Klosterfrau Melissengeist

Das besondere Heilwasser einer Nonne

Die Ordensschwester Marie Clementine Martin
Die Ordensschwester Marie Clementine Martin © picture alliance / dpa
Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 14.02.2016
Vor rund 200 Jahren erfand die Nonne Maria Clementine Martin den berühmten Klosterfrau Melissengeist. Der Kölner Anwalt Helmut Heckelmann fand nun heraus, dass nicht nur wohltätiges Engagement zu dieser Erfindung führte.
Mächtige alte Bäume und taxusgesäumte Alleen. Zwischen dichtem grünen Laub erheben sich trauernde Engel und lorbeerbekränzte Jünglinge. Vor einem schlichten neogotischen Sockel, der ein Kreuz trägt, bleibt Detlef Rick, Führer auf dem berühmten Kölner Melatenfriedhof stehen:
"Meine Oma nahm zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ihren "Klosterfrau Melissengeist". 79 prozentig inwendig! Meine Oma hat ja keinen Alkohol getrunken, nein!"
Ein Erlebnis, das offenbar keineswegs auf Herrn Ricks Großmutter beschränkt war. Der Kölner Jurist Helmut Heckelmann hat da ganz ähnliche familieninterne Erfahrungen:
"Meine Großmutter hat auch 'Klosterfrau Melissengeist' getrunken – und mitunter habe ich dann auch gemerkt, dass die einen leichten Schwips hatte."
Ein Rechtsanwalt und seine Liebe zu diesem ganz besonderen Schnaps
Die für den erhöhten Alkoholpegel älterer Damen Verantwortliche ruht hier auf dem Melatenfriedhof: die Nonne Maria Clementine Martin. Ihren Namen kennen heute wohl nur noch die wenigsten; Weltruf dagegen genießt ihr Produkt:
"Ein reines Kräutergebräu mit einem hochprozentigen Anteil Schnaps. Es sollen ja 13 Kräuter darin enthalten sein: ätherische Öle, Melissenblätter, Alantwurzel, Engelwurzel, Enzian, Zimt und Bitterorangenschale."
Kurz: "Klosterfrau Melissengeist". Es ist das Heilwasser, auf das Verschnupfte, Kopfweh- oder Muskelkatergeplagte seit rund 200 Jahren schwören und das in keiner Hausapotheke fehlen darf. Bei so viel Popularität des Erzeugnisses allerdings stand die Erfinderin stets in dessen Schatten. Bis sich vor 40 Jahren der Kölner Rechtsanwalt Helmut Heckelmann berufsbedingt mit der frommen Gralshüterin klösterlicher Heilkunst beschäftigen musste:
"Und zwar war das so, dass ein Mandant zu mir kam und hatte eine Rezeptur, die auf Maria Clementine Martin zurückging. Richtiger, auf deren Alleinerben, ein späterer Kaufmann, Peter Gustav Schaeben. Das bot ich der Firma Klosterfrau an, diese Rezeptur - und die hatte dann erklärt, dass die daran wenig Interesse hätte. Und dann hatte ich der Klosterfraufirma mitgeteilt, dass ich das dann anderen Arzneimittelherstellern mal anböte. Das führte dann dazu, dass doch ein Interesse erschien, nämlich man hat meinen Mandanten auf Herausgabe dieser Rezeptur verklagt und hatte einen Gegenstandswert von 250.000 D-Mark für ein Blatt Papier angesetzt. Der Prozess ging für die Firma Klosterfrau verloren."
Nach der Familie Schaeben wird Wilhelm Doerenkamp Eigentümer des Unternehmens. Nach dessen Tod wird eine Stiftung im schweizerischen Chur gegründet, die als Holding das Aufsichtsorgan der unterschiedlichen Länder- und Firmengruppen bildet. 2006 wird der Konzern in "Klosterfrau Healthcare Group" umbenannt. Nach diesem Prozess ist Helmut Heckelmanns Interesse an dem Unternehmen, vor allem aber an Maria Clementine Martin geweckt. Nun will er wissen:
"Wie ist die Firma entstanden? Was war das für eine Frau?"
Jedenfalls eine ganz andere als bis dahin allgemein angenommen wurde: keineswegs nur eine sanfte Gottesdienerin, die zum Wohl ihrer Mitmenschen Heiltränke braute, sondern auch eine raffinierte, geradezu gerissene Unternehmerin.
Maria Clementine Martin wird 1775 in Brüssel in stürmische Zeiten hinein-geboren; ihr Lebensweg ist von Aufstieg und Niedergang Napoleons und von den Befreiungskriegen gegen ihn geprägt:
"Sie ging dann als Sechzehnjährige in ein Kloster in Coesfeld, das war ein kontemplativer Orden, ein Kloster der Annunciatinnen, und dann war sie dort von 1792 bis 1803. Im Rahmen des Reichsdeputationshauptschlusses - Europa wurde ja neu geordnet durch die Situation mit Napoleon - wurde sie dort vertrieben. Sie musste dann mit dem gesamten Konvent noch in ein anderes Kloster umziehen, nämlich Marienflucht in Glane an der holländischen Grenze. Dort blieb sie noch bis 1811… Und dann kam die Säkularisation."
Der große kommerzielle Durchbruch kam 1827
Klöster, Abteien und Konvente werden aufgelöst, Priester, Mönche, Nonnen sind nun auf sich gestellt. Für Maria Clementine Martin eine Herausforderung, die sie mühelos meistert:
Sie zieht in die Nähe der Stadt Waterloo, wo sie in der letzten Schlacht gegen Napoleon die verwundeten "tapferen Preußen" so hingebungsvoll pflegt, dass Feldmarschall Blücher sich für sie einsetzt und ihr eine königliche Leibrente von 160 Goldtalern verschafft:
"Um in den Genuss der Leibrente zu kommen, ist sie nach Münster zurückgekehrt in das Preußenreich. Und dort ist sie aufgefallen mit einem Verfahren wegen Quacksalberei: sie hat eine Art von Paste, Tinktur, Salbe entwickelt und hat dann Erkrankte an sogenannten Fistel- und Krebsschäden sanieren wollen. Und das vestieß ganz klar gegen die Medizinalordnung. Und die preußischen Behörden, die ihr ja sonst gewogen waren durch den Einsatz in Waterloo, haben ihr das verboten."
Der große kommerzielle Durchbruch kommt 1827 in Köln, als sie erstmals in ihrem kleinen Destillationsbetrieb einen "Melissen- oder Carmelitergeist" herstellt. Das Rezept, so behauptet sie, stamme aus ihrem alten Kloster Coesfeld:
"Vieles, was sie behauptet hat, konnte ich mit diesen Recherchen überhaupt nicht finden. Ich habe kein einziges Blatt Papier gefunden, dass das wahr war…"
Sie selber habe, so erklärt sie ihrer Kundschaft, die Heilkunst bei den Brüsseler Karmelitinnen studiert. Was ebenfalls bezweifelt werden darf:
"Das ist Legende und beinahe schon Märchen, was sie alles für Kenntnisse hätte."
Also, alles fromme Lügen? Mag sein. Dennoch folgt eine große Trauergemeinde dem Leichenzug, als Maria Clementine Martin im August 1843 begraben wird:
"Sie liegt auf Melaten neben der Kapelle. Sie war immer fromm."
Obwohl sie es - nun, ja - weder mit der Wahrheit noch mit gewissen unternehmerischen Tugenden so genau genommen hat?
"Man könnte es elegant ausdrücken: Corriger la fortune - so würde ich das mal sagen."

Helmut Heckelmann: "Maria Clementine Martin 1774-1843"
Verlag Monsenstein & Vannerdat, Münster 2015, 18,50 Euro