"Kommerzieller Mist" statt genuiner brasilianischer Kultur

Von Klaus Hart · 11.12.2006
Brasiliens Kulturminister Gilberto Gil, ein Popmusikmillionär und sehr geschäftstüchtiger Popunternehmer, hat in vierjähriger Amtszeit die kommerziellen Megatrends der internationalen Musikkonzerne, darunter Rap, HipHop und Reggae, spürbar favorisiert. Auch zum Schaden der mehreren Dutzend Sinfonieorchester des Tropenlandes, überhaupt der genuinen brasilianischen Musik, wie ihm seine Kritiker vorwerfen. Zu ihnen zählt Dirigent und Komponist John Neschling, Großneffe Arnold Schönbergs, der in Sao Paulo Lateinamerikas bestes Orchester aufbaute, sich jetzt mit den restlichen Klangkörpern des Riesenlandes verbündet, um angesichts allgemeiner Kultur- und Bildungsmisere von der Regierung in Brasilia nachdrücklicher Verbesserungen zu verlangen.
Kurz vor dem Ende seiner vierjährigen Amtszeit ließ sich Kulturminister Gilberto Gil letztes Wochenende in der Megacity Sao Paulo überraschend auf dem ersten Seminar der brasilianischen Sinfonieorchester blicken, die fast durchweg mit enormen existentiellen Problemen zu kämpfen haben und deshalb in dem riesigen Drittweltland einen nationalen Orchesterverband gründen wollen. Minister Gil schlug bei seinem Kurzauftritt unverhohlene Kritik und Skepsis entgegen.

Die hatte zuvor bereits Dirigent John Neschling auf den Punkt gebracht, der in Sao Paulo seit 1997 Lateinamerikas bestes Sinfonieorchester leitet. Sein Orchestra Sinfonica do Estado de Sao Paulo ist heute für Brasiliens Kulturszene so wichtig wie die Berliner Philharmoniker oder das Gewandhausorchester Leipzig für Deutschland.

"Ich finde, dass unser Kulturminister heute nicht besonders famos die brasilianische Kultur vertritt. Wir machen unsere Arbeit hier so gut wie möglich - ich glaube nicht, dass sie sehr von unserem Kulturminister geschätzt wird. Er hat ja keinen Bezug zur klassischen Musik. Und selbst als Musiker nicht, hat sich auch sehr wenig dafür eingesetzt. Und als ich gesehen habe, dass es so ist, habe ich gesagt, wir machen unseren Weg alleine, ohne Kulturministerium. Wir wollen einfach zeigen, dass in Brasilien die Möglichkeit besteht, ein ganz erstklassiges Welt-Sinfonieorchester zu betreiben, dass wir ein Publikum haben dafür. Wir gute Musik haben, die hier komponiert wurde vom 18. Jahrhundert an bis heutzutage, also von 1708 bis heute gibt's brasilianische Musik, die erstklassig ist."

Gerade kam Neschling von seiner zweiten umjubelten USA-Tournee zurück, im März beginnt eine große Europatournee, die auch nach Deutschland führt. Alles einmalig für ein lateinamerikanisches Orchester. Die internationale Anerkennung ist da, Minister Gil kommt um diesen gewichtigen brasilianischen Kulturbotschafter aus Sao Paulo nicht mehr herum. Auf dem Orchesterseminar übt Gil sogar etwas Selbstkritik.

"Vor vier Jahren hatten wir keine Politik für die klassische Musik - und bis heute sind wir in diesem Bereich nur sehr wenig vorangekommen. Ja, wir müssen den Forderungen der Sinfonieorchester Aufmerksamkeit schenken, denn ohne Zweifel haben viele von ihnen derzeit große Probleme. Der Staat muss den Orchestern helfen, das Kulturministerium ist sich der Dringlichkeit bewusst. Eine systematische Orchesterpolitik ist nötig. Und hoffentlich wird dieses Seminar unseren Dialog verbessern."

Nach wenigen Minuten stand er auf und verließ mit seinen Beratern den Saal. Unverständnis, Kritik daher auch bei dem Dirigenten Ricardo Rocha aus Rio de Janeiro, der seine Ausbildung in Deutschland gemacht hatte. Rocha sagt, der Minister habe bei der Copa der Kulturen, dem brasilianischen Kulturprogramm anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, viel kommerziellen Mist gezeigt, unerträgliche Brasilienklischees gefördert, statt beispielsweise auch Hochkarätiges aus dem Bereich der brasilianischen Klassik zu präsentieren.

"Copa da Cultura, wir haben ein riesiges Projekt gemacht, wir haben' ans Ministerium geschickt. Es hat nichts geläuft. Brasilien wurde repräsentiert mit Populärmusik. Und diese Klischees, ich kann das nicht mehr ertragen. Brasilien ist nicht nur das. Die machen nichts."

Dori Caymmi komponiert komplexe brasilianische Rhythmen, liebt die deutsche Klassik - Bach, Beethoven, Wagner. Sprechgesang, HipHop, überhaupt monotone elektronische Musik hält er für entsprechend armselig.

"Ich meine, der Kulturminister sollte sich für die Erhaltung unserer Kultur einsetzen. Was sich derzeit abspielt, ist sehr dekadent, die nationale Musikkultur wird regelrecht demoliert. Unsere Musik verliert den typisch brasilianischen Charakter, wird bald im Museum landen. Brasiliens Kultur verarmt generell."