Kommentar zu Sondierungsgesprächen

Warum uns die Politiker eine Regierung schulden

Blauer Himmel rahmt am 08.01.2018 in Berlin am frühen Abend den Reichstag ein.
Die Staatsgewalt geht vom Volke aus, und das Volk hat auch ein Recht darauf, dass sie irgendwo hingeht, meint Dieter Thomä. © dpa-Bildfunk / Paul Zinken
Von Dieter Thomä · 21.01.2018
Deutschland hat nach wie vor eine geschäftsführende Regierung. Das ist zwar rechtlich unproblematisch, zur Demokratie gehört jedoch der Wille des Volkes. Dass sich die Gespräche so lange hinziehen, verstoße gegen den Geist der Verfassung, meint Dieter Thomä.
In seinen "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" schwärmt Georg Wilhelm Friedrich Hegel von den "Geschäftsführern des Weltgeistes", die – wie zum Beispiel Cäsar und Napoleon – das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Derzeit haben wir in Deutschland keinen Geschäftsführer des Weltgeists, wohl aber einen Geschäftsführer des Volks: eine geschäftsführende Regierung. Nach der Wahl im letzten September und dem Zusammentritt des Bundestags war offiziell Schluss mit der regulären Amtszeit der Kanzlerin und ihrer Minister. Seitdem greift Artikel 69 des Grundgesetzes: Die alte Regierung führt bis zur Klärung der Nachfolge "die Geschäfte […] weiter".
Es gibt noch einen interessanten Artikel im Grundgesetz: Artikel 20. Darin steht: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Der Uhrzeiger der Geschichte rückt normalerweise alle vier Jahre auf eine Sternstunde der Demokratie zu, in der sich dieser Artikel bewahrheiten soll: Die Bürger treten als Souverän auf und wählen ihre Repräsentanten. Seit September 2017 zerbrechen sich die neu gewählten Repräsentanten den Kopf, wer in Zukunft regieren soll. Sie reden und tun – während die alte Regierung weiter die Geschäfte führt. Deren Legitimität stammt aus dem Wahlakt 2013 und ist damals mit einem Ablaufdatum versehen worden. Inzwischen ist sie drüber – wie sauer gewordene Milch.

Volk wird behandelt wie ein Schüler

Die Mischung aus geschäftsführender Regierung und geschäftiger Verhandlung birgt eine Gefahr, über die eine ökonomische Theorie Auskunft gibt: die sogenannte Principal-Agent-Theorie. Der Principal ist der Auftraggeber – in diesem Fall das Wahlvolk – und der Agent, der in der Ökonomie typischerweise als Geschäftsführer übersetzt wird, führt den Auftrag aus. Die Gefahr besteht nun darin, dass der Agent sein Ding macht und der Principal, der eigentlich das Sagen hat, ins Hintertreffen gerät.
Es gibt viele Gründe, warum die Gespräche in Berlin so ewig dauern: unübersichtliche Mehrheiten, regierungsmüde Parteien, komplexe Sachfragen, verzweifelte Profilierungsversuche, "Anfängerfehler" in der Verhandlungsführung, wie der Grünen-Politiker Robert Habeck mit Blick auf die Jamaika-Sondierungen dankenswerterweise zugibt – und einiges mehr. Einen möglichen Grund für das Schneckentempo wagen die Politiker schon gar nicht zu nennen: dass sie mit aller Sorgfalt – so nochmals Hegel – sichere "Richtlinien" für die "nächste Stufe" der Geschichte ausarbeiten. Es gibt aber einen Grund, warum es jetzt schon zu lange dauert – und der steht höher als all jene peinlichen oder plausiblen Gegengründe.

Jetzt reicht's

Die Staatsgewalt geht vom Volke aus; und das Volk hat auch ein Recht darauf, dass sie irgendwo hingeht – und zwar nicht aufs Abstellgleis. Aus der Perspektive der Demokratietheorie gilt: Wer die Regierung als Geschäftsführung immer weiter ausdehnt, tritt Artikel 20 des Grundgesetzes mit Füßen. Es handelt sich hier nicht um ein Kavaliersdelikt, sondern um einen Verstoß gegen den Geist der Verfassung. Schwierigkeiten hin oder her: Unsere Volksvertreter könnten liefern, wenn auf ihrer Prioritätenliste das Richtige ganz oben stünde: die Achtung der Volkssouveränität. Das Volk wird ähnlich behandelt wie ein Schüler, der etwas zu sagen hat, aber ein halbes Jahr lang nicht drangenommen wird.
Wie lange kann jene "Geschäftsführung" gehen? Theoretisch vier Jahre, bis zur nächsten Wahl und darüber hinaus. Das ist nach dem Buchstaben des Gesetzes pikanterweise möglich. Davor schützt uns nur der gute Wille der Politiker – oder wir uns selbst, wenn wir ihnen klar machen: Jetzt reicht's.
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