Kocka: Neue Unterschicht durch hohe Sozialleistungen

Moderation: Dieter Kassel · 12.10.2006
Gegen eine Ausdehnung des Sozialstaats hat sich der Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung Jürgen Kocka in der von SPD-Chef Kurt Beck angestoßenen Diskussion um eine neue Unterschicht gewandt. Er zweifle daran, dass Entmutigung, Verwahrlosung und problematische Familienverhältnisse primär durch den vorsorgenden Sozialstaat in den Griff zu bekommen seien.
Kassel: Es gibt viel zu viele Menschen in Deutschland, die keine Hoffnung mehr haben und die sich mit ihrer Situation abfinden. Sie haben sich materiell oft arrangiert und ebenso auch kulturell. Diese Äußerungen des SPD-Vorsitzenden Kurt Beck in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", in dem es eigentlich übrigens um etwas ganz anderes ging, haben eine ziemlich große Debatte ausgelöst. Heinz Bude, Soziologe an der Universität Kassel, nannte Becks Äußerungen gestern hier bei uns im Deutschlandradio Kultur revolutionär. Und da ist er nicht der Einzige, was aber auch nicht bedeuten soll, dass nicht auch andere Meinungen denkbar sind. Wir diskutieren weiter und ich begrüße dazu jetzt Professor Jürgen Kocka, er ist der Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Guten Tag, Herr Kocka!

Kocka: Guten Tag!

Kassel: Ist das auch in Ihren Ohren revolutionär, was Beck da gesagt hat?

Kocka: Nein, ich finde es bemerkenswert, dass der Vorsitzende der SPD, kurz nachdem er etwas über die Notwendigkeit der Unterstützung von Leistungsträgern in der Gesellschaft vor ein paar Monaten sagte, nun etwas sagt über diejenigen, die sich in ihren ärmeren Zuständen eingerichtet haben. Aber ich finde es weder neu noch revolutionär.

Kassel: Man muss ja vielleicht auch einmal den Text weiterlesen, der da in der Zeitung stand. Denn Beck hat zum Beispiel auch gesagt, für den Teil der Gesellschaft, der uns zu entgleiten droht, ist der vorsorgende Sozialstaat gefragt. Das klingt in meinen Ohren jetzt doch wieder nach dem guten alten Sozialnetz aus Beton.

Kocka: Also vielleicht soll man sich deutlich machen, dass es in Deutschland viele Aufstiege, auch Abstiege gibt, heute nicht sehr viel weniger als vor zwei, drei Jahrzehnten. Aber diese Aufstiegschancen der Einzelnen sind stark abhängig von zwei Faktoren: Einmal von der Herkunftsfamilie, in die man hineingeboren ist, und zum anderen vom Bildungsstand. Das ist uralt, das zeigt, dass wir keine gleiche Verteilung der Lebenschancen haben, das hat sich in der letzten Zeit aber nicht wesentlich geändert. Was sich, denke ich, geändert hat, ist, dass eine unterste Schicht von Personen, die lange arbeitslos sind, die möglicherweise auch keine Schulbildung haben und die daran gewöhnt sind, von nicht sehr komfortablen aber erträglichen Einkünften aus Transferleistungen, also vom Staate, zu leben, plus einige Nebeneinkünfte, dass die sich heute vermutlich stärker eingerichtet haben in ihrer Situation, als das vor 50 oder gar vor 100 Jahren der Fall war.

Kassel: Aber ist selbst das etwas so grundlegend Neues, Professor Kocka? Ist es nicht immer schon eine Phantasie gewesen, auch von gewissen Kreisen, anzunehmen, dass absolut jeder Mensch, der irgendwo weiter unten in der Gesellschaft ist, unbedingt aufsteigen will?

Kocka: Na ja, nicht jeder, aber das Ausmaß dieser Aufstiegsmöglichkeiten und das Ausmaß des Aufstiegswillens ändert sich mit der Zeit, und das hängt einerseits davon ab, welche Chancen vorhanden sind. Und bekanntlich sind Arbeitsplätze knapp und Wachstum nicht mehr so schnell wie früher und von daher saugt die Wirtschaft weniger Personen an und bietet weniger Chancen an. Das ist das eine. Auf der anderen Seite gibt es eine Situation, in der man zwar nicht sehr komfortabel lebt, aber auch ohne große Not, die addiert sich aus Einkommen zusammen, die einerseits eben aus, früher sagten wir Sozialhilfe, heute Arbeitslosengeld II, plus Zuschläge verschiedenster Art, resultiert. Dazu vielleicht einige Nebeneinkünfte aus der sehr verbreiteten Schwarzarbeit plus Enttäuschungen und die Erfahrung, dass man es eh nicht ändern kann. Und das ergibt das Leben unter solchen Verhältnissen über viele Jahre hinweg, manchmal schon in der zweiten Generation. Und das findet sich eben besonders stark unter jenen acht Prozent der deutschen Bevölkerung, die keinerlei Schulabschluss haben. Und dieser Anteil von schulabschlusslosen Menschen ist unter denen mit Immigrationshintergrund ungefähr doppelt so hoch. Dort in der Tat gibt es ein Maß an Entmutigung und auch Verwahrlosung bei gleichzeitig häufig problematischen Familienverhältnissen und wenn Beck das im Blick hat, dann hat er ein starkes Problem, ein großes Problem, im Blick. Ob man das primär durch den vorsorgenden Sozialstaat in den Griff bekommt, mag man allerdings bezweifeln.

Kassel: Beck selber drückt sich ja ein bisschen davor, das Ganze Unterschicht zu nennen. Er sagt, manche nennen es so. Sind Sie manche, würden Sie es so nennen?

Kocka: Ja, wir haben eine Unterschicht, manche sprechen sogar von einem Subproletariat. Es sind nicht die qualifizierten oder halbqualifizierten Arbeiter und kleinen Angestellten mit relativ regelmäßigen Einkünften, es sind jene, die nur sehr sporadisch und temporär Einkünfte haben, ungefähr in der Art, wie ich es jetzt beschrieben habe. Und diese Zahl ist im 19. Jahrhundert viel größer gewesen als heute, aber in den 1960er, 1970er Jahren war sie kleiner als heute. Und diese Zahl hat zugenommen mit der Ausbreitung der Arbeitslosigkeit und vielleicht auch mit dem Ausbau des Sozialstaates, der es leichter macht, in dieser Art zu leben und der dafür sorgt, dass dieses Leben zwar nicht komfortabel und gut ist, aber auch nicht besonders wehtut.

Kassel: Nun gibt es zwei Möglichkeiten auf jeden Fall. Die eine hat ja auch Beck genannt, wir haben das auch gerade schon erwähnt, diesen vorsorgenden Sozialstaat. Sie haben es schon angedeutet, das ist es vielleicht nicht. Die CDU, oder Kreise der CDU, haben ja erst gerade wieder eine Reduzierung der Höhe des Arbeitslosengeldes II gefordert und stärkere Kontrollen bei Hartz IV. Das ist die andere Variante. Gibt es noch einen dritten Weg in Ihren Augen, was man tun kann?

Kocka: Also am Ende kommt es darauf an, Einstellungen zu ändern, zu zeigen, dass es besser geht, als man es gewöhnt ist, und gleichzeitig über die Familie und vor allen Dingen über die Schule und den vorschulischen Unterricht, die es auszubauen gilt, früh Erwartungen, Ansprüche zu stärken und gleichzeitig den Mut, sich darauf einzulassen, diese Ansprüche einzulösen. Das schafft man nicht von heute auf morgen, aber an der Stelle, denke ich, mentalitätspolitisch, einstellungspolitisch, müssen wir die Ziele setzen. Und dazu müssen Pädagogen und Eltern, aber natürlich auch Arbeitsplatz anbietende Unternehmen und die Vermittler von Arbeitsplätzen in den Arbeitsagenturen mithelfen.

Kassel: In den 60er, 70er Jahren, die Sie erwähnt haben, ich kann mich da auch an meine Jugend erinnern - ich will mich nicht älter machen, als ich bin, reden wir von den 70er Jahren -, da gab es so einen Spruch, den hat man immer gehört, den vermisse ich inzwischen, obwohl er mir damals auf den Wecker ging. Das war dieser Spruch von Eltern: Den Kindern soll es einmal besser gehen als uns. Warum ist dieser Spruch eigentlich verschwunden?

Kocka: Ich bin nicht sicher, ob er verschwunden ist. Also wenn Sie einmal sich die Statistiken ankucken, nehmen wir einmal die Söhne und Töchter aus gelernten Arbeiterfamilien: Ungefähr 50 Prozent von denen enden selber in Positionen, die dem Arbeiterbereich angehören. Aber ein gutes Drittel von denen rückt in einfache, qualifizierte und auch leitende Angestelltenpositionen ein. Und etwa zehn Prozent wird selbstständig. Da sind große Aufstiegsvorgänge weiterhin im Gange und sie sind nicht geringer als vor ein paar Jahrzehnten und dahinter stehen natürlich Strebsamkeit und die Ermöglichung durch die Eltern. Nur, wir haben eben Bereiche, in denen das nicht mehr funktioniert, oder, nicht mehr ist falsch, es hat immer Bereiche gegeben, in denen es nicht funktionierte. Und die öffentliche Aufmerksamkeit richtet sich natürlich in einer Zeit, wo die Arbeitslosigkeit so zugenommen hat und wo der Sozialstaat überhaupt umgebaut werden muss, besonders stark darauf. Dort müssen wir ansetzen. Und das verschärft sich natürlich durch die Immigrationen, dann kommen die Sprachbarrieren dazu. Und nicht zufälligerweise ist die Zahl derer, die ohne Abschluss dastehen, doppelt so hoch in den Gruppen mit Immigrationshintergrund als unter der deutschen, einheimischen Bevölkerung.

Kassel: Wenn Sie sagen, das Ganze muss auch in den Schulen passieren, man muss natürlich Kindern, die in Haushalten aufwachsen, wo sie niemanden mehr kennenlernen, für den Arbeiten etwas Normales ist, das wieder beibringen. Das ist ja verständlich, aber wenn wir jetzt von Menschen reden, die so schon aufgewachsen sind, die jetzt zwischen 20 und 30 Jahren alt sind: Sind das auch zum Teil Leute, die verloren sind, bei denen man nichts mehr machen kann?

Kocka: Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass man auch im Erwachsenenalter lernen kann, dass, wenn man neue Chancen geboten bekommt, man auch in neuer Weise darauf reagieren kann. Aber es ist natürlich leichter mit sehr jungen Menschen solche Einstellungen zu erproben und zu trainieren. Und solche Einstellungen sollten wir als wünschenswert halten.

Kassel: Wir haben ja angefangen mit der Frage, ob das revolutionär ist, was Kurt Beck gesagt hat. Sie haben gesagt: Revolutionär, na ja, so würden Sie es nicht nennen, aber bemerkenswert ist es schon. Glauben Sie denn, dass jetzt von Seiten der SPD oder vielleicht auch anderen tatsächlich eine neue Form der Beschäftigung mit diesem - ich benutze das Wort jetzt auch noch einmal - mit diesem Unterschichtenproblem beginnen wird?

Kocka: Ich könnte mir das denken. Es ist auch nicht so, als ob die SPD das in den vorangehenden Jahren ganz und gar abgeblendet hätte. Das ist nicht der Fall, insofern ist das, was Beck, sagt auch nicht völlig neu. Die Frage ist die nach den Therapien und ich muss sagen, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind natürlich die Leistungen für langfristig nicht arbeitende, nicht erwerbstätige Menschen bei uns relativ hoch. Und damit ist der Anreiz, in solchen Verhältnissen zu bleiben, statt sich in nicht sehr gut bezahlte und nicht sehr gut angesehene und komplizierte Arbeitsverhältnisse hineinzubegeben sehr hoch. Ich finde, die SPD sollte sich noch einmal überlegen, ob sie die neue Diskussion, ob da nicht ein bisschen abgeschmolzen werden kann, ob sie die wirklich so blockieren will, wie sie das bisher angekündigt hat.

Kassel: Herzlichen Dank! Der Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin, Jürgen Kocka, über die so genannte neue Unterschicht und wie man mit ihr umgehen könnte.
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