Kommunalpolitik

Warum kaum Migranten in deutschen Rathäusern sitzen

Ahmad Omeirat, Grünen-Abgeordneter im Essener Stadtrat
Einer von wenigen: Ahmad Omeirat sitzt für Grünen im Essener Stadtrat. © picture alliance / dpa / Monika Skolimowska
Von Vivien Leue · 22.03.2018
Sie leben seit Jahrzehnten in Deutschland, doch in der Kommunalpolitik spielen sie kaum eine Rolle: Menschen mit Migrationshintergrund sind in deutschen Rathäusern unterrepräsentiert, denn der Weg in die Politik ist für sie mit vielen Hürden verbunden.
Im dritten Stock eines schmucklosen Nachkriegsbaus, wenige Minuten vom Essener Hauptbahnhof entfernt, liegt der Verein Laissez Passer, eine Anlaufstelle für Geduldete und Flüchtlinge.
"Herzlich Willkommen, kommen Sie rein …"
Ahmad Omeirat hat den Verein mitgegründet und engagiert sich dort seit mehreren Jahren.
"Möchten Sie einen Kaffee?"
Die Themen Flucht und Integration – sie beschäftigen Omeirat nicht nur hier bei der Vereinsarbeit. Der 34-Jährige gebürtige Libanese sitzt außerdem für die Grünen im Essener Stadtrat.
"Essen hat 20.000 neue Mitbürgerinnen und Mitbürger aus arabischen Ländern bekommen. Wir haben jetzt einen Migrationsanteil von 20, 21 Prozent, wir haben aber diesen nicht im Stadtrat repräsentiert."
Von den 91 Menschen im Essener Stadtparlament hat nur etwa eine Handvoll einen Migrationshintergrund. Warum sind die Essener Migranten nicht ausreichend in der Kommunalpolitik repräsentiert?

Ohne deutschen Pass geht nichts

"… weil sie keine Deutsche sind, aber schon seit 50 Jahren hier leben: Da müsste man sich fragen: Warum sind diese Menschen noch nicht Deutsche? Außerdem muss man sich fragen: Wie schaffe ich es, die neuen Generationen in politische Prozesse einzubinden?"
Die Antwort gibt Omeirat gleich hinterher: Für ihn gehört eine großzügige Einbürgerungskultur dazu – denn ohne deutschen Pass geht politisch nur wenig.
"Da darf nicht ein Mitarbeiter in der Einbürgerungsabteilung sein und sieben in der Abschiebe-Abteilung."
Wer ausländische Mitbürger jahrelang von der politischen Teilhabe ausschließe, dürfe sich nicht wundern, wenn diese später in der Politik fehlten.
Tatsächlich ist Essen bei weitem nicht alleine, wenn es um fehlende Repräsentanz von Migranten in den Kommunalparlamenten geht. Eine Studie der Max-Planck-Gesellschaft und der Heinrich-Böll-Stiftung untersuchte vor ein paar Jahren, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund in den Rathäusern von 77 deutschen Großstädten sitzen. Ergebnis: Nur vier Prozent der Ratsmitglieder hatten einen Migrationshintergrund. Zum Vergleich: In deutschen Großstädten sind es etwa ein Viertel der Bürger.
Ahmad Omeirat ist Mitte der 80er-Jahre als Zweijähriger nach Deutschland gekommen. Seine Mutter floh mit ihm und einer kleinen Schwester vor dem Bürgerkrieg im Libanon. Später reiste der Vater nach.
"Dass Menschen anklopfen und Dir was geben, nur weil bei ihnen gerade Weihnachten ist, das war auch für Muslime wichtig. Das soll keiner unterschätzen und das haben wir in den 80er-ahren alles hier gesehen."

Um die Jahrtausendwende wird die Skepsis gegenüber Einwanderern größer

Rund um die Jahrtausendwende kippte die Stimmung gegenüber den Zugezogenen, erinnert sich Omeirat. Plötzlich war in den Medien von libanesischen Clans die Rede, Bürger sorgten sich vor kriminellen Großfamilien. Der Ton wurde auch von Seiten der Behörden rauer:
"Man war nur noch mit Deutschen unterwegs, die im Sozialamt gearbeitet haben, in der Ausländerbehörde oder beim Jugendamt."
Omeirat hatte das Gefühl: Hier läuft etwas falsch, auf beiden Seiten. Sein Weg in die Politik begann, als er einen Aufruf innerhalb der libanesischen Gemeinschaft las:
"Wer deutsch sprechen kann und sich in der Umgebung hier auskennt: Die Community möchte einen Verband gründen, der die Interessen der Community mehr in die Mehrheitsgesellschaft transportiert, übersetzt, et cetera."
Der damals knapp 20-Jährige wird direkt in den Vorstand des neuen Verbands gewählt.
"Das war schon interessant. Die meisten Menschen konnten kein Deutsch, hatten aber wunderbare Ideen."
Der Verein geht raus auf die Straßen von Altenessen, einem Bezirk im Norden der Stadt, der stark von Migration geprägt ist. Er spricht mit Eltern von Jugendlichen, die kriminell aufgefallen sind, mit jungen Menschen, die keine Perspektiven sehen, und mit den Behörden. Über den Verein kommt Omeirat 2010 in den Integrationsrat der Stadt. Dort wird er von den Grünen entdeckt und erkennt: Diese Partei kämpft genau für das, was ich will. Er tritt ein und sie stellt ihn für die Ratswahlen 2014 auf.
"So, das war das ..."
Omeirat zeigt die Wahlplakate von damals.
"Und dann gab es ja diese Diskussion: Auf sichere Plätze oder nicht sichere Plätze, weil viele Menschen mit Migrationshintergrund kommen nicht in die Parlamente, weil sie keine sicheren Plätze haben. Ein stückweit, weil sie sich selber darauf reduzieren oder – lassen sie mich ehrlich sein – weil sie keine Lobby haben."
Der junge Politiker ergattert einen sicheren Listenplatz, auch weil er in der Partei Unterstützer hat – und er wird in den Stadtrat gewählt. Sein Weg ist laut der Max-Planck-Studie klassisch für Kommunalpolitiker mit Migrationshintergrund. Demnach haben sich viele Migrantinnen und Migranten vor ihrem Ratsmandat in Bürgerinitiativen oder anderen Vereinen engagiert, und ein Großteil war Mitglied in einem Integrations- oder Ausländerbeirat.

Von der Intitative in die Partei

Ortswechsel: Im Düsseldorfer Rathaus, mitten in der historischen Altstadt und nur wenige Meter vom Rhein entfernt, tagt gerade der Integrationsrat der Landeshauptstadt.
"Herzlich Willkommen zur heutigen Sitzung …"
Unter den 17 Mitgliedern ist auch Eda Akcan-Grah. Die 36-Jährige sitzt seit 2010 für die SPD in dem Gremium.
Kurz vor der Sitzung erzählt sie, wie sie in die Politik gekommen ist.
"Ich war zu Schulzeiten sehr, sehr aktiv, sehr engagiert, war stellvertretende Schulsprecherin, war Klassensprecherin, hab selbst gegründete Jugendgruppen als Sprecherin begleitet."
Zum Ende ihres Studiums trat sie dann der SPD bei – um noch mehr bewegen zu können.
"Mein Ziel ist es wirklich, den Menschen das Zusammenleben, die Integration und den Alltag so weit wie möglich zu erleichtern. Meine große Hoffnung ist, dass es irgendwann keine Rolle mehr spielt, woher ein Mensch ist. Dass man nicht ständig diese witzige Frage kriegt: Woher sind sie denn? Dann sage ich gerne: Ich bin Deutsche. Ja, aber woher ist ihre Familie? Warum? Vielleicht ist das Illusion, aber ich hoffe, dass es irgendwann soweit ist."
Akcan-Grahs Eltern kamen in den 70er-Jahren aus der Türkei nach Deutschland – der Vater war Gastarbeiter, die Mutter hatte Mathematik studiert.
"Solange ich denken kann, wurde zuhause darüber diskutiert, was denn der Kohl da macht und, was das denn jetzt schon wieder bedeutet. Oder dass meine Eltern mit uns regelmäßig zum türkischen Konsulat mussten, um da noch irgendwelche Geschichten für die Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Das sind meine frühesten Kindheitserinnerungen, das prägt."

Die mangelnde Präsenz ist auf Dauer nicht gut für die Gesellschaft

Es sei wichtig, diese Erfahrungen in den Kommunalparlamenten zu haben, gerade für ein Land wie Deutschland, das sich mittlerweile selbst als Einwanderungsland sieht. Dass Teile der Bevölkerung, ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht politisch repräsentiert sind, könne für eine Gesellschaft auf Dauer nicht gut sein. Eda Akcan-Grah versucht, zu verstehen, warum so wenige ihrer Mitbürger mit Migrationshintergrund in die Parlamente kommen.
"Es ist jetzt nicht so, dass man da easy going irgendwohin kommt und sagt: So, ich kandidiere jetzt. Man muss da schon Arbeit rein investieren und dann stellen sich, glaube ich, auch die meisten die Frage: Mache ich das oder mache ich das nicht?"
Denn: Kommunalpolitik passiert größtenteils ehrenamtlich. Die junge Politikerin könnte ihr Leben nicht mit der Aufwandsentschädigung finanzieren, die sie als Integrationsrats-Mitglied erhält. Sie ist froh, in ihrer Fraktion als Fachreferentin für Gleichstellung angestellt zu sein. Ahmad Omeirat aus Essen arbeitet hauptberuflich im Bekleidungsgeschäft der Eltern. Es brauche daher viel Leidenschaft, um dabei zu bleiben – und ein Verständnis für die ungeschriebenen Regeln der Politik.
"Politik kann schwierig sein, kann anstrengend sein, kann aufreibend sein, man muss geduldig sein. Manchmal ist Politik auch undankbar. Aber wenn man für eine Sache brennt, dann muss man die Augen schließen und: Ab durch die Mitte."

Parteieintritt als Kulturschock

Etwa einen Kilometer entfernt vom Düsseldorfer Rathaus liegt der nordrhein-westfälische Landtag – ein geschwungenes Gebäude aus Glas und Stahl. In einem Besprechungszimmer im zweiten Stock, mit Blick auf den Rhein, sitzt Berivan Aymaz. Seit der Wahl vor knapp einem Jahr im Mai 2017 ist sie Fraktionsmitglied der Grünen im Landtag. Vorher war sie Kölner Ratsfrau und davor hat auch sie sich bei NGOs und Verbänden engagiert. Die 45-Jährige gebürtige Türkin erinnert sich noch gut an den Kulturschock, als sie in die Partei eintrat.
"Allein die Kommunikationsstrukturen sind anders, es wird auch anders gestritten, und auch Entscheidungsfindungsprozesse. Da sind Abwägungsprozesse, auch viel, viel stärker, präsenter als bei NGOs, wo es darum geht, schnell auf die Straße zu gehen und schnell etwas zu kommentieren und zu begleiten."
An diesen zum Teil komplizierten und für Außenstehende undurchsichtigen Prozessen scheitern viele ambitionierte Jungpolitiker.
"Das Problem ist in den Strukturen. Die Strukturen sind sehr deutschlastig, sage ich mal. Es erfordert gute Kenntnisse über politische Akteure auch, und das fehlt den Menschen mit Migrationshintergrund."
Es fehle häufig eben der Verwandte oder gute Freund der Familie, der am Essenstisch von seiner Arbeit im Gemeinderat oder Vereinsvorstand erzählt.

"Allein schon Wahlvorgänge noch nie in der Familie erlebt zu haben. Wir haben Generationen, die haben es noch nie gesehen, dass der Vater oder die Mutter wählen gegangen sind."
Und wenn sie dann selbst irgendwann im Erwachsenenalter die deutsche Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht bekämen …
"… dann haben sie eine Person mittleren Alters, die diese Prozesse gar nicht kennt. Und dann wahrscheinlich mit 35, 37 Jahren oder so sich auch nicht so ohne weiteres trauen wird, zur Wahlurne zu gehen. Das sind große Probleme."
Da sei der Schritt, sich selbst zur Wahl zu stellen und politisch mitzumischen, noch viel größer. Sie selbst sei deshalb kein repräsentatives Beispiel, sagt Berivan Aymaz. Denn sie kam Ende der 70er-Jahre nicht als Gastarbeiterkind, sondern als Tochter eines türkischen Diplomaten nach Deutschland. Als ihr Vater nach dem Militärputsch 1980 abgezogen werden sollte, weigerte er sich zurückzukehren. Da die Familie kurdische Wurzeln hat, war ihr Heimatland für sie nicht mehr sicher. Ende der 90er-Jahre wurde Berivan Aymaz dann eingebürgert.
Berivan Aymaz
Berivan Aymaz© Grüne im NRW-Landtag / Guido von Wiecken

Ausgrenzung auf mehreren Ebenen

In der Schule war Aymaz eine Musterschülerin, übersprang eine Klasse und machte mit 17 Abitur. Sie hatte also gute Voraussetzungen, um in der Politik Erfolg zu haben. Das dürfte bei vielen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland anders sein.
"Zum einen fehlen ihnen die biografischen Netzwerke, zum anderen aber merken wir auch, dass zunehmend nur Menschen aus einer bestimmten sozialen Schicht auch Zugang in die Parlamente finden. Also das heißt, Menschen aus bildungsschwachen Familien und aus Familien, die teilweise auch von Armut betroffen waren, die kommen ja auch gar nicht so weit, und Menschen mit Migrationshintergrund haben das natürlich auch alles."
Dieser Mehrfach-Ausgrenzung müssten die Parteien stärker begegnen. Sie müssten sich öffnen für Menschen aus unterschiedlichen Schichten, ganz unabhängig von der Herkunft, sagt Aymaz.
"Wenn diese Öffnung stattfindet, dann haben wir damit automatisch, glaube ich, auch eine Öffnung für Menschen mit Migrationshintergrund."
Der Wandel findet in einigen Parteien schon statt, so hat zum Beispiel die SPD vor ein paar Jahren eine Migrantenquote eingeführt. Und auch unsere Gesellschaft ist durchlässiger geworden. Künstler wie Fatih Akin, Schriftsteller wie Rafik Schami oder nicht zuletzt der Journalist Denis Yücel sind für viele Migranten zu Vorbildern geworden. - Auch Berivan Aymaz ist ein Vorbild.
"Das erlebe ich häufig gerade bei jungen Frauen, die auf mich zukommen und sagen, dass sie das toll finden, dass sie stolz darauf sind, und dass sei auch mitmachen wollen."

Engagiert in der Ausländerpolitik

Zurück in Essen. Ahmad Omeirat ist bei einer Parteiveranstaltung der Essener Grünen.
"Hallo!" - "Wunderbar hast Du das gemacht!"
Auch er ist hoch angesehen. Obwohl er mitunter schmerzhafte Wahrheiten ausspricht wird er in der libanesisch-stämmigen Community in Essen respektiert, und seine Parteifreunde wissen nur Positives von ihm zu berichten.
"Das ist ein guter Mann!"
"Da sind wir auch ein bisschen stolz auf ihn, dass er sich da so reinschraubt in alles und sehr aktiv ist."
"Er ist auch ein Kämpfer. Wir haben uns mal kennengelernt bei einer Podiumsdiskussion. Da war so eine Tendenz, das ist hier eine No-Go-Area."
Omeirat: "Es war auch so, dass mobilisiert wurde, von rechten Parteien …"
"Er kämpfte alleine gegen alle anderen. Und das war klasse, da habe ich ihn schon bewundert, das habe ich ihm später auch gesagt, das war klasse."
Wenig später steht Ahmad Omeirat in einer Ecke des großen Saals und bespricht sich mit einem Mann auf Arabisch. Omeirat hilft dem Mann bei der Planung für ein deutsch-arabisches Stadtmagazin, mit Freizeittipps und Restaurant-Empfehlungen. So könnten sich auch Neuzugewanderte schnell in ihrer Stadt einleben.
"Es ist ein ganz kleines Projekt. Das sind diese guten Projekte, mit ganz kleinen Schritten. Mit den Mitteln, die man hat."
Das ist es wohl, was seine Parteikollegen meinen: Omeirat schraubt sich rein und kämpft – für Themen, für die sonst kaum einer kämpft. Sein politischer Weg sei deshalb auch noch lange nicht vorbei, sagt der 34-Jährige.
"Ich werde nicht aufhören, im Bereich Ausländerpolitik in Essen aktiv zu sein. Das wird es so nicht geben, es sei denn, es kommt morgen jemand, um zu sagen: Wir brauchen den Ahmad Omeirat nicht mehr, weil wir schon umgesetzt haben, was es zu tun gibt an Veränderung."
Aber das wird wohl so schnell nicht passieren.