Kirchengeschichte

Gottesdienst zwischen Zapfhahn und Aschenbechern

Ein Glas Pilsener Urquell Bier im Rudolfinum Bierkeller in Prag, Tschechische Republik.
Gottesdienst im Schankraum: Wenigstens war der Weg zum Frühschoppen nicht weit. © imago / Stefan M Prager
Von Thomas Senne · 30.04.2017
Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte Kirchenmangel. Der Grund: Die zahlreichen Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die in den Gemeinden nicht ohne weiteres Anschluss fanden. Doch die Not machte erfinderisch. Kurzerhand hielt man den Gottesdienst in Gaststätten ab.
Deutschland kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: zerstörte Städte, von Bomben beschädigte Privathäuser und öffentliche Gebäude. Überall herrschte Wohnraumnot. Auch Kirchen waren in manchen Regionen, insbesondere in Bayern, Mangelware. Und manchmal waren es einfach auch nur die "falschen", wie Birgit Speckle, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Referat "Kulturarbeit und Heimatpflege" des Bezirks Unterfranken, erklärt.
"Durch die große Zahl von Flüchtlingen, die nach Bayern kamen, waren plötzlich Menschen evangelischen Glaubens in überwiegend katholischen Gebieten und in überwiegend evangelischen Gebieten plötzlich Flüchtlinge katholischen Glaubens – wo gehen die hin? Zum einen konnte man jetzt in einem Akt früher Ökumene die Kirchen von der anderen Gemeinde nutzen. Das war natürlich dann die beste Lösung. Dann hat man oft Schulen genutzt. Mehrzweckhallen gab es wenige, Sporthallen gab es kaum ..."

Weltliche Vergnügungen und geistiges Wohl

Dafür aber etliche intakte Wirtshäuser, die – meistens im ersten Stock – große Säle besaßen. Verwendet wurden diese mit Parkett oder einfachen Dielenbrettern ausgestatteten Räume vor allem für weltliche Veranstaltungen: Festessen, Theater- und Kinoaufführungen, auch Boxwettkämpfe, Tanzveranstaltungen, Prüfungen, Fortbildungen, Werbeauftritte. Manche dienten als Bar, wo Hochprozentiges ausgeschenkt wurde und sich Liebeleien anbahnten. Und auch Gottesdienste fanden hier statt. Ob diese improvisierten Kirchenräume vorher auch geweiht wurden, ist nicht bekannt. Birgit Speckle dazu:
"Da war am Abend oft noch Tanz. Dann wurde da mehr oder weniger gelüftet. Da hing wahrscheinlich noch der Rauch im Saal oben. Und dann hat man einfach zwei, drei Tische zu einem Altar umgebaut, hat Stühle in Reihen gestellt. Und das war es dann im Wesentlichen, hat eine provisorische Sakristei im Vorraum eingerichtet. Vielleicht hing auch noch irgendwo eine Papierschlange an der Decke. Die Leute kamen dann, festlich gekleidet. Und das hat alles keine Rolle gespielt. Wichtiger war: Wir haben einen Raum, wo wir Gottesdienst feiern können."

Die Sakristei wurde improvisiert

Auf verblichenen Fotos aus dieser Zeit, die von der Würzburger Heimatforscherin in einem alten Buch über den Priesterberuf entdeckt wurden, ist auch eine improvisierte Sakristei zu sehen.
"Da sitzt ein Priester am Schanktresen aufgestützt vor einem Mädchen, das sein Gesangbuch hält und hört ganz offensichtlich zwischen Zapfhahn und Aschenbecher, mit Stola angetan, die Beichte, bereitet sich auf dem nächsten Bild – auch da wieder hinter dem Tresen und dem Schaltkasten und dem Waschbecken - offenbar auf den Gottesdienst vor. Vor ihm auf dem Schanktresen schon die Hostien zurechtgelegt..."
Auf einer anderen Fotografie sieht man Gläubige auf schlichten Stühlen, wie sie erwartungsvoll nach vorne zum Pfarrer blicken. Links vom Altar ragt ein großes Ofenrohr in den holzverkleideten Saal.
"Man hat ein Kreuz an die Wand gehängt. Man hat natürlich auf dem Altar Kerzen und ein bisschen Blumenschmuck aufgestellt, ein Marienbild an die Wand gehängt. Und das war es dann im Wesentlichen. Schlicht und einfach. Wichtig war: Es war ein Raum da, ein geschützter Raum, in dem alle Platz gefunden haben."

Die kirchliche Landschaft im Wandel

Detailliert untersucht sind derartige Ersatz-Kirchenräume der Nachkriegszeit bislang kaum. Ein überaus facettenreiches Thema, bei dem es sich lohnt, weiterzuforschen, meint denn auch Birgit Speckle.
"Ich denke dieses Thema ist für so viele Forschungsgebiete interessant. Es ist interessant für die Kirchengeschichte, für die Kirchenbaugeschichte, für die Volkskunde, für Kulturgeschichte, für Heimatforscher auch von einzelnen Orten. Da gibt es eine Raumnutzung, die im Moment einfach im Schweigen versinkt. Und wenn wir jetzt nicht die Zeitzeugen befragen – in fünf Jahren oder zehn Jahren werden wir leider die Gelegenheit nicht mehr haben. Das ist eines dieser Themen, wo ich sage: entweder jetzt oder gar nicht mehr."
Die Geschichte dieser Ersatz-Kirchenräume zeigt auch, wie sehr sich die kirchliche Landschaft innerhalb von nur 60, 70 Jahren gewandelt hat: Wo früher improvisierte Gottesdienste aus allen Nähten platzten, werden Kirchen heute mangels Nachfrage geschlossen und einer weltlichen Nutzung übergeben.
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