Kinokolumne "Top Five"

"Der Zug ist die Welt"

Videocover des Films "Spiel mir das Lied vom Tod" mit Claudia Cardinale.
Cowboys gegen Dampflok: Der Western "Spiel mir das Lied vom Tod" mit Claudia Cardinale. © imago / United Archives
Von Hartwig Tegeler · 22.10.2016
Die Gebrüder Lumière ließen 1895 einen Zug in einen Bahnhof einfahren, und die Kinozuschauer sprangen von ihren Plätzen, weil sie Fiktion noch nicht als Fiktion erkennen konnten. Ach, all die Züge auf diesen Tausenden und Tausenden Schienenkilometern auf Zelluloid. Die fünf besten Filme über Züge.

Platz 5: "Der General" von Buster Keaton

Der "Mann, der niemals lachte", Buster Keaton, trifft am 6. Februar 1962 auf dem Führerstand einer historischen Lokomotive im Münchener Hauptbahnhof ein. Grund seiner Deutschland-Reise war die Wiederaufführung seines Stummfilms "Der General" aus dem Jahr 1926.
Buster Keaton auf dem Führerstand einer historischen Lokomotive© dpa / Klaus Heirler
Schon im Jahr 1926 hatte sich das Kino zum perfekten Erzählmedium gemausert. Mit allen Tricks. Bei Buster Keaton mit zwei großen Hauptdarstellern: ihm selbst und einer Lokomotive namens "General". Mitten im amerikanischen Bürgerkrieg die Jagd nach dem entführten "General", die perfekt und vollkommen inszeniert ist mit perfektem Timing, jeder Menge Slapstick und Action. Die Keatonsche Körperkunst ist eines Jackie Chan würdig. Masterpiece.

Platz 4: "Snowpiercer" von Bong Joon-ho (2013)

Der südkoreanische Regisseur Joon-ho Bong auf der Premiere seines Films "Snowpiercer" in Los Angeles.
Der südkoreanische Regisseur Joon-ho Bong auf der Premiere seines Films "Snowpiercer" in Los Angeles.© EPA/ Paul Buck
"Wir sind alle Gefangene in diesem Metallkoloss. Der Zug ist ein geschlossenes Ökosystem. Alles muss ausbalanciert sein." - Die Menschheit hat sich selbst vernichtet, bis auf eine Handvoll, die versucht, die neue Eiszeit in einer Art Arche auf Schienen zu überleben, dem Zug, der als Perpetuum mobile um den Planeten jagt. Dieser "Zug des Lebens" erweist sich als düstere Science-Fiction-Metapher einer Klassengesellschaft, in der der Mensch dem Menschen ein vollkommener Wolf ist. Eine intelligente wie gnadenlose filmische Dystopie.

Platz 3: "Der Fremde im Zug" von Alfred Hitchcock (1951)

Der britische Filmregisseur Alfred Hitchcock gehörte im Mai 1972 zu den illustren Gästen bei den Filmfestspielen in Cannes.
Der britische Filmregisseur Alfred Hitchcock bei den Filmfestspielen in Cannes© dpa / epa AFP
Der zunächst ganz normale Reisezug als Ort außerhalb der Normalität wegen seiner Anonymität: Ein Reisender trifft einen anderen und kann - man sieht sich ja nie wieder - die eigenen Abgründe hemmungslos preisgeben. Guy lernt Bruno kennen.
"Es ist so einfach. Zwei Männer treffen sich zufällig so wie wir. Sie haben sich vorher nie gesehen." - Mit jedem Reisekilometer wird die Begegnung unheimlicher und offener. - "Jeder von ihnen hat jemanden, den er loswerden will. Also tauschen sie die Morde aus. Sie begehen meinen Mord, und ich den Ihren."
Der Zug als Raum jenseits von sozialer und moralischer Verortung. Eben: Man sieht sich ja nie wieder. Ja, es könnte klappen mit diesem Mord-Tausch, flackert es in den Augen des Biedermannes. Kein lichtes Menschenbild, das Patricia Highsmith in ihrem ersten Roman entwirft, und Raymond Chandler, der für Alfred Hitchcock diesen Film schrieb, fügt auch nicht viel Hoffnung hinzu an das Gute im Menschen.

Platz 2: "Spiel mir das Lied vom Tod" von Sergio Leone (1968)

Charles Bronson und Henry Fonda im Western "Spiel mir das Lied vom Tod".
Charles Bronson und Henry Fonda im Western "Spiel mir das Lied vom Tod".© imago/Granata Images
"Ich muss den herrlichen, blauen Pazifik erreichen, mit meiner Eisenbahn." - Die Schienen, als ob sie in diesem Westernklassiker den Traumpfad in der Weite bilden. Ein Mann hat den Traum, eine Eisenbahn zum Pazifik zu bauen, die Zivilisation zu bringen und exorbitanten Profit zu machen.
"Und nun sage ich dir was. Aus einer Stadt, die an einem Bahnhof liegt, das ist schon was zu machen. Hunderttausende von Dollar."- Aber dazu braucht es McBains Land mit dem Wasser für die Dampflok. Deswegen müssen die Revolvermänner mit den langen Mänteln ihre schmutzige Arbeit für den Träumer tun. Am Ende in dieser Oper ist er tot, das Gesicht nicht im Wasser es Ozeans, sondern einer schmutzigen Pfütze in der Wüste. Im Hintergrund sein Zug. Mit dem letzten Bild fährt die Kamera hoch zu den elegischen Klängen von Ennio Morricone und zeigt das Panorama eines Bahnhofs, der gebaut wird. Die Gesetzlosigkeit ist vorbei, der Kapitalismus kann beginnen.

Platz 1: "Shoah" von Claude Lanzmann (1985)

Der Regisseur Claude Lanzmann bekommt den "Goldenen Bären" 2013 verliehen, für seinen legendären Dokumentarfilm "Shoah".
Der Regisseur Claude Lanzmann bekommt den "Goldenen Bären" 2013 verliehen, für seinen legendären Dokumentarfilm "Shoah". © RIA Nowosti / Ekaterina Chesnokova
Die vielen Züge, die vielen Todeszüge in "Shoah" zeigen das Eisenbahnsystem als Infrastruktur für die industrielle Vernichtung der europäischen Juden. Keine Archivbilder zeigt Claude Lanzmann in dieser neunstündigen Dokumentation über den Holocaust, sondern lässt die Überlebenden - Täter wie Opfer - erzählen. In der Zeit, nachdem man diesen Film gesehen hat, wenn man Züge hört oder sie vorbeifahren sieht, lösen sie sich von der technischen Materialität und von der Gegenwart ab. In der Realität werden sie plötzlich, unwillkürlich, zu filmischen Zeichen über den Zivilisationsbruch. Das hat mit der Wucht dieses Films "Shoah" zu tun. Dieser Effekt vergeht mit der Zeit wieder; er lässt sich aber in der Erinnerung wieder herstellen.
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