Konflikte

Wie wir richtig streiten

29:28 Minuten
Illustration eines streitenden Paares, Mann und Frau, ihre Köpfe sind Megafone.
"Liebe macht eben verletzlich, und diese Verletzlichkeit spielt einfach eine ganz große Rolle", sagt Psychologe Ragnar Beer. © Getty / Digital Vision Vectors
Von Susanne Billig und Petra Geist  · 15.07.2021
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Du bist schuld! Nein, du! Ob Paare, Eltern und Kinder oder Freunde – täglich haben Menschen Probleme miteinander und zoffen sich. Aber warum streitet man sich überhaupt und wie können Konflikte konstruktiv gelöst werden?
"So, Petra, wir machen jetzt hier ein Stück über das Streiten und wir sind befreundet seit wie viel Jahren?"
"36 Jahre", sagt Petra.
"Findest du, wir streiten uns viel oder streiten wir uns eher wenig?"
"Es ist das natürlichste der Welt, dass die Interessen nicht immer gleich sind und dass man sich manchmal über Dinge aufregt, über Eigenschaften aufregt. Was ich wichtig finde bei unseren Streitereien, ist einfach, das geht mal hoch und dann ist auch wieder gut."
"Auch wenn ich manchmal denke, wir könnten ein bisschen seltener streiten, aber das liegt auch an mir, weil ich, glaube ich, ein bisschen zickiger bin als du, oder?"
"Das würde ich so nicht sagen. Ich ertrage Dinge manchmal länger, aber wenn ich das Gefühl habe, ich bin genug gereizt worden, bin ich vielleicht diejenige, die eher an die Decke geht."


Konflikte sind Teil allen menschlichen Zusammenlebens, wo immer es Beziehung gibt, gibt es auch Streit. Nur zwischen einem halben und zweieinhalb Prozent der Bevölkerung gelten als Querulanten im psychiatrischen Sinne. Doch auch im großen Rest der Bevölkerung kann jedes Gespräch plötzlich zu einem Missverständnis führen oder heftige Differenzen zutage treten lassen. Denn Menschen haben unterschiedliche Perspektiven, Werte, Biografien. Auch wer innige Beziehungen eingeht – in der Liebe, zu Kindern, Eltern, Freundinnen und Freunden – bleibt ein Individuum mit persönlichen Ecken und Kanten.

Das Feature ist eine Wiederholung der Sendung vom 27.8.2020.

In einer Onlinestudie fragte das Institut "myMarktforschung" rund tausend Menschen in Deutschland zwischen 18 und 70 Jahren, mit wie vielen Menschen sie regelmäßig Konflikte austragen.

"Zwei Drittel streiten sich mit zwei Gegenspielern in ihrem Umfeld regelmäßig. Ein Viertel streitet sich regelmäßig mit drei bis fünf Personen. Sechs Prozent stehen im ständigen Konflikt mit sechs bis 20 Personen."

Gerade in Liebesbeziehungen fliegen die Fetzen. Wie oft genau, ermittelte eine Studie der Onlinedating-Plattform "Parship" gemeinsam mit dem Marktforschungsinstitut "Innofact".

"Liebe macht verletzlich"

"42 Prozent der Paare streiten sich ein- bis zweimal im Monat, elf Prozent mehrmals die Woche und fünf Prozent sogar mehrmals täglich. 29 Prozent streiten nicht, sondern schweigen sich an."
"Liebe macht eben verletzlich, und diese Verletzlichkeit spielt einfach eine ganz große Rolle", sagt Ragnar Beer. Der Psychologe betreibt "Theratalk", eine Online-Beratungsstelle für Paartherapie, die an das Psychologische Institut der Universität Göttingen angegliedert ist.
"Das ist also noch mal was anderes, als wenn jemand zum Beispiel bei der Arbeit besonders gut mit Problemen umgehen kann. Und das ist auch, was ich als Therapeut regelmäßig von den teilnehmenden Paaren und Partnern berichtet kriege, dass sie sagen: Oh Mann, bei der Arbeit geht das so gut, aber zu Hause schaffe ich's nicht."
Langfristig lässt Beziehungsstress den Blutdruck steigen. Kurzfristig zeigt der Körper die typische Stressreaktion. Adrenalin und Cortisol schießen hoch, dazu kommen zwei dominante Emotionen: Angst und Wut.
"Wir als Therapeuten drücken das oft so aus, dass die Wut die Angst schützt. Dass also die Wut sozusagen über die Angst drübergelegt wird, um nicht so verletzlich zu sein. Und man geht eben in den aggressiven Modus, in den Angriffsmodus, um einfach sich selbst davor zu schützen – vor einem Verlust oder von dem drohenden Verlust, der mit Angst verbunden ist."
Der typische Tunnelblick entsteht: Immer enger fokussieren sich die Streitenden auf die Ursache ihrer Empörung und je weniger sie wahrnehmen, was es sonst noch wahrzunehmen gäbe, umso aufgebrachter werden sie.

"Wenn ich in einem Streit bin und ich kriege diesen Tunnelblick, dann ist da von Angst keine Spur. Dann bin ich wirklich, wirklich sauer."
Susanne: "Bei mir ist es eher so, dass mein Wütend-Sein sich dann entzündet, wenn ich wahnsinnig empört bin, dass ein berechtigtes Interesse von mir, ein berechtigter Punkt von mir jetzt hier einfach mal übersehen wird oder dass ich einfach so nachlässig behandelt werde – Wut kommt aus Empörung."
"Ja, das ist bei mir tatsächlich auch eher so, dass ich das als absolute Frechheit empfinde."

In den Familien geht es hoch her

Streitanlässe im Nahfeld gibt es zuhauf. Kinder räumen ihr Zimmer nicht auf, putzen sich nicht die Zähne, kommen zu spät nach Hause, kümmern sich nicht um ihre Hausaufgaben. Eltern streiten darüber, wer den Kindern, wann wie viel Betreuung zukommen lässt und ob und wie kindliche Unbotmäßigkeiten geahndet werden sollten. Paare streiten über Schwiegereltern, Alkohol- und Internetkonsum, exzessive Arbeitszeiten, zu viel, zu wenig, falschen Sex, Untreue, Haushalt, Geld. Meist nur der Anlass, sagt Paartherapeut Ragnar Beer.
"Es gibt ein Thema, was sozusagen das Ganze triggert, dass eben gerade der Müll von mir aus nicht runtergebracht wurde, aber darunterliegend ist eben die Frage: Denkst du mit? Entlastest du mich? Fühle ich mich unterstützt?"
Ragnar Beer hat schon vor Jahren eine große Onlinestudie auf den Weg gebracht, die fortlaufend weitergeführt wird und mittlerweile Daten von weit über 200.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern enthält. Sie erlauben einen Blick auf tiefer liegende Schwierigkeiten: Menschen in Partnerschaften kommen mit dem Gesprächsverhalten ihres Gegenübers nicht klar, fühlen sich übermäßig kritisiert, es fehlt ihnen an Lebendigkeit, Zärtlichkeit und Zeit füreinander in der Beziehung. "Typisch Mann", "typisch Frau" konnte der Forscher nicht beobachten.
"Die Unterschiede sind gar nicht so groß, wie man nach dem allgemeinen Klischee erwarten würde. Tatsächlich versuchen beide Geschlechter vor allem, Probleme zu lösen, indem sie konkrete Lösungsvorschläge machen. Und beide Geschlechter bemühen sich leider deutlich weniger darum, die Gefühle des anderen nachzuvollziehen, was sich aber viele vom anderen wünschen würden."

Dennoch schleicht sich oft eine Rollenverteilung ein – unabhängig vom Geschlecht.
"Was schon oft als schädlich für die Partnerschaft identifiziert wurde, dass einer den anderen sozusagen sogar verfolgt mit Problemgesprächen, während der andere abhaut."
"Ich bemerke, dass sich Dinge so etwas verhärten. Ich bemerke, dass da auch mal Worte fallen. Wir sprechen da schon etwas schärfer über einzelne Sachen…"
Angela Mickley bekleidete 22 Jahre lang die einzige deutsche Professur für Friedenserziehung, Konfliktbearbeitung und Mediation an der Fachhochschule Potsdam. In ihrer Arbeit orientiert sie sich an dem Konfliktforscher Friedrich Glasl, der 1980 ein viel beachtetes "Stufenmodell der Konflikteskalation" vorlegte. Den Worten, sagt Angela Mickley, folgen dann Taten.
"Dann stelle ich der anderen Seite den Mülleimer mal vor die Türe, dass sie merkt, müsste mal rausgebracht werden, weil das Sagen offenbar nichts gebracht hat. Jetzt sind wir bei der dritten Stufe. Vierte Stufe: Dann fange ich schon an, andere Kollegen oder Familienmitglieder einzubeziehen: ´Findest du nicht auch, dass A oder B sich da bisschen komisch verhält?` Also der soziale Raum wird erweitert und in der fünften Stufe versuche ich auch schon, den anderen vor dem Rest der Gruppe bloßzustellen: ´Natürlich, klar, sie wieder! Wussten wir ja alle!`"
In der sechsten Stufe kommen Drohungen, in der siebten wird es destruktiv.

"Also auch mal die Luft aus dem Reifen lassen, also richtig Zerstörungen zu tun. Das kann dann sehr gesteigert werden. Und dann erleben wir so von der siebten, achten Stufe ausgehend eine Verkehrung der Werte, also ein Schaden an dieser anderen Person ist für mich etwas Positives."
Grafik: Mann und Frau diskutieren mit Zahnrad-Sprechblase.
In der sechsten Stufe kommen Drohungen, in der siebten wird es destruktiv.© imago images/Ikon Images/John Holcroft

Eskalierender Streit ist an der Tagesordnung

Als Vermittlerin wurde Angela Mickley in viele Gewaltsituationen dazu geholt, unter anderem nach Nordirland. Sie weiß: Streit, der über alle Stufen eskaliert, ist in dieser Welt traurige Tagesordnung: In kriegerischen Auseinandersetzungen, vor Gericht und in Scheidungskriegen, die diese Bezeichnung nicht zufällig tragen.
"Die allerletzte Stufe ist eben, dass ich einen eigenen Verlust durchaus riskiere, wenn ich sichergehe, die andere Seite hat einen viel größeren Verlust. Also im familiären Bereich sind das Familienselbstmorde, wo meistens der Vater Frau, Kinder umbringt, dann auch sich selber umbringt. Und das ist die totale Umkehrung aller Werte, die normalerweise Menschen gut und heilig sind. ´Gemeinsam in den Abgrund` wird als Überschrift über diese Stufe genannt."
Wie sich heftiges Streiten auf das Glück in Partnerschaften auswirkt, hat der US-Psychologe John Gottman untersucht, der 1942 geborene US-Psychologe hat in empirischen Studien Tausende von Paaren in Forschungsapartments gefilmt. Ein Ergebnis: Selbst den stabilsten Paaren gelingt es nur selten, grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten durch Streiten in konstruktive Lösungen zu verwandeln. Vier Streit-Stile setzen einer Beziehung besonders zu:
"Erstens: Überzogene und unsachliche Kritik. Zweitens: Selbstrechtfertigung, ohne auf die Argumente des anderen einzugehen. Drittens: Verachtung, Sarkasmus und offene Demütigungen. Viertens: Das Mauern, also Gesprächsverweigerung, demonstratives Weghören, zum Telefon greifen, den Raum verlassen."
In einer neuen Studie konnte die Psychologin Christine Finn von der Universität Jena zeigen, dass Paare, die schon am Anfang ihrer Beziehung das Streiten anfangen, sich wohl nicht zusammenraufen werden.
"Es war wirklich so, dass die Paare, die sich getrennt haben, unzufriedener waren, von Anfang an, sich häufiger gestritten haben und auch weniger daran interessiert waren, diese Beziehung auch dauerhaft fortzuführen. Und das Interessante ist eben, dass sich das wirklich im Laufe der Zeit noch verschlechtert hat. Sie sind immer unzufriedener geworden und haben sich auch häufiger gestritten."
Paare, die vergleichsweise harmonisch in ihre Beziehung starten, wurden mit der Zeit zwar ein bisschen unglücklicher, konnten jedoch ein hohes Niveau halten. Für frisch Verliebte lohnt es sich also, ehrlich hinzugucken.
"Wie gehts mir gerade, bin ich wirklich zufrieden? Ist es das, was ich möchte? Wie häufig streiten wir uns eigentlich? Und ist das eigentlich häufiger, als es vielleicht andere tun? Oder häufiger, als ich das möchte? Obwohl unsere Partnerschaft eigentlich noch relativ frisch ist? Ich würde eben denken, dass diese Menschen wieder mehr in die Beziehung investieren müssen, um diese dauerhaft auch gut zu gestalten."

"Waren wir mal an einem Punkt, wo du gedacht hast, wir brauchen irgendwie Hilfe von außen, weil jetzt hat sich was so verklemmt, das kriegen wir alleine nicht mehr hin?"
"Nee. Das kann ich eigentlich wirklich nicht sagen."
"Kennst du Leute, die mal sich haben beraten lassen in ihrer Freundschaft oder wo du denkst: Schade, dass sie es nicht gemacht haben?"
Petra: Ja. Es gibt ja manchmal so Leute, wenn man jetzt befreundet ist, dann gibt es plötzlich Klagen von beiden. Der eine erzählt, der andere erzählt, und plötzlich denkt man, mein Gott, warum sprecht ihr nicht miteinander, warum erzählt ihr mir das? Und das wäre was, was ich Leuten auch dann mal jetzt vorschlagen würde. Sucht euch jemanden, mit dem ihr sprechen könnt, und das ist möglicherweise gar nicht eine dritte Freundin, sondern das ist vielleicht jemand, der ein bisschen professioneller ist."

Wenn Freunde die Partner ersetzen

Die Psychologin Katharina Smutny hat eine Praxis in Wien. In jeder achten Beratung sitzt ihr ein Freundschaftspaar gegenüber.
"Single sein, ist immer mehr zum Lifestyle, zum Trend geworden. Viele haben eben nicht mehr das Ziel, zu heiraten und Kinder zu kriegen, und da sollte es eben auch eine soziale Unterstützung geben. Also hier ersetzen dann die Freunde die Partnerschaft immer mehr."
Freundinnen und Freunde spenden Zeit, Zuhören, Wertschätzung, Rückenstärkung. Mit ihnen zusammen zu sein, sorgt für die Ausschüttung des Wohlfühlhormons Oxytocin, reduziert den Stresspegel, stärkt die Immunabwehr und trägt erheblich zur psychischen und physischen Gesundheit von Menschen bei. Der Effekt ist so stark, dass gute Freundschaften die Lebenserwartung nachweislich steigen lassen. Diesen Menschen zu verlieren, reißt ein riesiges Loch ins Leben.
"Man redet über alles, man baut sich gegenseitig auf, man kann den anderen jederzeit immer anrufen und dann fällt es plötzlich weg. Der Schmerz ist gefühlt sehr groß. Es ist eben ähnlich wie Liebeskummer in der Paarbeziehung, und es ist sowohl auf psychischer als auch auf körperlicher Ebene gegeben."
Während es in Partnerschaften bei Meinungsverschiedenheiten schneller mal knallt, drücken sich Menschen in Freundschaften gerne mal um die offene Aussprache. Problemleugnung durch Schweigen. Doch das funktioniert weder in Freundschaften noch in Liebesbeziehungen.
"Kommunikation ist nicht nur rein verbal, sondern es spielt sehr viel nonverbal mit. Und wenn es in mir brodelt und ich möchte es nicht aussprechen, wird sich das irgendwie äußern in der Gestik, in der Mimik, in dem Verhalten, das ich setze, und früher oder später wird es der andere auch spüren. Und das ist eben auch ein Einstieg zum Streit, der vielleicht etwas schleichender ist, als wenn man gleich konfrontiert, verbal."

Oft suchen Paare zu spät Hilfe

Typischerweise sind es Paare ab 30, die sich in eine Paartherapie begeben, meist kurz vor einer befürchteten Trennung oder aber, wenn sie Kinder haben und nicht mehr wissen, wie sie das Familienschiff gemeinsam steuern sollen. Meist suchen sie viel zu spät Hilfe, denn in einer fortgeschrittenen Eskalationsstufe sind Streitpartner auch in einer Therapie weder bereit noch in der Lage, Vertrauen in ihr Gegenüber aufzubringen. Deshalb bieten Therapeutinnen und Therapeuten den Betroffenen oft an, sich zunächst einzeln mit ihnen zu treffen. Konfliktberaterin Angela Mickley.
"´Was gefällt dir nicht? Was hat Ihnen seit Jahren schon das Leben versaut?` Das sind alles Fragen, die man dann stellen kann, aber getrennt. Da muss mal wieder bisschen Grund rein, also Gefühl von innerer Sicherheit in die Person, in die Beziehung, um dann überhaupt aufeinander zugehen zu können. Und dann kann man allmählich, wenn sich das bessert, wieder in eine gemeinsame Bearbeitung übergehen."
Sich angenommen zu fühlen, zunächst von der Therapeutin, wird zum Katalysator dafür, sich auch dem Streitpartner gegenüber wieder zu öffnen. Das muss allerdings freiwillig und organisch passieren.
"Die Aufforderung: ´Jetzt mal ruhig, lass uns in Ruhe drüber sprechen." Wird gerade, wenn man sehr aufgeregt ist, eher als noch schlimmer oder eskalierend empfunden. Also ich gehe mit dem Gefühl mit. Ich sag jetzt nicht: ´Das ist genau das Richtige, was Sie fühlen.` Sondern: ´Sie fühlen das gerade.` Fertig."

Auch positive Seiten erkennen

Schritt für Schritt hilft die Mediatorin den Streitenden, ihre Gefühle zu sortieren. Zum Beispiel bittet sie die Konfliktparteien, ihre schlechtesten, aber auch ihre positivsten Erfahrungen mit dem Gegenüber auf einer Skala einzuordnen. Wenn Streitende offen sagen können, was sie so wütend macht, sind sie eher bereit, auch positive Seiten des anderen und konstruktive eigene Wünsche wieder in den Blick zu nehmen.
"Eigentlich möchte ich nur funktionierende Familie, Partnerschaft, Kollegialität und habe auch Vorstellungen, und wenn die sozusagen mit Mediatorenhilfe dann etwas deutlicher herausgekitzelt werden, dann kann ich mich auch wieder dahin bewegen."
Auch in Freundschaften stehen hinter den vordergründigen Streitanlässen tiefer liegende Bedürfnisse, weiß Mediatorin Katharina Smutny.
"Zum Beispiel zwei Freundinnen: Eine hat dann eine Partnerschaft und meldet sich dann nicht mehr so viel. Anna und Janine zum Beispiel, und Janine versteht nicht, dass Anna sich jetzt kaum noch meldet, und weiß nicht, was los ist. Es wird gestritten, es gibt Konflikte, und dann steckt meistens dahinter einfach dieses Verlustgefühl bei der einen Person, die Einsamkeit und das Bedürfnis, wieder mehr Nähe herzustellen."

Wie kann man Menschen helfen, sich für diese tiefer liegenden Bedürfnisse sowohl in sich selbst wie im Gegenüber zu öffnen? In den 1970er-Jahren entwickelte Marshall Rosenberg sein weltweit beachtetes Modell der "Gewaltfreien Kommunikation". Die Art und Weise des Sprechens miteinander, so betonte der US-Psychologe, spielt eine entscheidende Rolle dafür, ob es Menschen gelingt, mit dem Gegenüber in einer einfühlsamen Verbindung zu bleiben und destruktive Muster von Verurteilung, Verteidigung, Angriff und Rückzug aufzulösen. Marshall Rosenberg fasste die Schritte dieses Kommunikationsstils in dem einfachen Satz zusammen:
"Wenn ich a sehe, dann fühle ich b, weil ich c brauche. Deshalb möchte ich jetzt gerne d."
Katharina Smutny erläutert das an einem Beispiel der beiden Freundinnen, die eine neue Liebesbeziehung in ihre Freundschaft integrieren müssen.
"Janine, die eben etwas eifersüchtig ist, weil Anna jetzt einen neuen Freund hat, die könnte dann in so einer wertschätzenden Kommunikation sagen: ´Ich merke, dass du viele Treffen absagst, wenn du Zeit mit deinem Freund verbringen willst.` Also Ich-Botschaft. Da gehts jetzt nicht um einen Vorwurf: ´Du hast nie Zeit!` Sondern: ´Ich merke, dass du viele Treffen absagst. Weil du Zeit mit deinem Freund verbringst. Du fehlst mir. Ich fühle mich einsam ohne dich. Ich wünsche mir mehr Zeit mit dir.`"
Porträt von Marshall Rosenberg am Strand von Kalifornien, 24. August 2006.
Der US-amerikanische Psychologe Marshall Rosenberg entwickelte das Modell der "Gewaltfreien Kommunikation".© picture alliance / San Diego Union-Tribune / ZUMA / Charlie Neumann

Kommunizieren ohne Vorwürfe

Das Konstruktive dieser Kommunikation liegt darin, dass solche Worte beim Gegenüber eine andere Reaktion auslösen, als es Vorwürfe täten. Wenn Anna sich nicht beschuldigt fühlt, kann sie vielleicht eher so reagieren:
"Ich höre, dass du einsam bist, dass ich dir fehle, weil ich auch viel Zeit mit dem Freund verbringe, und ich verstehe, dass du dich auch so fühlst. Das ist mir klar, ich verstehe das."
Schließlich müssen beide miteinander verhandeln, welche Umgangsweisen könnten den Grundbedürfnissen beider Seiten entsprechen?
"Janine kann sagen: ´Ich wünsche mir von dir, dass wir trotzdem einen Tag in der Woche zusammen verbringen, dass ein Abend immer uns gehört.` Und Anna kann dann sagen: ´Ja das können wir zum Beispiel machen.` Oder Anna sagt: ´Vielleicht ist mir das zu viel, dann machen wir das alle zwei Wochen.`"

Wie sieht guter Streit aus

"Du hast mal irgendwann gesagt: Wir beide, wir sind so Verhandlerinnen. Sind wir das? Wir sind Verhandlerinnen?"
"Also ich finde, wir sind die klassischen Verhandlerinnen. Ich würde mal sagen, im Grunde, wir verhandeln alles. Wir sind zwei sehr unterschiedliche Menschen, komplett konträr manchmal und solche Leute, die finden nur eine gemeinsame Basis, wenn sie wissen: Wir mögen uns, und wir müssen nur einfach sehen, dass jeder zu seinem Recht kommt."
"Verhandeln setzt aber auch voraus, dass man eben genau das nicht übel nimmt, dass die andere Person sagt: ´Nö, da habe ich jetzt aber keine Lust zu.` Und dass jemand was anderes will, oder?"
"Man findet ja oft Gemeinsamkeiten, das ist ja das Grundprinzip der Verhandlung. Man kommt vielleicht mit seinen Maximalwünschen nicht durch, das ist ja kein Problem, das ist nichts Persönliches."
Wie sähe er aus, der gute Streit? Ein Streit, der mehr Probleme löst, als er erzeugt? Der die Luft reinigt, alle Beteiligten befreit und neue Türen öffnet? Für Ragnar Beer ist jeder Streit, auch ein verletzender, zunächst einmal der Versuch, eine Lösung zu finden.
"Was mir immer wieder ganz wichtig ist, dass die meisten beim Streiten tatsächlich die besten Absichten haben und nur nicht wissen, wie sie sie besser umsetzen können. Das im Hinterkopf zu haben kann unheimlich erleichternd sein."
Braucht es Zeit, um das Streiten miteinander zu lernen? Sind vielleicht Menschen in langjährigen Beziehungen automatisch bessere Streitpartner, weil sie genauer erspüren können, was der andere eigentlich möchte und meint?
"Wir wissen aus Studien, dass aber genau das nicht der Fall ist. Je länger Paare zusammen sind, desto wichtiger ist es, dass sie sich immer wieder miteinander unterhalten und immer wieder auch sagen, was ihnen wichtig ist, was in ihnen vorgeht, was sie gerade interessiert, was sie gerade beschäftigt, damit der andere dann eben auch auf dem aktuellen Stand ist, was den anderen gerade beschäftigt und was dann vielleicht wichtig wäre."

Das Geheimnis einer zufriedenen Partnerschaft

Darum verstehen sich frisch Verliebte oft so gut, weil sie so intensiv erspüren möchten, was die Partnerin, der Partner gerade braucht. Fünf positive Erlebnisse müssen laut Partnerschaftsforscher John Gottman Menschen im Schnitt stiften, um ein negatives in ihrer Beziehung wettzumachen. Langfristig zufriedene Paare wissen das instinktiv und bieten einander – oft noch während der Auseinandersetzung – emotionale Nähe an, eine kleine Berührung oder einen Scherz.
Außerdem erklären sie irgendwann, dass Anliegen ihres Gegenübers verstanden zu haben. Vor allem aber entwerten sie einander im Streit nicht. Hohn, Spott, Verachtung gehören nicht zum guten Streit. Es gelte, betont Angela Mickley, ein wichtiges Grundprinzip anzuerkennen:
"Tat und Täter zu trennen. Also Sie tun irgendwas abgrundtief Schlimmes. Jetzt kann ich Sie verunglimpfen oder ich kann sagen: ´Frau Müller, Herr Müller, wie können Sie so etwas Grauenhaftes tun?` Das heißt, ich lasse da einen Unterschied zwischen Ihnen als Person und der Tat."
Dabei stellt die Mediatorin keinesfalls in Abrede, wie stark die Gefühle der Streitbeteiligten verletzt worden sind.
"Ganz heftig, ganz furchtbar, unerträglich und trotzdem nicht sozusagen die streitbare Äußerung gleich mit einem Niedermachen gleichsetzen. Und wenn man das trennt, kann man sich wunderbar laut streiten, aber der Respekt bleibt erhalten."
Das unterstreicht auch die forschende Psychologin Christine Finn.
"Streiten an sich ist ja nicht schlimm. Es gibt zum Beispiel auch Studien, die zeigen, dass Paare, die an sich zufrieden sind, die also eine glückliche Beziehung führen und sich dennoch streiten, dass die sich nach einem Streit sogar auch näher fühlen zueinander. Also das kann auch für die Beziehung positiv sein, wenn man es merkt: Wir streiten uns zwar, aber wir schaffen es auch, unsere Konflikte zu lösen."

Es geht um Substanz – auch bei Entschuldigungen

Im guten Streit geht es nie um Kommunikationstricks. Ein vordergründig einfühlsamer Satz, der einen Seitenhieb enthält, funktioniert nicht. Es geht um Substanz – auch bei Entschuldigungen, die vielen Menschen nach einer Ungerechtigkeit sehr wichtig sind. Psychisch entlastend wirkt nicht die Floskel, sondern der Akt der Empathie: Das sichere Gefühl, dass die oder der andere sich gerade tatsächlich die Mühe macht, sich in mich hineinzuversetzen und meine Perspektive nachzuvollziehen.
"Wenn meine Haltung nicht wirklich empathisch ist, da hat jeder ein Gefühl für. Und wenn Sie einen Volltrunkenen irgendwo ansprechen und haben so eine Verachtung für den, wie er sich gerade gehen lässt, das merkt der. Der merkt sonst nicht mehr so viel und kriegt sich gerade nicht supersortiert, aber die Verachtung merkt der. Das heißt: Meine Haltung, das riecht jeder – ja."
Und noch etwas gehört zum guten Streit: Viel üben, betonen Paartherapeuten. Denn im Eifer einer Auseinandersetzung schaltet das Gehirn auf Autopilot und das gewohnte Muster kommt zum Vorschein. Wenn es der gute Streit sein soll, muss er vorher viel probiert worden sein. Kreativität hilft, erklärt Katharina Smutny. Sie erinnert sich an die Beratung zweier Freundinnen, deren Streits oft in Gefühlsausbrüchen eskalierten. Also kamen sie auf die Idee, ihre Auseinandersetzungen zu entschleunigen mithilfe von Smartphonebildchen.
"Und dann haben sie die Maßnahme entwickelt, dass die eine, die jetzt gerade was zu sagen hat, der anderen per Nachricht einen Stöckelschuh schickt. Das war deren Symbol. Das hieß: ´Du, da gibts was, da möchte ich mit dir drüber reden.` So. Jetzt hat die andere sich die Zeit nehmen können zu warten, bis sie selber bereit ist für ein Gespräch, und hat dann auch einen Stöckelschuh zurückgeschickt. Und dann haben sie sich Ort und Zeitpunkt ausgemacht und da haben sie dann darüber geredet. Da sind sie selber draufgekommen, waren sehr stolz, ich hab mich sehr darüber gefreut, war sehr kreativ."

Trennung kann auch eine Lösung sein

Wie aber lässt sich damit umgehen, wenn die Partnerin, der Partner ein unerträgliches Verhalten keinesfalls ändern möchte? Resignative Reife, es einfach so akzeptieren, kann eine Lösung sein. Menschen in langfristig stabilen Partnerschaften zeigen sich in Studien tatsächlich eher bereit, fruchtlose Auseinandersetzung und Erziehungsversuche sein zu lassen. Bei Streitthemen von übergeordneter Bedeutung, vielleicht dauerhafte Untreue, vielleicht Lügen, vielleicht massives Desinteresse, Verachtung oder häusliche Gewalt, kann es die persönliche Grenze überschreiten, auf die eigenen Ansprüche zu verzichten. Dann kann eine Trennung zur großen Erleichterung werden. Ist die Beziehung gescheitert? Christine Finn hält von diesem Ausdruck nichts.
"Es gibt auch ganz viele Paare, die zusammen Kinder bekommen oder große Reisen machen oder ein Haus bauen, also die sehr viele wertvolle Erfahrung zusammensammeln, die einen für das Leben prägen und von denen man natürlich auch weiter profitiert. Auch wenn diese Beziehung dann nicht mehr fortbesteht. Also ich finde, dass eine lebenslange Beziehung nicht das einzige Erfolgskriterium sein sollte."
Was hält Menschen beisammen? Was treibt sie auseinander? Beziehungen sind von grundlegender Bedeutung im Leben, dennoch fristet die Partnerschaftsforschung ein Nischendasein in der Psychologie. Zwar gibt es Laborstudien wie die von John Gottman, für die Paare sich bereit erklären, ihre Konflikte vor laufenden Kameras auszutragen, sodass sich Mimik, Gestik und Körpersprache in unterschiedlichen Streitsituationen auswerten lassen.

Forschung ist aufwendig und teuer

Doch solche Forschung, zumal über die Dauer langjähriger Beziehungen, ist aufwendig, teuer und Geldgeber gibt es selten. Streitende Paare tauchen schließlich nicht in Krankschreibungsstatistiken auf und brauchen auch keine besonderen Medikamente, darum ist das Forschungsinteresse gering. Ragnar Beer.
"Es gibt da jede Menge, was nicht erforscht ist. Die langfristigen Auswirkungen auf die Partnerschaft zunächst mal. Wenn ich heute meinen Partner beleidige, wenn ich heute meinen Partner abwehre oder meine Partnerin, welche Auswirkung hat das in ein oder zwei Jahren? Auch mit einmaligen Ereignissen: Wie lange wirken die? Wie ist es, wenn sich so was immer wiederholt? Welche Auswirkungen hat das auf die Partnerschaft? Das sind sehr interessante Forschungsthemen."
Gelingende Kommunikation braucht aufrichtige Wertschätzung. Wenn Streitende ihren Verstand und ihre Herzen wieder füreinander öffnen können, ist ein wichtiges Ziel erreicht.
"Die Freude, wenn sich dann Veränderungen auftun und wenn die Beteiligten dann von sich aus sagen: ´Ich hab jetzt mal das probiert, es geht richtig gut.´ oder ´Ich hab´s einfach versucht, hier so und so da ranzugehen, und nur, was er sagte niederzumachen, nicht als Person – auf einmal konnten wir, zwar laut, aber sprechen.` Das, ja, das lässt mich auch die Arbeit unglaublich gerne weitermachen."
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