Klosterbesuch auf Zeit

Bettina von Clausewitz · 12.04.2008
Endlich mal Zeit für sich haben, Ballast abwerfen und sich neu orientieren - für viele Menschen sind Klöster und Kommunitäten zur gefragten Adresse für eine Auszeit geworden. Der Trend ist unverkennbar. Auch die eher nüchterne evangelische Kirche hat den Reichtum von Kommunitäten neu entdeckt.
"Eine Kommunität zu bitten, hier ins Augustinerkloster zu kommen, war natürlich eine grundlegende Entscheidung, von der ich sagen würde heute: Die haben gar nicht gewusst, was sie da her bitten. Denn wir haben angefangen mit unseren vier Gebetszeiten. Benediktinisch zu leben heißt ja, dem Gebet nichts vorzuziehen. Und das haben wir getan. Das hat natürlich zunächst mal einen kleineren Aufschrei geben."

Auch wenn das liturgische Gebet der Schwestern eher besinnlich klingt:

"Ich habe dich bei deiner Hand gefasst und dich behütet."

Elf Jahre nach ihrem Einzug in das "Evangelische Augustinerkloster zu Erfurt" muss die leitende Schwester Ruth Meili noch immer schmunzeln, wenn sie davon erzählt. In der örtlichen Presse hieß es schon bald über die Benediktinerinnen der "Communität Casteller Ring" (CCR) aus Bayern: "Segensreicher 'Sprung’ von West nach Ost." Schließlich waren sie extra gekommen, um das seit fast 500 Jahren säkularisierte Kloster wieder mit geistlichem Leben zu füllen. Zunächst jedoch waren Skepsis und Fremdheit groß.

"Einmal: Die beten ja katholisch, also Gregorianik. Zweitens die haben ein Gewand an. Die verneigen sich. Die machen ein Kreuzzeichen. Also, das hat so einen kleineren Aufstand gegeben in der evangelischen Christenheit hier im Thüringer Land, bis hin zur Formulierung 'Verrat am reformatorischen Erbe'. Das, muss ich sagen, das hat sich alles gelegt."

Und so feiern die sechs Ordenfrauen regelmäßig im Chor der Augustinerkirche viermal täglich ihre Andachen: zwischen sieben Uhr morgens und abends um acht. Verlässlich wie der Schlag der Turmuhr und offen für alle - für manche ist das wie ein Fels in der Brandung des stressigen Alltags.

Bundesweit sind solche Angebote zunehmend gefragt. So hat etwa die EKD, die Evangelische Kirche in Deutschland, im Juni 2007 ein 50-Seiten-Papier über "Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften" veröffentlicht. "Verbindlich leben", so der Titel. Hier wird deutlich benannt, dass Klöster und Kommunitäten in den letzten Jahren auch im Protestantismus immer wichtiger geworden sind. Zitat:

"Sie sind ein Schatz der evangelischen Kirche, den es zu fördern und zu festigen (gilt)."

Entsprechend gibt es seit Jahren ein großes Interesse gerade junger Menschen an dem Angebot von "Klöstern auf Zeit". Für eine bestimmte Dauer und biografische Wegstrecke möchte man eintauchen in ein Klosterleben, möchte einen Raum der Stille mitten im Strom der Zeit entdecken und so Halt finden vor Gott und in sich.

Spiritualität auch als Lebenshilfe - auf diesem Hintergrund ist die EKD-Studie beides: Trendansage und Bestandsaufnahme. Der Übersicht zufolge gibt es in Deutschland etwa 120 geistliche Gemeinschaften. Darunter einerseits so traditionsreiche Zentren wie Selbitz, die Communität Casteller Ring oder Imbshausen, andererseits Familiengemeinschaften seit Ende der 60er Jahre. Hinzu kommen rund 100 diakonische Einrichtungen wie die Diakonissenmutterhäuser etwa aus dem 19. Jahrhundert.

Oberkirchenrat Thies Gundlach aus Hannover hat die Veröffentlichung im Auftrag der Evangelischen Kirche betreut:

"Der Schatz ist wirklich - nach einer Phase, wo wir immer auch sehr stark die politisch-gesellschaftliche Verantwortung des Christentums und des Protestantismus im Speziellen betont haben - auch die geistliche Tiefe neu zu entdecken. Vor diesem Hintergrund ist es, glaube ich, wie die Wiederentdeckung der eigenen Quellenlandschaft, die nicht alternativ ist zu der politischen Verantwortung. Viele dieser Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften haben ja auch eine weltweite ökumenische Verantwortung, eine sozialdiakonische Verantwortung. Also es ist beileibe nicht so, dass die einen nur beten und die anderen machen ein bisschen gesellschaftliche Verantwortung, sondern die Verbindung beider Dimensionen, das ist eine sehr besondere Herausforderung und insofern wirklich ein Schatz der Kirche."

Ein "Schatz", der mancherorts noch zu heben ist. Im Augustinerkloster zu Erfurt jedoch ist das Bewusstsein, in den Schwestern etwas Besonderes zu haben, mittlerweile vorhanden. Auch durch ihre Gemeinde- und Sozialarbeit. Herzstück dieser Arbeit ist die "Klosterstube", ein neu geschaffenes Café neben der Kirche, das auch bekannt ist für seinen leckeren selbst gebackenen Kuchen: eine Anlaufstelle für Touristen, Einkaufsbummler und Einsame gleichermaßen.

Die anfängliche Fremdheit ist mittlerweile der Faszination gewichen. Die Skepsis dem Respekt für die Ordensfrauen, die 1996 von der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen zur Pionierarbeit berufen worden sind:

"Der Hauptgedanke war tatsächlich der: Wenn es ein Kloster ist, wie können wir eigentlich klösterliches Leben hier wieder reinbringen in dieses Kloster und in diese Kirche?","

erzählt Pröpstin Elfriede Begrich. Das Kloster steht zwar im "Kernland der Reformation" - Luther hat hier seine ersten Jahre als junger Mönch verbracht - gleichzeitig sei die Religiosität in DDR-Zeiten jedoch "ausgedünnt und abgebrochen", so Begrich:

""Dieses Augustinerkloster lebt spirituell tatsächlich von dem Geist, den die Schwestern hier rein gebracht haben und von den Touristen, je nachdem wie viele Busse hier Sonntags früh um halb zehn ankommen, entsprechend ist die Kirche voll oder auch leer. Und je nachdem, was für Tagungen hier sind."

Die temperamentvolle, zierliche Theologin Elfriede Begrich ist Pröpstin von Erfurt-Nordhausen und damit Chefin von fünf Superintendenten. Gleichzeitig fungiert sie als Vorsitzende des Kuratoriums im Augustinerkloster, das neben der Kommunität eine bundesweit gefragte Tagungsstätte beherbergt, mit Gästezimmern und Veranstaltungssälen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten kann Begrich sich heute das Kloster ohne die Benediktinerinnen nicht mehr vorstellen.

"Die Klosterstube, die wird unglaublich gut angenommen und die ist nahezu überfüllt immer, und die Gespräche, die es da gibt, und das geistliche und leibliche Wohl ist da eine wunderbare Kombination. Die Gebete sind schwerer, da denke ich, ist das Entscheidende wirklich, dass die Stadt und die Menschen wissen: Hier wird gebetet! Ich muss nicht dabei sein, aber es ist ein Ort, an dem vier mal pro Tag gebetet wird, und wo die auch die Zettel, die die da dran heften, in der Kirche, wirklich jeden Mittag abgenommen werden, das halte ich für einen ganz, ganz großen Schatz, den haben wir sonst so nicht."

"Da kann jeder, der hier hereinkommt und gerne eine Sorge hier lassen möchte, kann sie da hinschreiben und im Mittagsgebet nimmt jeweils diejenige von uns, die gerade den Dienst der Liturgin hat, nimmt etliche der Anliegen auf, so dass in einer Woche die ganze Tafel durchgebetet wird, im Mittagsgebet, aber auch in der persönlichen stillen Zeit."

Eine schlichte Pinnwand mit anonymen Gebeten, leeren Zetteln und Stiften im Eingang der Kirche: Dicht an dicht hängen sie da, jeder eine eigene Geschichte. Aber für Schwester Martina Mowitz, die auch verantwortlich für Klosterführungen ist, sind sie weit mehr als Papier; ebenso wie für ihre Mitschwestern. Es sind Herzenssachen fremder Menschen, die gewissenhaft vor Gott gebracht werden, als wären es die eigenen.

"Gesundheit spielt eine große Rolle, zwischenmenschliche Probleme, Eheprobleme, Generationenprobleme, Arbeitslosigkeit, so die Dinge, die uns alle immer wieder treffen –-ja, so ein bisschen wie eine Klagemauer, aber nicht nur. Hin und wieder sind auch Zettel da zu finden, hier zum Beispiel ganz oben: 'Danke für unser gesundes Kind.'"

Auf den ersten Blick mag das Leben der Schwestern etwas altmodisch wirken: Sie tragen Blusen, Wolljacken und wadenlange Faltenröcke, leben in Armut, Keuschheit und Gehorsam - und sie haben einen streng geregelten Tag. Bei genauerem Hinsehen jedoch, liegt genau in diesem Leben auch ihre spirituelle Kraft und eine Ausstrahlung, die alle in ihrer Nähe spüren: diejenigen, die Stille suchend zu Einkehrtagen, Exerzitien oder Einzelgesprächen kommen, von der ausgebrannten Sozialarbeiterin bis zum gestressten Geschäftsmann. Aber auch diejenigen, die sich im Lauf der Jahre rings um die Kommunität und die ordinierte Theologin Schwester Ruth zu einer Gemeinde zusammengefunden haben. Theologiedozent Andreas Lindner etwa mit seiner Frau und fünf Kindern, der von sich sagt, er habe eine typische DDR-Biografie:

"Die Komplet, das letzte Gebet, um 20 Uhr, da kann man zu sich selber finden, und ich finde das generell sehr schön an diesen Wechselgesängen teilzunehmen. Das vermittelt wirklich innere Ruhe, die man häufig im beruflichen Alltag nicht hat, und man bekommt auch eine Ahnung dafür, dass Glaube eben auch im Herzen stattfindet - nicht im Kopf! Auf jeden Fall muss man sagen, dass es ein alternativer Entwurf ist, Glauben zu leben, der ja in unserer evangelischen Kirche so selten ist, den ich aber äußerst spannend und attraktiv finde."

Ähnlich ergeht es der Ost-Berliner Studentin Linda Arens und der 15-jährigen Schülerin Lioba Gebhardt aus Gera. Spirituelle Schatzsuche in einer fremden Welt - beiden macht es Spaß, ein wenig "Kloster auf Zeit" auszuprobieren und im Café-Betrieb mitzuarbeiten.

"Es ist schon was Besonderes, den Alltag damit zu unterbrechen, wirklich: Okay, jetzt ist wieder Besinnung. Wenn man meinetwegen aus der lauten Klosterstube kommt am Vormittag und dann ins Mittagsgebet geht. Ich komme aus einem absolut unchristlichen Kontext. Im Prinzip kam das dadurch, dass ich mein Freiwilliges Soziales Jahr auf dem Schwanberg, dem Mutterhaus sozusagen, gemacht habe. Genau dadurch habe ich das hier kennen gelernt."

"Ich hatte einfach Zeit und keine andere Idee, kein Geld irgendwo hinzufahren und so. Viermal Gebet am Tag war ein bisschen sehr überraschend für mich. Ich freu mich schon auf die Klosterstube, aber sonst weiß ich echt nicht, was ich hier noch mache. Ich hab auch noch überhaupt keine Ahnung, was ich später mal werden will, vielleicht will ich ja auch mal Nonne werden."

Noch ist das Leben eine Baustelle für Linda und Lioba, vieles ist möglich, Neues im Werden. Ähnlich wie im Augustinerkloster, wo derzeit - zumindest an Wochentagen - keine besinnliche Stille herrscht, sondern Baulärm. Hier wird die durch Bomben 1945 zerstörte Klosterbibliothek und ein Waidhaus wieder aufgebaut, mehr Platz und Attraktion für zukünftige Besucher - und viel Lärm und Staub für die Gegenwärtigen.

Kein Problem für die Schwestern. Sie lieben zwar klösterliche Stille und ihre Gebete als ständig sprudelnde Kraftquelle, eine weltfremde Innerlichkeit jedoch ist nicht ihre Sache, ganz im Gegenteil. Sie sind bekannt bei Sozialämtern und Arbeitsämtern, und sie mischen auch am Runden Tisch in der Stadtpolitik mit: ein ganzheitliches Engagement für andere. Nach den Anschlägen von New York am 11. September etwa kamen viele Menschen zu Gottesdiensten und Gebeten, die auch Pröpstin Begrich mit gestaltete. Ebenso nach dem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium im April 2002, wie Schwester Ruth erzählt:

"Und wenn so was passiert, dann schaltet es in den Menschen drin: in die Kirche, da kann uns geholfen werden. Sie bewahren eine Erinnerung in sich, und das ist etwas ganz Kostbares, was sofort wieder auftaucht, wenn zum Beispiel jemand ein persönliches schweres Schicksal zu tragen hat: Plötzlich sind die in der Kirche."

Nicht nur wenn es brennt, sondern auch im Alltag: Der Trend zum "Kloster auf Zeit" ist unverkennbar, meint die resolute 66-jährige Ruth Meili, die mit 30 ins Kloster der "Communität Casteller Ring" auf dem Schwanberg bei Würzburg eingetreten ist, damals schon Studienrätin für Biologie und Chemie. Heute begleitet sie junge Frauen wie Linda und Lioba in ihrer Lebensplanung, ebenso wie viele andere.

"Das erleben wir im Mutterhaus, das erleben wir auch hier, dass Jugendliche kommen nach dem Abitur, weil sie einfach nicht wissen, was sie machen sollen, was sie studieren sollen, die einfach ihre Spur noch nicht gefunden haben! Dann kommen welche, denen gekündigt wurde und die einfach nicht wissen, wie es weitergehen soll, die verzweifelt sind oder auch in Ehekrisen sind oder in persönlichen Krisen sind oder die einfach auch geistlich wachsen möchten und sich diese Auszeit nehmen. Das wird also immer mehr."

Eine erstaunliche Entwicklung: Während einerseits die Mitgliedszahlen der evangelischen Kirche bundesweit sinken, sind ihre spirituellen Angebote in Klöstern und Kommunitäten gefragt wie nie: "Stille Wochenenden", "Wüstentage" oder "Benedict for Management" etwa. Und sogar Pilgerwege stehen auf dem Programm, lange Zeit eine Domäne der Katholiken. Für Thies Gundlach, in seiner Funktion als Oberkirchenrat selbst eine Art Kirchenmanager, liegen die Gründe auch in der allgemeinen Beschleunigung:

"Ich glaube, dass die Unterbrechung unserer hyperdynamisierten und schnelllebigen und Email-gehetzten Welt ein zunehmend größeres Bedürfnis wird. Das wird natürlich auch unterschiedlich abgedeckt. Die einen fahren ein Wochenende ins Wellness-Hotel und die anderen doch mal nach Ceylon oder dergleichen. Aber diese Verbindung aus christlicher Tradition, Unterbrechung des Lebens und Verdichtung der eigenen Selbstwahrnehmung, das ist ein Angebot, das zunehmend wichtiger wird."

Kein Wunder, dass die EKD ihre Kommunitäten als wichtigen Baustein im aktuellen Reformprozess sieht. In einem viel diskutierten "Impulspapier" von 2006 - "Kirche der Freiheit" - werden sie ausdrücklich als eines der "Leuchtfeuer evangelischer Spiritualität" genannt, "Kommunitäre Profilgemeinden", die zu einem Mentalitätswandel und damit einer Zukunftssicherung der Kirche beitragen sollen. Offen ist bisher jedoch, ob das Interesse an den Angeboten der Kommunitäten - wie erhofft - auch der Gesamtkirche zugute kommt, der ganz normalen Gemeinde vor Ort.

Szenenwechsel: Vom Stadtkloster der Frauen - "Communität Casteller Ring" in Erfurt - zur bunten Familienkommunität "Laurentiuskonvent" auf dem Land, im 500-Seelen-Dorf Wethen bei Kassel. Wethen ist ein idyllisch gelegenes Dorf zwischen sanften Hügeln mit gepflegten Fachwerkhäusern, zumeist reine Wohnhäuser. Denn Bauernhöfe, wo die Kinder frische Kuhmilch holen können, gibt es nur noch wenige.

Die evangelische Kirche dagegen steht wie eh und je mitten im Dorf. Wer sich mittags um zwölf auf der Straße unterhalten will, muss das Geläut übertönen. Eine passende Klangkulisse für den 75-jährigen Theologen Wolfgang Kelm, einer der Gründungsväter des Laurentiuskonvents:

"Ich war 20 Jahre hier Dorfpfarrer, eigentlich sollte die Gemeinde längst geschlossen werden, weil es zu wenige sind, und man wollte das dann mit vielen zusammenlegen, das habe ich damals verhindern können, indem ich gesagt habe, ich bin bereit, als Teilzeitpfarrer hier Dienst zu tun."

Das war 1975 und die Kommunität "Laurentiuskonvent", der Wolfgang Kelm bis heute angehört, hatte gerade den ersten leer stehenden Bauernhof in Wethen gekauft. Zehn Erwachsene und sieben Kinder, darunter zwei Familien und einige nicht Verheiratete - aus Berlin und Rotterdam, Oldenburg und Bonn.

Gemeinsam starteten sie hier ein alternatives christliches Wohnprojekt mit vier Säulen: gemeinsame Küche, gemeinsame Kasse, Konsens und Kapelle. In der Satzung des Laurentiuskonvents heißt es, er verstehe sich als "eine Form konkreter Gemeinde Jesu Christi".

Er vereint Menschen, die bereit sind, als Antwort auf das Evangelium in verbindlicher und ganzheitlicher Weise gemeinsam zu leben. Die Gemeinschaft des Laurentiuskonvents ist ein Teil der weltweiten ökumenischen Christenheit. Das Zusammenleben im Laurentiuskonvent ermutigt und stärkt die Mitglieder, ihre Verantwortung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung wahrzunehmen und somit zur Erneuerung der Kirche und Veränderung der Welt beizutragen.

"Shalom" ist das tragende Motiv, damals wie heute, nach mehr als 30 Jahren. Inzwischen gibt es zwei Laurentiushöfe, in denen die vier Ks von Küche, Kasse, Konsens und Kapelle gelebt werden, inklusive Gütergemeinschaft. In anderen Häusern rings um diese beiden Höfe, die das Herzstück bilden, gehören etwa 50 Erwachsene und etliche Kinder zu einer assoziierten "Ökumenischen Gemeinschaft Wethen", wie Wolfgang Kelm erzählt:

"Ja, warum sind Menschen auf dem Weg nach Wethen? Sie erfahren von uns, hören von der Art unseres Lebens, unserer qualifizierten Nachbarschaft sag ich mal, fundiert auf einer christlichen Spiritualität und großer Offenheit, so dass niemand überfordert wird, irgendwelche Regeln und Bräuche zu übernehmen. Aber alle müssen bereit sein, an dieser Lern- und Suchbewegung teilzuhaben. Und das hat offenbar Anziehungskraft."

"Ich hatte schon ganz, ganz lange den Wunsch, mal in Gemeinschaft zu leben. Und habe dann einen Mann kennengelernt, der das auch hatte. Wir waren damals in Russland, wir haben in Russland gearbeitet, und mein Mann hatte hier mal Zivildienst gemacht, und wir kannten das hier, und dann haben wir gedacht: Wir probieren das mal aus. Lieber mal zwei Jahre so einen Traum leben und dann feststellen, es klappt dann doch nicht und dann ist er begraben, als einen Traum immer rum zu tragen, und er ist nie realisierbar aus irgendwelchen Gründen."

Für die Schweizerin Franziska Geissbühler hat sich das Risiko gelohnt. Statt der geplanten zwei Jahre lebt die 40-jährige Agraringenieurin jetzt schon zehn Jahre in Wethen, zusammen mit ihrem Mann. Er arbeitet als Controller bei einer Bank. Sie kümmert sich um die drei Kinder, die in Wethen geboren sind, hinein in eine dörfliche Beschaulichkeit.

Trotzdem sind hier die Probleme der ganzen Welt im Blick. In der Geschäftsstelle der bundesweiten "Ökumenischen Initiative Eine Welt" etwa, wo Franziska Geissbühler aktiv ist, oder in der internationalen Friedensinitiative "Schalom-Diakonat". In beiden arbeiten Mitglieder der Gemeinschaft.

"Der Traum ist wahr geworden, ja. Der Traum bestand darin, mit anderen Menschen möglichst viel zu teilen. Ich hab immer das Negativbeispiel vor Augen, was ich nicht will: Also, ich möchte nicht allein als Kleinfamilie irgendwo leben und alles alleine machen, sondern möglichst viel - angefangen vom Geld über Alltagsdinge regeln - teilen."

"Gesegnete Mahlzeit"

"Kann ich bitte Nudeln?"

Gemeinsames Mittagessen im Laurentiushof Diemelstraße, in einer gemütlich eingerichteten alten Wohnküche mit schrägen Balken und einem großen Esstisch: Franziska Geissbühler ist mit den Kindern aus ihrer Wohnung nebenan herübergekommen, Wolfgang Kelm sitzt mit am Tisch und ein weiterer Bewohner, der heute gekocht hat: selbstgemachte Frikadellen mit Nudeln und Salat. Das sind die Momente, die die 20-jährige Monika Lenz so liebt, Monne wie sie von allen genannt wird.

"Vor allem so die gemeinsamen Mahlzeiten, wenn ich mittags aus der Schule kam und man abends mit den Leuten sich austauschen konnte: 'Was hast du gemacht?' - 'Was hast du gemacht, wie ist dein Tag gelaufen? - 'Ja, mir geht es nicht so gut.' Wenn ich jetzt von der Arbeit komme - ich bin auf einem Bioland-Betrieb so zehn, zwölf Stunden - und man kommt abends rein, und es ist gar keiner da, den das interessiert, das fehlt voll."

Bis zum Abitur im nahe gelegenen Warburg hat Monne ein Jahr lang hier gewohnt, weil sie zu Hause Stress hatte, jetzt ist sie zu Besuch in Wethen; auch bei ihrer Freundin, die auf dem anderen Laurentiushof in der Mittelstraße wohnt, einmal hinten quer durch den Garten. Ob sie ihren Freunden von dem ungewöhnlichen Wohnprojekt erzählt hat? Aber sicher, meint Monne selbstbewusst:

"Aber ansonsten, man wird schon, glaub ich, belächelt. Vor allem diese Einkommensgemeinschaft wird sehr hinterfragt, ob das hinhauen kann, ob man das selber machen würde, und ich hab letzte Woche mich mit zwei Freundinnen unterhalten und die meinten: 'Ne, wenn ich das Geld selber verdiene, will ich das auch selber ausgeben können und ich möchte nicht immer nachfragen, ob ich was haben kann oder nicht.' Aber für mich war das irgendwie gar kein Problem. Ich find das viel besser, wenn man nicht so viel Verantwortung für das Geld hat, das man hat."

Weit mehr Verständnis für diese Lebensgestaltung, zu der auch regelmäßige Gottesdienste, Andachten und Gebetszeiten gehören, gibt es in der Evangelischen Kirche von Kurhessen Waldeck, von der Wethen ein Teil ist.

"Wir haben jedes Jahr ein Treffen, mit Vertreterinnen und Vertretern der Landeskirche, und da tauschen wir uns aus, was bei uns so läuft und wir haben ein Thema. Also wir sind hier in engem Austausch. Sie sieht uns, glaube ich, wohlwollend, neugierig, interessiert an","

meint Franziska Geissbühler, die als Vertreterin des Laurentiuskonvents mehrfach an solchen Gesprächen teilgenommen hat. Vertrauensbildende Maßnahmen und gegenseitige Unterstützung vor Ort, genau das ist auch ein Anliegen des EKD-Papiers "Verbindlich leben". Dort heißt es:

""Es geht nicht um eine 'Verklösterlichung' evangelischen Christseins, sondern um seine Bereicherung und Herausforderung durch theoretische und praktische Impulse von Seiten der Kommunitäten. Dabei wird das Erneuerungspotenzial für die Kirche nur dann dauerhaft zur Wirkung kommen, wenn es gelingt, Kommunitäten, Kirchengemeinden und Landeskirchen beziehungsweise EKD wechselseitig aufeinander zu beziehen, und zwar im Sinne gegenseitiger Ergänzung und Korrektur."

Nur so könne es zu einer "gegenseitigen Bereicherung" kommen: Leichter gesagt als getan, denn die bloße Existenz von Kommunitäten wird teilweise als Konkurrenz ausgelegt, Kommunitäten als die vermeintlichen "Virtuosen" der reinen christlichen Lehre, so sagen Kritiker. Während Konkurrenz in Wethen kaum erkennbar ist, dort wirkt die Kommunität eher als Vitaminspritze, spielt das Thema im Augustinerkloster zu Erfurt sehr wohl eine Rolle. Auch wenn die Aktivitäten der Schwestern von Pröpstin Elfriede Begrich positiv gesehen werden:

"Ich denke, es ist aber auch ein Anreiz, ich möchte das mehr als einen Anreiz sehen, denn mich ärgert, wenn in Gemeinden in der Stadt gesagt wird: 'Zwei, drei Konfirmanden, das lohnt sich nicht oder kommt mal nächstes Jahr wieder.' Dann landen die bei der Schwester Ruth.
Und plötzlich hat sie eben auch eine junge Gemeinde, wo woanders die jungen Gemeinden immer rarer werden."

Tatsächlich fühlen junge Leute sich dort oft wohler, wo es nicht so traditionell zugeht, in der evangelischen Jugendeinrichtung "Weigle Haus" in Essen etwa, kurz WH genannt. In dem geräumigen alten Gebäude mit modernem Outfit zwischen Autobahn und Hauptbahnhof leben sechs junge Leute unter dem Dach als Wohngemeinschaft zusammen - auch ohne im bundesweiten Verzeichnis der EKD zu stehen. Wichtigste Devise hier: Offen für andere zu sein.

"Was ich halt besonders finde ist: Ich finde, dass wir Christen was ganz Tolles anbieten können, das ist die Gastfreundschaft. Und das kann jeder anbieten, egal wie viel oder wenig er hat. Und das war hier in der WG schon so gegeben, da musste ich nicht meine Mitbewohner überreden, dass wir doch gastfreundlich sein sollen. Das steht schon so im Konzept der WG. Das find ich total cool."
Gastfreundschaft im Geiste Jesu, für Christiane Schade, die gerade ihr Anerkennungsjahr als Jugendreferentin macht, ist das die ideale Lebensform; zumindest auf Zeit. Wichtigstes Accessoire in der gemeinsamen Wohnküche mit dem ultralangen Tisch ist die Kaffeemaschine:

"Die alte Maschine hieß 'Martha' und hat kürzlich ihren Geist aufgegeben, jetzt versorgt 'Bo' Gäste und Gastgeber. Etliche Kinder und Jugendliche kommen aber auch auf ein Glas Saft oder ein paar Spagetti vorbei. Hauptsache, hier ist jemand zum Reden! Manche Kids aus der Schulaufgabenhilfe 'Kapito' im WH sind morgens ohne Frühstück in die Schule gegangnen. Einige Jugendliche sind jeden Tag nebenan im Internet-Café und fühlen sich endlich mal willkommen."

Für die WG ist Gastfreundschaft Teil ihres Engagements in der Jugendgemeinde mit Sonntagsgottesdiensten und vielen anderen Angeboten. Die Studentin Nala Hölscher etwa ist in der Leitung der Jugendgemeinde aktiv, die eng mit der Erwachsenengemeinde im selben Haus zusammen arbeitet:

"Ich glaube, dass es diese WG nicht geben würde ohne das Weigle-Haus, weil die WG ist ja auch eingebettet ist in das Gesamtkonzept Jugendgemeinde. Also, das ist ja nicht normal, dass am Tag Jugendliche einfach so zu einer WG kommen und anschellen und fragen, ob sie reinkommen dürfen oder einfach nur kommen, weil sie irgendwelche Geschichten erzählen wollen. Das liegt ja daran, weil sie hier ins WH kommen und hier ihr Zuhause ist, und wir sozusagen auch ein Teil von dem Zuhause sind. Und so wird das ein großes Ganzes."

Von der Wohngemeinschaft junger Leute im Ruhrgebiet über den Laurentiushof im hessischen Wethen bis hin zu den Ordensfrauen im Augustinerkloster zu Erfurt - sie alle leben ihre Vision von christlicher Gemeinschaft, sie sind offen für andere und sie wagen alternative Lebensentwürfe. Auch wenn die Schwerpunkte unterschiedlich sind: vom Gebet, über den Shalom bis hin zur Gastfreundschaft, um nur einige Beispiele zu nennen.

Ganz allgemein gilt, dass geistliche Gemeinschaften durch ihren Lebensstil eine ganz spezielle Ausstrahlung gewinnen. Die spirituellen Schätze, die sie selbst gefunden haben, sind damit auch für andere zugänglich. Oberkirchenrat Thies Gundlach sieht deshalb für die Zukunft ein deutliches Entwicklungspotenzial.

"Also ich glaube, das ist ein Trend, der beginnt. Die Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften haben ihre beste Zeit noch vor sich. Weil man merkt, dass die Interessenten aus unterschiedlichen Milieus und aus weiteren Kreisen kommen. Das sind keineswegs nur innerkirchliche Leute, die plötzlich ein Interesse daran haben - letzter Beleg dafür sind die vielen Unternehmer, die plötzlich solche Unterbrechungszeiten brauchen. Insofern glaube ich, beginnt der Trend erst, und ich glaube, dass wir noch ein Wachstum erleben."