Klimapolitik im Europa-Wahlkampf

Zukunftsperspektiven gegen die rechtspopulistischen Leugner

29:32 Minuten
Auf dem Wahlplakat der AfD im April 2019 zur Europawahl steht "Lieber Diesel als grüne Spinnereien", Hintergrund ist ein Gemälde des Spätrenaissance-Malers Giuseppe Arcimboldo mit Figuren aus Gemüse.
Der Fokus der AfD verschiebt sich von Migrations- zusehends auf Klimafragen, sagt unser Gesprächsgast Alexander Carius. © imago images / Stefan Zeitz
Moderation: Patrick Garber · 11.05.2019
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Im Europa-Wahlkampf haben Rechtspopulisten das Klima-Thema für sich entdeckt. Die AfD leugnet den menschengemachten Klimawandel. Dagegen setzt der Politologe Alexander Carius auf positive Geschichten über eine nachhaltige Zukunft.
"Diesel retten" heißt es auf Plakaten der AfD zur Europawahl. Für die Rechtspopulisten gibt es keinen menschengemachten Klimawandel, Klimaschutz sei nur eine Methode, den Bürgern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Der Politologe Alexander Carius, Geschäftsführer der Berliner Denkfabrik adelphi, hat die klimapolitischen Vorstellungen der AfD und zwanzig weiterer rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa untersucht. Sein Fazit: Schlüssige klimapolitische Konzepte gibt es am rechten Rand nicht. Stattdessen sei das Klimathema eine Projektionsfläche für alles mögliche: Abneigung gegen die EU, die Eliten, die Wissenschaft.
Zwar könnten die erwarteten Stimmenzuwächse rechtspopulistischer Parteien bei der Europawahl die künftige euopäische Klimapolitik durchaus stören, meint Alexander Carius. Doch die Entscheidung darüber, ob Europa sich entschlossener als bisher gegen den Klimawandel stemmt, werde in der politischen Mitte fallen, nicht an den Rändern.
Und dazu müsse beim Klimaschutz größer gedacht werden als bisher. Der Einzelne kann durch sein Verhalten, etwa bei der Mobilität, zwar etwas beitragen, doch das reicht nicht, sagt Alexander Carius. Gefordert sei die Politik. Sie müsse Narrative für die Zukunft entwickeln und umsetzen: Positive Geschichten über ein nachhaltiges Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell statt Warnungen vor der Apokalypse. Damit die Bürger eine Vorstellung davon bekommen, wie ihr Leben in einer dekarbonisierten Welt ohne übermäßigen Ausstoß von Treibhausgasen aussehen kann.

Alexander Carius ist Mitbegründer und Geschäftsführer der Berliner Denkfabrik adelphi. Der Politikwissenschaftler forscht zur Zukunft von Demokratie und Regieren in den Themefeldern Global Governance, Nachhaltige Ressourcennutzung, Klimarisiken, Krisen- und Konfliktprävention, Migration und Flucht sowie Urbanisierung. Carius berät Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, internationale Organisationen, die Europäische Kommission sowie Verbände und Unternehmen.


Das Interview im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: Keine Sorge wegen das Klimas. Den menschengemachten Klimawandel gibt es nämlich gar nicht. Mit dieser äußerst fragwürdigen Botschaft kämpft die AfD, die Alternative für Deutschland, bei der anstehenden Europawahl um Stimmen.
Mein heutiger Gast Alexander Carius hat sich mit den steilen Thesen von Rechtspopulisten zur Klimaproblematik auseinandergesetzt und zwar nicht nur mit denen der AfD. Herr Carius, sie sind Mitbegründer und Geschäftsführer von adelphi. Das ist eine Denkfabrik hier in Berlin, die sich mit Klima, Umwelt und Entwicklung befasst. Sie haben kürzlich gemeinsam mit Ihrer Mitarbeiterin Stella Schaller eine Studie herausgegeben über die klimapolitischen Vorstellungen nicht nur der AfD, sondern von insgesamt 21 rechtspopulistischen Parteien in ganz Europa.
Bleiben wir aber erstmal bei der AfD. Die ist ja einst als Anti-Euro-Partei angetreten. Dann wurde sie Einwanderungs- und Asylpolitik-Bekämpfungs-Partei. – Warum macht sie jetzt auch mit dem Klimathema Wahlkampf? Was meinen Sie?
Carius: Das ist eine Beobachtung eigentlich in den sozialen Medien schon seit geraumer Zeit, dass die Position von AfD und auch AfD-Anhängern sich sehr deutlich verschiebt vom Migrationsthema hin zur Klimadebatte. Ich glaube, einer der wesentlichen Gründe, warum letztlich das Weltbild, politische Vorstellungen von AfD in das Klimathema rein projiziert sind, sind nicht so sehr die Fragen der Auswirkungen des Klimawandels, sondern eher grundsätzliche Fragen von Vorstellungen von Gesellschaft und Politik.
Zunächst einmal das Zweifeln an wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Klimawandel, das Diskreditieren von wissenschaftlichen Institutionen, die Infragestellung von zivilgesellschaftlichem Engagement, was ja sehr wichtig ist in der Klimapolitik, das Handeln in multilateralen Räumen, also in multilateralen Institutionen, was die Grundlage eigentlich ist für globalen Klimaschutz, die Frage auch, inwieweit natürlich klimapolitische Maßnahmen Auswirkungen auf Ökonomie und Gesellschaft haben. – Das sind aber im Wesentlichen Argumentationslinien, demokratische Strukturen und Strukturen der Funktionsfähigkeit von einer offenen, pluralistischen Gesellschaft infrage zu stellen.
Das ist das eigentliche Problem, von daher nicht unbedingt eine sehr sachliche Auseinandersetzung mit Klimapolitik, sondern eher das Infragestellen und das Torpedieren eigentlich der DNA, die Grundlage ist für Klimapolitik und für gesellschaftlichen Wandel.

Die absurden Argumente der Klimawandel-Leugner

Deutschlandfunk Kultur: Damit stellt die AfD ja den gesammelten Sachverstand von Klimaforschern aus aller Welt infrage. – Wie argumentiert man denn von Seiten der AfD oder überhaupt von Seiten von Rechtspopulisten gegen allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse?
Carius: Das sind unterschiedliche Strategien. Die eine Strategie ist, überhaupt Klimawissenschaft infrage zu stellen, was ja absurd ist eigentlich in der Klimapolitik, weil wir eigentlich kein anderes Politikfeld weltweit haben, in dem wir einen derartigen Konsens haben über die wissenschaftlichen Grundlagen für politische Entscheidungen. Wir haben den Weltklimarat. Im Weltklimarat arbeiten Tausende Wissenschaftler. Die kommen zu ihren Schlussfolgerungen über begutachtete wissenschaftliche Publikationen. Und wir haben zu der Kernfrage, die die AfD und auch andere Rechtspopulisten infrage stellen, einen Konsens von 97 Prozent. 97 Prozent aller wissenschaftlichen Publikationen sagen, dass der Klimawandel durch den Menschen, sein Handeln und die ökonomischen Aktivitäten verursacht wird.
Und die Strategie ist einfach. Die Strategie ist, ähnlich wie das Trump in den USA macht und sagt: Es gibt alternative facts. Es gibt Alternativen. Es gibt eine Minderheit, die eine andere Auffassung vertritt – in demokratischen Systemen völlig absurd, weil, wir werden zu keiner Frage in dieser Gesellschaft einen einhundertprozentigen Konsens haben. Und die Argumente, die angeführt werden, sind ja gar keine wissenschaftlichen. Das ist entweder natürlich die Frage, die in Zweifel gezogen wird, ist es durch den Menschen verursacht oder eben Ergebnis von über zig Jahrtausende tatsächlich zu beobachtende Klimaschwankungen. Das sind zum Teil absurde Argumente: "Wir leben gar nicht in einer Zeit von Überhitzung und Treibhauseffekt, sondern eher der globalen Abkühlung." Das sind Argumente, dass die Ergebnisse des Klimawandels, und das, was wir beobachten, auch im letzten Jahr 2018 im letzten Sommer in Deutschland, gar nicht durch den Klimawandel verursacht ist, sondern Wetterphänomene sind. Das ist der Einfluss von Sonnenstrahlungen oder auch kosmischen Strahlungen.
Das ist zum Teil relativ absurd und wird durch Klimawissenschaftler wie Levermann und Rahmstorf am Potsdam Institut regelmäßig auch auf den entsprechenden Plattformen korrigiert. Das entspricht einfach nicht der Wissenschaft. Aber das ist eben die Strategie, permanent falsche Behauptungen aufzustellen. Wir haben eine Aufmerksamkeitsökonomie weltweit und natürlich in den Medien, die auf jede noch so absurde These von Rechtspopulisten auch noch eingehen. Ich glaube, das ist mit ein großes Problem, aber eben auch Teil der Strategie.
Deutschlandfunk Kultur: Wen will die AfD damit denn ansprechen? Verunsicherte Dieselfahrer, Menschen, die sich über ihre hohe Stromrechnung oder über Windräder in der Landschaft ärgern?
Carius: Ich glaube, zunächst mal diejenigen, die skeptisch sind gegenüber gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, die skeptisch sind gegenüber, wie sie sagen, vermeintliche demokratische Strukturen, also, Stichwort Bürokratiemonster in Brüssel, und die auch skeptisch sind gegenüber jeder Form von elitären Statements. Kernaussage auch der AfD ist, dass Klimawandel – da gibt’s verschiedene Verschwörungstheorien – im Wesentlichen eben durch die Klimawissenschaft determiniert wird, und eine große Skepsis gegenüber Eliten haben. Das ist ja auch richtig. Die Klimawissenschaft ist etwas sehr Elitäres, etwas sehr Komplexes und erarbeitet werden muss und sich nicht unmittelbar eigentlich übersetzt in das, was Bürgerinnen und Bürger verstehen.
Das Absurde eigentlich an dieser Argumentationsweise ist, dass diejenigen, die die AfD ja auch ansprechen, eigentlich vom Klimawandel betroffen sind. Es wird ja oft gesagt, es seien eben die Marginalisierten, es sind diejenigen, die geringere Einkommen haben, was nicht so ganz stimmt, aber das ist ein großes Wählerpotenzial auf jeden Fall, die sind in nicht ganz unerheblichem Maße vom Klimawandel betroffen - Beschäftigte in der Landwirtschaft. Wir haben unglaubliche Schäden, allein 2018 283 Milliarden an klimarelevanten Schäden nur in der Europäischen Union. Also, das ist ein Widerspruch.
Und in der gesamten Argumentation rechtspopulistischer Parteien, nicht nur der AfD in Deutschland, gibt es diese Widersprüche zwischen Betroffenheit auf der einen Seite, aber dem entgegengesetzt dann eine Thematisierung, dass das eigentliche Problem nicht der Klimawandel und seine Auswirkungen ist, sondern das eigentliche Problem seien vermeintlich die Auswirkungen klimapolitischer Maßnahmen, die sich dann auswirken auf Stromrechnungen, die überhöht sind für einkommensschwache Haushalte oder eben auch Einschränkungen bedeuten für nationale Ökonomien.

Klimapolitik ohne Konzept

Deutschlandfunk Kultur: Ist das ein allgemeines Stänkern gegen die Klimapolitik, wie sie von der Bundesregierung, von der EU betrieben wird? Oder gibt’s da auch konkrete politische Gegenforderungen?
Carius: Nein, eigentlich nicht. Es gibt eigentlich in den Parteiprogrammen – sowohl der AfD als auch anderer Rechtspopulisten, die wir uns ja systematisch angeschaut haben in ganz Europa – keine klimapolitischen Konzeptionen. Das muss man zunächst mal konstatieren. Klimapolitik ist eine Projektionsfläche für eine Weltanschauung und ein Politikverständnis und Verständnis von Demokratie und Gesellschaft, das in die Klimadebatte rein projiziert wird. Aber das ist nicht unterlegt mit dem, was eigentlich Rechtspopulisten alternativ vielleicht auch wollen, welches Gesellschaftsbild oder welche Art unseres ökonomischen Handelns eigentlich aufrechterhalten werden soll.
Ich glaube, das wird sich ändern. Das wird sich ändern auch in Deutschland. Die AfD bekommt über die Finanzierung die Gelegenheit, eigene Parteistiftungsstrukturen aufzubauen. Ich denke, sie wird auch, und Steve Bannon in den USA betreibt das recht versteckt, aber recht aktiv…
Deutschlandfunk Kultur: Der ehemalige Berater von Donald Trump.
Carius: .. von Donald Trump, der angetreten ist, um die rechte Szene und die rechten Parteien in Europa stärker zu vernetzen und damit schlagkräftiger zu machen, tatsächlich sich überhaupt erstmal die Strukturen aufzubauen, um sich in verschiedenen Handlungsfeldern, und dazu gehört Klimapolitik, auch aufzustellen.
Deutschlandfunk Kultur: Neben der AfD haben Sie in Ihrer Studie noch 20 andere rechtspopulistische Parteien in Europa angeschaut, von der britischen Ukip über die FPÖ in Österreich bis hin zur Nationalen Allianz in Lettland. – Wo steht die AfD in dieser Parteienfamilie mit ihrer Klimapolitik?
Carius: Bei den 21 Parteien, die wir uns angeschaut haben, haben wir drei verschiedene Gruppen identifiziert:
Die einen, die den Klimawandel leugnen und auch systematisch, weil wir ja nicht nur Parteiprogramme uns angeschaut haben, sondern auch das Abstimmungsverhalten in dieser und in der vergangenen Legislaturperiode im Europäischen Parlament, systematisch gegen jede klimapolitische und energiepolitische Maßnahme gestimmt haben. Dazu gehört die FPÖ in Österreich. Dazu gehört die deutsche AfD. Dazu gehört die britische Ukip. Das sind die großen dieser ungefähr sieben Parteien dort in diesem Spektrum.
Wir haben dann eine relativ große Gruppe von elf Parteien, und man muss dazu sagen, sie sind alle heterogen, die eigentlich noch keine eindeutige Position zum Klimawandel entwickelt hat. Zum Teil widersprechen sich Aussagen in den Parteiprogrammen oder auch die Aussagen der Sprecher der Parteien oder Vorsitzender der Parteien gegenüber ihrem Wahlverhalten dann im Europäischen Parlament. Das ist eine relativ breite Gruppe. Dazu gehört auch Rassemblement National in Frankreich, also ehemals die Partei Le Pens. Dazu gehören aber auch radikale Parteien wie die Neofaschisten in Griechenland. Das ist also auch ein relativ breites Spektrum.
Dann haben wir eine dritte Gruppe, die auch relativ interessant ist. Das sind eigentlich die, die wir affirmative nenne, also diejenigen, die durchaus auch progressiven Klimaschutz betreiben und eine progressive Umweltpolitik betreiben. Das sind die rechten Parteien in Finnland. Das ist die ungarische Fidesz. Und das ist die lettische Nationale Allianz.
Fidesz ist vielleicht ein ganz interessantes Beispiel. Der Energiemix in Ungarn ist – anders als zum Beispiel in Polen – deutlich günstiger, wenig Kohleverstromung, viele erneuerbare Energien. Die Fidesz betreibt ja, was Menschen- und Freiheitsrechte angeht, eine explizit illiberale Politik, national genauso wie im Europäischen Parlament. Sie schränkt Freiheitsrechte der Zivilgesellschaft ein. Sie versucht Universitäten in ihrer Lehrtätigkeit und Finanzierung einzuschränken, die Presse einzuschränken. Und gleichzeitig aber auch macht sie eine progressive Naturschutzpolitik und auch eine progressive Klimapolitik. Selbst die FPÖ in der Regierungskoalition hat 2018 ein Programm vorgelegt, in Österreich 100 Prozent auf erneuerbare Energien zu setzen. – Also, das sind Widersprüche dort in dem, was sie zum Teil national klimapolitisch machen und wofür sie auf der europäischen Bühne eintreten.

Die AfD ist "relativ radikal"

Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, die AfD ist mit ihrer Haltung, der Leugnung des Klimawandels, des menschengemachten Klimawandels, relativ radikal innerhalb der Parteienfamilie?
Carius: Sie ist relativ radikal. Also, sie gehört eigentlich mit Ukip in Großbritannien und FPÖ in Österreich zu den radikalen Kräften. Sie gehören auch zu den großen Parteien im Europäischen Parlament jetzt schon und – so die Prognosen für das nächste Europäische Parlament – auch im nächsten Europäischen Parlament.
Deutschlandfunk Kultur: Bei der Europawahl in zwei Wochen werden den rechtspopulistischen Parteien ja ganz gute Chancen eingeräumt, ihren Stimmenanteil zu erhöhen. – Wenn es so käme, was würde das bedeuten für das nächste Europaparlament und für die europäische Klimapolitik, wenn eben mehr Rechtspopulisten in Straßburg im Parlament sitzen?
Carius: Also, wir haben ja jetzt schon fast 20 Prozent rechtspopulistische Parteien im Europäischen Parlament. Und die Umfragen sagen, dass wir etwa 23 bis 25 Prozent Rechtspopulisten dort haben.
Es gibt diejenigen, die sagen, es wird sich eigentlich nicht viel ändern, weil wir immer noch im Europäischen Parlament sehr stabile Mehrheiten haben. Aber ich glaube, die eigentliche Problematik entsteht, wenn man sich anschaut, dass wir ein Viertel der Parlamentarier Rechtspopulisten haben, die alles andere als progressive Klima- und Energiepolitik betreiben, wir gleichzeitig aber in 23 der 28 europäischen Mitgliedsstaaten bereits rechtspopulistische Parteien in den nationalen Parlamenten vertreten haben. Und wir haben mittlerweile in acht der europäischen Mitgliedsstaaten Rechtspopulisten in Koalitionsregierungen vertreten. Aller Voraussicht nach wird die italienische Lega Nord Salvini als Kommissar vorschlagen. Das heißt, wir werden in der Kommission, im Europäischen Rat, also wo die Stimmen der nationalen Regierungen ausschlaggebend sind, und im Europäischen Parlament, wie ich finde, eine toxische Mischung haben, die nicht unbedingt dazu geeignet ist, progressive Energie- und Klimapolitik zu betreiben.
Und ich glaube, die Relevanz wird sich im Wesentlichen auch nicht daraus ergeben, dass Gesetzgebungsvorhaben weiterhin verwässert werden. Damit ist zu rechnen. Das ist aber auch eine Beobachtung in dieser Legislatur, dass ja diese Parteien, die ich hier genannt habe, systematisch – gerade aus der ersten Gruppe – gegen alle oder den überwiegenden Teil der klima- und energiepolitischen Maßnahmen angetreten sind und votieren. Wir aber eigentlich was ganz anderes vorhaben. Wir haben im Pariser Klimaabkommen beschlossen, dass wir die Erderwärmung auf maximal zwei Grad begrenzen wollen, im günstigen Fall auf 1,5 Grad, und dass wir bis zur Mitte des Jahrhunderts auf dem Weg in eine dekarbonisierte Welt sein wollen.
Das heißt, eigentlich müssten wir das, was wir nämlich tun, transformativen Wandel, nämlich all das, was wir produzieren, konsumieren, wie wir uns ernähren, wie wir uns bewegen, völlig umstellen. Die Frage ist, ob in einem Parlament, in dem populistische Kräfte, übrigens auch nicht nur am rechten Rand, sondern auch am linken Rand, also die extremen Kräfte, eigentlich derart erstarken, dass das, was wir eigentlich wollen, nämlich uns hin zu einer dekarbonisierten Welt zu bewegen, überhaupt noch möglich ist. – Da bin ich äußerst skeptisch.

Klimapolitik entscheidet sich in der demokratischen Mitte

Deutschlandfunk Kultur: Besteht denn die Gefahr, dass bei größerem Gewicht von Rechtspopulisten nicht nur im Parlament, sondern – wie Sie gesagt haben – auch im Europäischen Rat durch die Regierungsbeteiligungen in den Mitgliedsländern dadurch auch Parteien, Kräfte, Regierungen, die mehr der Mitte zuneigen, sozusagen infiziert werden oder verführt werden, in diese Richtung ebenfalls zu gehen und eher auf die Bremse zu treten beim Klimaschutz?
Carius: Das kann man vermuten. Wenn man sich die Diskussion in Deutschland rund um das Thema Migration seit Ende 2015 anschaut, dann haben wir eine Konsensverschiebung nach rechts beobachtet, ob das seitens der FDP, der SPD oder der CDU war. Also, das ist in ähnlicher Weise natürlich auf europäischer Ebene zu vermuten. Wir wissen von einzelnen Entscheidungen dort im Parlament, dass die Änderungsanträge sowohl inhaltlich als auch in Zahl sich eigentlich nicht nennenswert unterschieden haben, was rechtspopulistische Parteien eingebracht haben oder eben auch die CDU innerhalb der EVP.
Ich glaube, das ist auch eine zentrale Aussage unserer Studie, dass die Zukunft der europäischen Klima- und Energiepolitik nicht an den extremen Rändern links und vor allen Dingen rechts entschieden wird, sondern sie wird entschieden tatsächlich in der demokratischen Mitte. Ich glaube, das ist das eigentliche Problem – gar nicht so sehr aus einer demokratischen Sicht –, dass man sich zu viel mit den zum Teil ja wirklich absolut wirren und irren Argumentationen von Rechtspopulisten, was Klimafakten angeht, auseinandersetzt, sondern dem etwas entgegenzusetzen, Zukunftsnarrative, die verständlich sind und wo Bürgerinnen und Bürger auch wirklich Lust haben mitzumachen. Ich glaube, daran mangelt es momentan.

Wir brauchen ein Zukunfts-Narrativ

Deutschlandfunk Kultur: Herr Carius, wir haben bis jetzt über die Gefahren gesprochen, die einer effektiven Klimapolitik durch Rechtspopulisten unterschiedlicher Couleur, aber auch durch Parteien der Mitte drohen können. Sie sind nicht nur Forscher, Sie sind auch Politikberater. Lassen Sie uns darüber reden, wie man Klimaschutz in der Öffentlichkeit kommuniziert, wie man ihn den Bürgern und Wählern sozusagen "verkauft". Was ist das Kommunikationsproblem für gute Klimapolitik, das dazu führt, dass Menschen, Wähler sich verführen lassen, ganz anders zu denken?
Carius: Damit ich etwas gut verkaufen kann, brauche ich erstmal ein gutes Produkt. Ich glaube, das Produkt ist noch nicht gut genug. Das große Problem eigentlich in der Klimapolitik – also, es gibt diejenigen, die zum Teil sagen, wir hatten in den letzten 20 Jahren Klimapolitik betrieben, aber mit mäßigen Erfolg, weil die Emissionen weiterhin steigen, das kann man so konstatieren – wir aber eigentlich überhaupt kein verlässliches Zukunfts-Narrativ haben.
Denn die Klimapolitik argumentiert ja im Wesentlichen durch Apokalypsen, durch eine Krisen-Kommunikation. Und das ist jetzt auch nochmal durch die ganze Bewegung von Fridays for Future in ihrer Dramatik natürlich nochmal verstärkt worden. Richtig ist, dass es eine Bewegung ist. Da ist ein neuer Drive in die Debatte gekommen. Der führt aber zu ganz merkwürdigen Reaktionen, wie wir eigentlich damit umgehen. Nämlich dieses Krisen-Narrativ, es sei fünf vor Zwölf. Oder rein faktisch, wenn wir mal runterrechnen, dass die Ziele aus dem Pariser Klimaabkommen bedeuten, dass wir für ein Zwei-Grad-Ziel noch 26 Jahre Zeit haben umzusteuern, für das 1,5-Grad-Ziel noch neun Jahre, dann setzen wir ja ziemlich klare Marken auch, wie wir uns zu entwickeln haben.
Das Problem ist allerdings, dass wir noch gar nicht richtig durchdekliniert haben: Wie sieht eigentlich eine dekarbonisierte Zukunft aus? Wenn wir in einer dekarbonisierten Welt im Jahre 2050 leben wollen und stellen das jetzt alles unter das Diktum "Klimawandel und Dekarbonisierung", wie sieht diese Welt aus? Welche Art von Kleidung trage ich? Wie arbeite ich? Wie sieht mein gesellschaftliches Zusammenleben aus, und zwar nicht von mir als Akademiker, sondern querbeet durch alle Schichten und Teile der Gesellschaft?
Ich glaube, diese Antwort ist noch nicht gegeben worden. Die gibt es weder in der Verkehrspolitik, die gibt es nicht in der Agrarpolitik. Und die gibt es mit Ansätzen natürlich im Bereich der Energiepolitik, weil wir dort relativ weit sind, was den Ausstieg aus der Kohleverstromung angeht und dem Ziel, 100 Prozent aus erneuerbaren Energien Strom zu produzieren.

"Die Politik hat ein Glaubwürdigkeitsproblem"

Deutschlandfunk Kultur: Also, ich habe gerade rausgehört: Zu viel Alarmismus vielleicht auch in der Klimadebatte, wenn man den Leuten seit Jahren erzählt, es ist fünf vor Zwölf und die Uhr tickt nicht weiter, dass es dann doch irgendwann ein Glaubwürdigkeitsproblem gibt?
Carius: Ich glaube, die Politik hat ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem. Wo würde es denn hinführen, wenn wir diese Ziele nicht erreichen? Wenn wir tatsächlich in neun Jahren nicht komplett umsteuern, und zwar komplett umsteuern in der Verkehrspolitik und in der Agrarpolitik, wo eigentlich fast gar nichts passiert momentan mit Blick auf ein signifikantes Absenken der Emissionen, dann führt das zu Ohnmacht und massiver Einschränkung von Handlungsoptionen, die wir haben.
Wenn wir uns die Geschwindigkeit angucken und auch inwieweit politische Systeme, das sind nicht nur die Parteien und Entscheidungsträger, sondern wir als Gesellschaft tatsächlich bereit sind, uns auch zu verändern, dann wird das auch zu einer, glaube ich, Glaubwürdigkeitskrise in einigen Jahren führen.
Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Die Stadt Kopenhagen hat gerade beschlossen, die ja ohnehin einen relativ hohen Anteil hat von Rad-Infrastruktur, weit über 600 Kilometer in den nächsten Jahren an Fahrradwegen auszubauen in Kopenhagen. Vergleichen Sie das mit Berlin. Wir haben ein Klimaschutzgesetz mit einer Komponente, den Fahrradverkehr zu stärken. Und der Berliner Senat kann sich momentan damit rühmen, hier und da in Berlin einige hundert Meter Fahrradwege gebaut zu haben. – Das Bild ist nicht unbedingt sehr optimistisch, was sich da zeichnet.
Aber das eine ist das Produkt. Das eine ist die Frage, was wir tatsächlich wollen. Das andere ist die Frage der Kommunikation. Wir haben eine relativ intensive Debatte momentan über eine Besteuerung fossiler Energieträger, also eine CO2-Steuer, die andere Staaten längst eingeführt haben. Das ist signifikant, dass die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer relativ zu Beginn der öffentlichen Debatte über eine CO2-Steuer gesagt hat: "Nee, die wollen wir nicht." – Wir wollen aber auch keine Verkehrswende. Wir wollen keine Agrarwende. Wir wollen nicht die erneuerbaren Energien fördern. – Also stellt sich ja die Frage: Wofür seid ihr denn eigentlich?
Da setzt natürlich und muss eigentlich politische Kommunikation ansetzen, ein Zukunfts-Narrativ zu entwickeln. Das Zukunfts-Narrativ als Antwort auf ein Krisen-Narrativ in Deutschland ist meistens ein verantwortungsethisches, moralisches. Das Problem ist, dass moralische Appelle weder zu anderen Einstellungen, geschweige denn zu einer Änderung des individuellen Verhaltens führen.

Nicht nur über Kosten, sondern über Gewinne reden

Deutschlandfunk Kultur: Die bisherige Debatte war nicht nur zu sehr auf Alarmismus ausgerichtet, sondern sie war auch zu moralingetränkt?
Carius: Das ist ja ein wichtiger Treiber. Moralisch klingt gleich so despektierlich, sagen wir mal, ein verantwortungsethisches Narrativ. Das ist schon wichtig, das brauchen wir in der Debatte. Aber ich glaube, was fehlt, ist ein klares Zukunfts-Narrativ oder auch mehrere Zukunfts-Narrative. Eines davon muss auf jeden Fall ein ökonomisches sein. In der gesamten Debatte über die Wirkung von klimapolitischen Maßnahmen, jetzt auch bei der CO2-Steuer, reden wir permanent nur über die Kosten. Wir reden aber nicht über die Gewinne eigentlich, die Gewinne für eine Gesellschaft - ökonomischer Natur, aber natürlich auch über Gewinne individuell oder für die gesamte Gesellschaft, was Gesundheit angeht, was Glücksgefühle angeht, was Freiräume angeht, was Räume für gesellschaftliches Zusammenleben angeht.
Also, es gibt mehrere Narrative. Wir brauchen bestimmt noch ein zweites Narrativ. Und das ist ein Digitalisierungs-Narrativ. Da stehen wir gerade mal am Beginn. Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen hat jüngst ein Gutachten präsentiert zum Thema Nachhaltigkeit und Digitalisierung, wo aufgezeigt wird, welche Chancen wir haben, über flächendeckende Breitbandtechnologien und vor allen Dingen Künstliche Intelligenz tatsächlich zu nachhaltigen sowohl Konsum-, als auch Produktionsmustern zu kommen. Diese Narrative brauchen wir. Und die müssen auch so erzählt werden, dass man sie sich in dieser Welt überhaupt selbst vorstellen kann.
Wenn wir das nicht können, dann ist es politisch äußerst riskant, Zielmarken zu setzen, die wir erreichen wollen über sehr abstrakte Normen wie: "Das Klimabudget, das wir haben, beträgt pro Kopf 2.300 Tonnen CO2." Wenn ich einmal einen interkontinentalen Flug mache, und das wollen viele Menschen, dann ist dieses Budget mit einem Mal aufgebraucht. Wenn ich eine Kreuzfahrt mache, ist es mit einem Mal aufgebraucht.

"Wir können relativ wenig individuell tun"

Deutschlandfunk Kultur: Aber ist der Appell an die individuelle Verantwortung denn falsch? Denn man kann sich ja nicht nur zurücklehnen und sagen: "Na gut, das muss die Politik entscheiden. Das müssen Technokraten entscheiden. Ich warte da drauf, dass mir als Bürger die Vorgaben gegeben werden. Und dann wird das schon gut sein."
Carius: Natürlich ist individuelles Verhalten wichtig und richtig. Aber wir werden es gesellschaftlich nicht verändern können. Ich kann mir noch so viel vornehmen, meine Autofahrten durch Fahrradfahrten zu ersetzen, mein Auto abzuschaffen und auf geteilten Individualverkehr über Car-Sharing zu setzen. Aber das wissen wir, dass dieses individuelle Verhalten nicht zu kollektiven gesamtgesellschaftlichen Veränderungen führt. Darum brauchen wir die Politik. Das reicht nicht. Das brauchen wir, aber das reicht eben nicht. Ich glaube, das ist einer der Trugschlüsse.
Anders Levermann vom Potsdam Institut, ein Klimaforscher, der hat kürzlich in der FAZ einen interessanten Vergleich gemacht zwischen Klimapolitik und Arbeitsmarktpolitik und hat gefragt: Sind Bürger für Vollbeschäftigung? – Jeder würde sagen: "Klar sind wir für Vollbeschäftigung." Und was würdest du, Sie individuell dafür tun? "Eher nichts. Wir können nichts dafür tun". Wir können relativ wenig individuell dafür tun. Und das ist, glaube ich, ein kritischer Punkt auch in der gesamten Klimadiskussion, dass wir natürlich sehr viele und zunehmend Menschen haben, die sich über ihr eigenes Tun, Arbeiten, Produzieren oder Konsumieren Gedanken machen und ihr Verhalten ändern, aber mehrheitlich das eben nicht passiert.
Ich glaube, um nochmal darauf zurückzukommen, was als ein Argument rechtspopulistischer Parteien sehr stark ist, ist ja dieses Argument, dass, wenn wir effektiven Klimaschutz hier in Europa und in Deutschland betreiben, das nur ein verschwindend geringer Anteil eigentlich an den globalen Emissionen ist und letztlich die globalen Emissionen in den USA, China, Indien und den anderen großen schnell wachsenden Schwellenländern mit hohen schnellen Modernisierungsraten eigentlich anwachsen. – Das ist ein Ohnmachtsargument.
Darum brauchen wir eben multilaterales Handeln. Wir können – und das ist eben der Fehlglaube – durch ein eigenes individuelles Verhalten nicht kollektiv dort hinkommen, wo wir hin wollen. Dazu brauchen wir Politik. Wir brauchen auch eine andere Form von Politik. Und diese andere Form von Politik ist mutiger oder muss mutiger sein. Ich denke auch, sie muss sehr viel radikaler sein. Die Befürchtung, dass mit einer Zunahme rechtspopulistischer Parteien in nationalen Parlamenten oder auch im Europäischen Parlament eine Radikalisierung des politischen Diskurses einsetzt, ist richtig, und zwar insbesondere auch in der Sprache und in der Art der politischen Taktik. Aber ich glaube vielmehr, dass die Radikalisierung in der Politik der gesellschaftlichen Auseinandersetzung dadurch noch viel befeuert werden muss, indem wir sehr viel ambitioniertere Vorschläge machen, wie gesellschaftliches Leben und auch wie eine Ökonomie in Zukunft funktionieren kann. Und die wird Gewinner und Verlierer haben. Da gibt es eben nicht "die" Lösung.
Deutschlandfunk Kultur: Das muss man dann auch ehrlich ansprechen, dass es nicht nur Win-Win-Geschichten geben wird, sondern dass es auch Verlierer gibt.
Carius: Ja, aber man darf den Diskurs nicht gleich zu Beginn abwürgen. Wenn man sagt, "ich will keine C02-Steuer", dann würde ich sagen: Es ist vielleicht intelligenter zu sagen: Lasst uns mal darüber diskutieren, mit welchen Instrumenten wir – wie wir es in allen anderen Politik- und Handlungsfeldern machen – das für diejenigen, die ungerechtfertigter Weise vielleicht davon betroffen sind, weil sie weniger fossile Energien verbrauchen, weil sie weniger Wohnraum haben oder nicht so viel fahren mit dem Auto, kompensieren können. Darüber, über diese Lösungen müssen wir doch streiten.
Wenn wir das nicht mal schaffen für solche kleinen Kinkerlitzchen wie eine CO2-Steuer, die auch nur ein Instrument aus ganz vielen eigentlich sein kann, wie wollen wir es dann schaffen eigentlich in den nächsten Jahren, innerhalb von einer Generation völlig umzusteuern und eine andere Art des Lebens und des Produzierens zu erreichen?

Gelbwesten und Fridays for Future

Deutschlandfunk Kultur: Radikalisierung sehen wir ja nicht nur in Parlamenten, sehen wir auch auf der Straße. Ich denke jetzt an die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, die ja angefangen hat als ein Protest erstmal gegen höhere Steuern auf Kraftstoffe, vor allem auf Diesel, dann aber ein ziemlich militantes Sammelbecken für Unzufriedene aller Art geworden ist und die französische Regierung erheblich unter Druck setzt. – Was lernen wir daraus?
Carius: Erstmal kann man beobachten, dass wir offensichtlich noch nicht so weit sind, dass die Mehrheit einer Bevölkerung klimapolitische Maßnahmen mitträgt. Das zweite, was wir daraus lernen, ist: Es ist äußerst politisch ungeschickt eingefädelt worden. Zwei Drittel der Bevölkerung in Frankreich leben nicht in den großen Städten, sondern sind Pendler. Die sind aufs Auto angewiesen. Ein nicht ganz kleiner Teil davon sind einkommensschwächere Haushalte dort. Und diese Maßnahme ist, obwohl wir ganz andere Beispiele in Europa haben, eingeführt worden, ohne darüber nachzudenken, ob diejenigen, die ungerechtfertigter Weise oder überproportional von der Einführung einer solchen Steuer, die ja Verhalten ändern und lenken soll als Lenkungsabgabe, eigentlich betroffen sind, ob wir die kompensieren können.
Das machen wir in Schweden oder in der Schweiz über Möglichkeiten der Verrechnung mit Krankenversicherungsbeiträgen oder pauschalen Rückerstattungen, wie das jetzt auch in Deutschland hier diskutiert worden ist. Diese Möglichkeiten gibt es ja.
Und der dritte Punkt ist natürlich die Frage: Was ist da eigentlich rein projiziert worden? Sie haben das angesprochen. Da ist ja nicht nur vom rechten Lager, das ist ja von allen möglichen politischen Lagern dieser Protest instrumentalisiert worden. So, wie ich es wahrnehme, würde ich sagen, meine Lesart der Gelbwesten-Proteste ist ein Entfernen von Politik eigentlich von ihren Bürgern. Wenn diese Art des politischen Diskurses, den wir zwingend brauchen, um auf diesem transformativen Pfad gemeinsam weiterzukommen und auch über Lösungen zu streiten, dann brauchen wir andere Mechanismen dazu. Wir brauchen Parlamente, weil, das ist der Ort, wo politische Auseinandersetzungen stattfinden. Wir brauchen aber möglicherweise auch eine ganz andere Form von Politik, indem Bürgerinnen und Bürger nicht nur über zivilgesellschaftliche Organisationen, sondern sehr viel direkter auch in den Austausch treten können, sich daran beteiligen können, Bedenken vortragen, vor allen Dingen aber auch Ideen vortragen, wie man Politik gestalten kann.
Ich glaube, das ist das, was momentan viele frustriert und viele Menschen auch in Frankreich frustriert hat, dass es in der Politik momentan wenige Erzählungen gibt oder Ansätze und natürlich auch Protagonisten gibt, wo es Lust macht, unbedingt dabei zu sein und mitzumachen. Es gibt nichts, was einen so richtig aus der Reserve lockt, Bewegung, wo man dabei sein muss. Das gibt es singulär. Und ich glaube, das ist das Interessante, dass sozusagen das Pendant zu den Gelbwesen momentan die Fridays-for-Future-Proteste sind. Was ja interessant ist, ist, dass eine fünfzehnjährige Schwedin mit einem eigenen individuellen Protest diese Bewegung ausgelöst hat. Das hat einen gewissen Appeal für viele junge Menschen, dort eben mitzumachen. Gesellschaftlicher Wandel hat sich ja in den vergangenen Jahrzehnten oder in der Geschichte eigentlich nicht unbedingt durch irgendwelche Politikinstrumente entwickelt, sondern dann, wenn Bewegungen entstanden sind – ob das Studentenbewegungen, Öko-Bewegungen oder auch Frauenbewegungen waren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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