Klage gegen einen realistischen Roman

Von Ruth Jung · 24.01.2007
Unter Napoleon III. kam es in Frankreich immer wieder zu Prozessen gegen Schriftsteller, deren Werke als unmoralisch galten. Ein prominentes Opfer wurde im Januar 1857 Gustave Flaubert. Mit seinen freizügigen Schilderungen des Ehebruchs seiner Romanheldin Madame Bovary habe er Sitte und Anstand verletzt, hieß es.
"Dein Buch ist schonungslos; diese Schonungslosigkeit bewirkt, dass die Rohheit gewisser Passagen noch stärker hervortritt. Die Leute, die sich darüber empören, sind wie die meisten Bourgeois: sie verwechseln die Schonungslosigkeit der Beschreibung mit Unmoral; man muss ihnen nur zeigen, dass sie sich irren. Das ist alles."

Der Schriftsteller Maxime du Camp im Januar 1857 an seinen Freund Gustave Flaubert über dessen Roman "Madame Bovary". 1857 erreichte der Erstling des damals noch unbekannten Flaubert auf einen Schlag eine Berühmtheit, von der viele Prix-Goncourt-Preisträger heute nur träumen können: Emma Bovary ist zweifellos die am häufigsten zitierte Romanheldin überhaupt.

Seit Oktober 1856 war der erste Teil in Fortsetzungen im Feuilleton der Wochenzeitschrift "Revue de Paris" erschienen und rief den Staatsanwalt auf den Plan. Im Zweiten Kaiserreich unter Napoleon III., er hatte sich 1852 zum Kaiser ernannt, kam es immer wieder zu so genannten Immoralismus-Prozessen gegen Schriftsteller. Die ersten Opfer waren 1853 die Brüder Goncourt gewesen. Mit Gustave Flaubert erschien am 24. Januar 1857 ein Mann mit Beziehungen zur politischen Klasse auf der Anklagebank.

"Man glaubte, einen armen Schlucker vor sich zu haben","

schreibt Flaubert seinem Bruder nach Rouen,

""doch als man feststellte, dass ich über einiges Vermögen verfüge und davon nicht schlecht lebe, gingen ihnen langsam die Augen auf. Es kommt unbedingt darauf an, dass man im Innenministerium weiß, wer wir sind in Rouen, dass wir eine alteingesessene normannische Familie sind und etwas darstellen."

Dieser Hintergrund ermöglichte es Gustave Flaubert, einen prominenten Verteidiger zu wählen, den Rechtsanwalt und Abgeordneten Jules Sénard aus Rouen, der in Paris politisch Karriere gemacht hatte. Am 29. Januar 1857 hielt Maitre Sénard ein vierstündiges fulminantes Plädoyer zur Verteidigung des Romans. Er nannte ihn ein Meisterwerk, für das man dem Autor Dank schulde. Den Stoff für "Madame Bovary" hatte Flaubert in einer Provinzzeitung unter den vermischten Nachrichten gefunden. Mit chirurgischer Präzision beschreibt er die Verstrickungen der unglücklichen Heldin, die aus ihrer Rolle als Ehefrau eines einfältigen Landarztes auszubrechen sucht und sich am Ende das Leben nimmt.

"Im tiefsten Grunde ihrer Seele wartete sie auf ein großes Ereignis. Wie schiffbrüchige Seeleute suchte sie mit verzweifelten Augen die Öde ihres Lebens ab und hielt Ausschau, ob nicht in weiter Ferne ein weißes Segel am dunstigen Horizont auftauchte."

Mit "Madame Bovary" begründete Flaubert eine neue literarische Gattung: den realistischen Roman. "Moeurs de Province", ein "Sittenbild aus der Provinz", so der Untertitel. Es war dieses Sittenbild, das Anstoß erregt hatte. Der Staatsanwalt erregte sich:

"Meine Herren! hat Madame Bovary etwa ihren Ehemann geliebt oder hat sie wenigstens versucht, ihn zu lieben? Nein, von Anfang an spielte sie die Rolle der Ehebrecherin. [...] Und wenn es also in dem gesamten Buch niemanden gibt, der diese Frau dazu bringt, sich zu beugen, wenn es also keine einzige Zeile gibt, in der die Unmoral des Ehebruchs gegeißelt wird, dann bin ich es, der im Recht ist: Das Buch ist unmoralisch!"

Unterwerfung und Gehorsam waren die geforderten Tugenden der bürgerlichen Ehefrau, entsprechend definierte der Code Civil ihre Rolle. In Wirklichkeit erreichte im Zweiten Kaiserreich die Entwicklung der modernen Waren- und Vergnügungsindustrie einen Höhepunkt; es war die Hochzeit der Bälle, der Operette, der großen Pariser Warenhäuser und der Prostitution. Als "Herrschaft der Königin Kokotte" bezeichnete der Kulturkritiker Eduard Fuchs diese Epoche und Walter Benjamin erkennt im Zweiten Kaiserreich die Phantasmagorie der kapitalistischen Kultur:

"Paris betätigt sich als Kapitale des Luxus und der Moden. Offenbach schreibt dem Pariser Leben den Rhythmus vor, die Operette ist die ironische Utopie einer dauernden Herrschaft des Kapitals."

Gustave Flaubert wurde schließlich freigesprochen. Als der Roman im April 1857 in zwei Bänden erschien, widmete er ihn seinem Strafverteidiger. Schon nach kurzer Zeit war die erste Auflage vergriffen. Charles Baudelaire hingegen wurde im August desselben Jahres zu einer Geldstrafe verurteilt, wegen Unmoral. Seine Gedichtsammlung "Les Fleurs du Mal", "Die Blumen des Bösen", konnte nur unter Einhaltung strenger Zensurvorgaben, also unvollständig, erscheinen.