung in das verzweigte, schwer überschaubare Werk eines der bedeutendsten Schriftsteller Europas.
Als Schriftsteller, aber auch als Denker hat sich Gilbert Keith Chesterton, Englands größter Essayist, eine einzige einfach große Aufgabe gestellt: Er will die Welt anschauen wie am ersten Tag. Er möchte sie sehen und für seine Leser sichtbar machen in ihrer ganzen konkreten Verwunderlichkeit, und so lässt er uns darüber staunen, dass Gras grün ist (und nicht etwa blau oder rot), dass Bäume sich in Ästen verzweigen, dass Menschen zwei Beine haben.

Für Chesterton steht fest, "dass die Phantasie nicht die Aufgabe hat, ferne Dinge wahr werden, sondern wahre Dinge wieder fern erscheinen zu lassen". Das ist zunächst eine poetische Anstrengung: Darum macht Chesterton sich stark für die Detektiv-Geschichte, die die Romantik des modernen Großstadtlebens vorführt; oder für die Romane Walter Scotts, deren Romantizismus nicht in hektischer Abenteuerlichkeit, sondern im langsamen Auspinseln konkreter Situationen bestehe. Und natürlich ist das Staunen über das nahe liegende Chestertons eigenes dichterisches Prinzip.

Aus einfachen Dingen macht er großartige Bilder. So beschreibt er die Hügel des englischen Landes:

"Ich kroch langsam über diese kolossalen Konturen, in denen sich Englands beste Eigenschaft ausdrückt, weil sie gleichzeitig weich und kraftvoll sind. Ihre ebenmäßige Glätte ist bedeutungsvoll wie die Glätte der großen Karrengäule oder die Glätte des Buchenstammes: Sie verkündet, dass die Mächtigen erbarmungsvoll sind. Wie mein Auge über die Landschaft schweifte, war sie so freundlich wie nur irgendeines ihrer kleinen Häuser, aber ihre Kraft war wie die eines Erdbebens."

Man sieht: Hier schreibt ein politischer Autor. Chestertons Staunen vor dem Einfachen mündet in eine Theorie der Demokratie. Diese nämlich nehme Politik als alltäglichen Gegenstand einfacher Menschen, nicht als Praxis für Spezialisten. Darum gehören Demokratie und Tradition zusammen:

"Alle Demokraten sind dagegen, dass man irgendwelche Menschen wegen des Zufalls ihrer Geburt von etwas ausschließt – die Tradition lehnt es ab, sie wegen der Zufälligkeit ihres Todes auszuschließen."

Denn sie will die Toten bei ihren Beratungen dabei haben: "Tradition ist die Demokratie der Toten." Auch für Liebe und Ehe hat Chestertons Glaube ans Elementare ihre Folgen:

"Ich konnte nie in das allgemeine empörte Gemurmel meiner heranwachsenden Generation wider die Monogamie einstimmen, da mir keine erdenkliche Beschränkung des Sexus so seltsam und verblüffend erschien wie die Geschlechtlichkeit selbst. Sich an eine einzige Frau zu halten, ist ein kleiner Preis für etwas so Großes wie den Anblick einer einzigen Frau. Sich zu beklagen, dass ich nur einmal heiraten durfte, das war mir, als führte ich Klage, weil ich nur einmal geboren war."

Und darum ist auch das häusliche Leben für Chesterton alles andere als langweilig, vielmehr ist es ein einziges Abenteuer, ja eine Wildnis: Im Zuhause ist man frei – es ist, jedenfalls für die normalen armen Leute, die dieser Menschenfreund im Blick hat, "der einzige wilde Ort in der Welt der Regeln und Pflichten".

Chesterton entwickelt mit seinem frommen, schöpferischen Staunen vor der elementaren Tatsächlichkeit der Welt eine Doktrin, die Demokratie, Tradition und Liberalismus aus der katholischen Ehrfurcht vor dem einfachen Menschsein entwickelt.

Englischer geht es kaum: Konservatismus und Freiheitssinn lassen sich hier nicht trennen. Dieser glanzvoll übersetzte, klug ausgewählte Band – seine Themen reichen vom Zauber arkadischer Porzellanfiguren bis zu den Problemen des Strafvollzuges - ist die beste denkbare Einführung in das verzweigte, schwer überschaubare Werk eines der bedeutendsten Schriftsteller Europas.


Gilbert Keith Chesterton, Die Wildnis des häuslichen Lebens.
Mit einer Einleitung von Norbert Miller.
Aus dem Englischen und mit einer Nachbemerkung von Joachim Kalka.
Berenberg Verlag, Berlin 2006.
160 Seiten, 19,00 Euro.