Konsensdemokratie

Von Josef Schmid · 27.08.2006
Die Konsensdemokratie wurde im westlichen Nachkriegsdeutschland erfunden. Damit konnte demonstriert werden, dass die politische Zerrissenheit der Weimarer Zeit überwunden und ein funktionsfähiges politisches System gefunden war. In Zeiten des Kalten Krieges wäre auch nichts anderes möglich gewesen.
Als Karl Schiller, SPD, Wirtschaftsminister und Franz-Josef Strauß, CSU, Finanzminister einer großen Koalition waren, erlebte Westdeutschland den letzten großen Wirtschaftsboom: Handlungsschwäche war noch nicht zum politischen Stil geworden.

Doch mit der Zeit wird aus der besten Erfindung eine alte Chaise, ein Klapperkasten, an dessen Geräusch man sich gewöhnt, ohne noch viel davon zu erwarten. Große Koalitionen sind inzwischen Konsensfabriken und verdoppeln das Übel, woran unser inzwischen eingespielter Demokratietypus krankt: vor Massenmedien und Massenpsychologie werden die Massen selbst vergessen.

Nicht nur das demokratische Massenpublikum beginnt zu leiden. Das Leiden schlägt zurück auf die Träger der Meinungsbildung selbst: die Parteien. Ihnen wird ein Zustand bescheinigt, der einem seelenärztlichen Bulletin gleicht. Von einem Stimmungstief ist die Rede, das von einem gleichzeitigem Umfragetief herrühren soll. Von Profilneurose hören wir und vermuten, woher sie stammt: sicher wurde wieder so sehr in den Ansichten des politischen Gegners gewildert, dass die eigenen nicht mehr erkennbar sind.

Von der Profilneurose führt ein direkter Weg zum Bedürfnis nach Identität, nach Zeichen der Wiedererkennung, nach einem unmissverständlichen Logo. Das wird seine Wirkung aber nur dann tun, wenn gegen seine Inhalte nicht fortwährend verstoßen wird. Verführungen gibt es genug. Am Hauptkriegsschauplatz steht der heiße Brei, um den herumgeschlichen wird, herrscht ein richtungsloses Hin und Her. Um den Profilverlust im endlosen Konsens- und Kompromissgeschäft wettzumachen, sind die Meinungsbildner auf Nebenkriegsschauplätze verwiesen und nutzen sie für Beschwörungen ihrer Ohnmacht, so etwa recht symbolträchtig gegenüber dem globalisierten Kapitalismus. - Wie ergeht es eigentlich der Kanzlerpartei, der CDU? Wie beispielhaft agiert sie in einem solchen Szenario?

Hier geht es um die Diskrepanz zwischen dem Darstellungsbedürfnis des Führungspersonals und dem Bedürfnis nach bürgerlich-konservativem Lebenszuschnitt der Wählerschaft. Sie peilt eine solide Lebensplanung an und kann sich nicht abfinden mit einem Dasein als Wechselbalg zwischen bisschen Maloche und bisschen Mallorca.

Die Stammkundschaft der CDU sind die Erwerbstätigen, die ihre Kinder wie selbstverständlich aufs Gymnasium schicken. Da gibt es einige fließende Ränder, aber das ist es. Diese Spezies gehört sorgsam vermehrt und gehütet und nicht drangsaliert mit einem Antidiskriminierungsgesetz, jener Beißzange aus der Folterkammer des politischen Gegners: Kein Bewerbungsgespräch mehr ohne Anwalt, Absagen erfolgen ohne Begründung, denn jedes Wort wäre zuviel.

Dass mit Tugendgesetzen keine tugendhafte Gesellschaft entsteht, sondern nur der allgemeine Verhetzungspegel steigt, müsste eine bürgerliche Partei am besten wissen und sich solchen versperren, anstatt sie durchs Parlament durchzuwinken.

Zwei Prinzipien kennzeichnen konservative Politik. Erstens hat sich eine Neuerung gegenüber dem Altbewährten zu beweisen und nicht umgekehrt: die Neuerung genießt nicht automatischen Vorrang. Die Musterbereiche wäre hier Staatsbürgerschaftsgesetz und Einwanderung. Zweitens werden Gesetze der Realität entnommen und als Korrektur der Realität wieder eingefügt. Auf keinen Fall werden philosophische Prinzipien, also Schreibtischprodukte, der gesellschaftlichen Realität äußerlich aufgezwungen, wie Verfassungspatriotismus, Multikultur und nationalitätsferne Gesinnung.

Umso verwunderlicher ist es, wenn eine bürgerliche Partei vor moralisierendem Wohlklang in die Knie geht und sich von intellektuellen Weltanschauungsattacken einschüchtern lässt. Wenn die Bürgerlichen wirklich auf Profil aus sind, ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Verlässlichkeit bieten wollen, dann sollen sie endlich hier einmal innergesellschaftliche Schlagbäume errichten.

Die bürgerliche Partei verschwindet wieder auf der Oppositionsbank, wenn sie nicht mehr ist als erfolgloser Erfüllungsgehilfe für sozialpolitisches Flickwerk, und wenn sie der geistigen Auseinandersetzung um die eigenen Positionen auf unselige Weise ausweicht, indem sie die übliche Verächtlichmachung des Konservativen und Nationalliberalen stillschweigend duldet, indem sie Inhalt und Richtung dessen, was Modernisierung heißt, vom politischen Gegner übernimmt, und indem sie Linksabweichlern in den eigenen Reihen ungeniert das Wort überlässt, um sich damit trügerische Ruhe zu erkaufen.

Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit 1980 ist Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, Kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen u.a.: Einführung in die Bevölkerungssoziologie (1976); Bevölkerung und soziale Entwicklung (1984); Das verlorene Gleichgewicht – eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000). In "Die Moralgesellschaft – Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.
Josef Schmid
Josef Schmid© Maurer-Hörsch