Kindergarten-Pädagogik

"Kinder müssen Abenteuer erleben dürfen"

Szene aus dem norwegischen Dokumentarfilm "Kindheit" ("Barndom", 2017) von Margreth Olin
Szene aus dem norwegischen Dokumentarfilm "Kindheit" (2017) von Margreth Olin © Mindjazz Pictures
Sabina Pauen im Gespräch mit Dieter Kassel · 17.04.2018
Ein Waldkindergarten als Idylle des freien Lernens? In der Pädagogik sei es wichtig, dass das Kind den Weg bestimmt, meint dazu die Entwicklungspsychologin Sabina Pauen. Ob drinnen oder draußen gespielt werde, sei nicht entscheidend.
Dieter Kassel: Klassisches Lernen sah ja auch in Deutschland mal einfach so aus, dass ein Lehrer oder eine Lehrerin vor einer Schulklasse steht, etwas an die Tafel schreibt, etwas erzählt, und alle hören zu und schreiben gar mit. Oder, wenn Lehrerin oder Lehrer mal nicht so viel Lust haben, dann wird einfach ein Buch aufgeschlagen. Das ist zumindest in Deutschland und in Europa und der westlichen Welt in dieser Form so gut wie vorbei. Aber so frei, wie es in einem Waldkindergarten in Oslo zugeht, ist auch das Lernen bei Kindern in dieser Altersgruppe oftmals nicht. Wie es in diesem Kindergarten zugeht, das zeigt ein Dokumentarfilm, der übermorgen, am Donnerstag auch in Deutschland ins Kino kommt. Und dieser Dokumentarfilm, "Kindheit" heißt er, zeigt das einfach nur mit Bildern und Originaltönen, völlig unkommentiert. Norbert Wassmund über diesen Film:
Norbert Wassmund über den Dokumentarfilm "Kindheit". Ein so freies Lernen ist ja für manche ein wirklicher Traum, für andere wiederum ein Alptraum. Das ist aber oftmals eine Frage der Ideologie. Wie viel Freiheit sinnvoll ist und funktioniert, und wie viele Vorgaben auch schon in diesem Alter angemessen sind, das ist eher eine Frage der Wissenschaft, und deshalb sprechen wir darüber jetzt mit Sabina Pauen, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Heidelberg. Einen schönen guten Morgen, Frau Pauen.
Sabina Pauen: Guten Morgen, Herr Kassel!
Prof. Sabina Pauen arbeitet am Psychologischen Institut an der Universität Heidelberg
Sabina Pauen: "Dieser Helikopter muss ziemlich weit weg fliegen, damit das Kind seine freien Lernerfahrungen machen darf."© Privat
Kassel: Eine solche absolute Lehrfreiheit – wobei es ja schon wieder Einschränkungen gab, völlig absolut dann auch da doch wieder nicht –, aber eine solche absolute Freiheit, ist die zumindest auch unter diesen da ja annähernd gegebenen idealen Bedingungen auch wirklich sinnvoll?

"Kinder brauchen Anleitung und Begleitung"

Pauen: Ich kenne mich jetzt in Norwegen nicht so genau aus, aber die Natur spielt da natürlich eine sehr große Rolle sowieso im Leben, und diese Kinder werden in dem Sinn eigentlich auch auf ihr Leben vorbereitet, indem sie im Wald spielen. Sie sind ja unter Anleitung, Sie haben es gerade schon gesagt. Die absolute Freiheit ist das da ja auch nicht, und Anleitung und Begleitung brauchen Kinder in dem Alter auch.
Kassel: Nun wird ja aber immer wieder argumentiert, wenn sie zu viel Anleitung bekommen, dann macht man diese natürliche Neugier, die sie haben, die wir Menschen eigentlich erst mal alle haben, auch wieder kaputt. Aber was heißt denn das? Sollten Kinder in dem Alter, ob nun im Wald oder anderswo, komplett frei entscheiden können, was sie überhaupt lernen wollen?
Pauen: Nein, ich glaube, das ist unrealistisch, denn die Erwachsenen sind ja auch von der Evolution her dazu gedacht, dass wir die Kinder in das Leben einführen, in dem sie später zurecht kommen müssen. Und das hängt dann eben auch sehr davon ab, was um die Kinder herum ist, womit sie später klarkommen müssen. Und da braucht es dann mehr oder weniger Anleitung. In westlichen Ländern oder auch jetzt wie bei uns in Deutschland zum Beispiel sicherlich mehr, als wenn ich irgendwo in Afrika groß werde und später ein ganz anderes Leben führe als jetzt im Büro oder sonst wo. Also, das ist eine Frage der Passung eigentlich letztlich.
Kassel: Als ich vorhin gesagt habe, dass das für manche ein Traum ist, Waldkindergarten, dachte ich gar nicht an die Kinder, die das, denke ich, schon auch sehr spannend finden, sondern Erwachsene, die damit dann ganz andere Dinge verbinden, nämlich dass es möglicherweise an diesem Waldtag keinen Mobilfunkempfang gibt, dass sich also nicht die Frage stellt, sollen die Kinder schon ein Handy haben oder ein Tablet. Dass sie auch nicht Fernsehen gucken oder Ähnliches. Aber nachdem, was Sie gerade gesagt haben, ist das denn jetzt nicht mal kurz, sondern ein ganzes Jahr lang, ist das wirklich sinnvoll?

"... dass das Leben spannend ist auch ohne Tablets und Mobiltelefone"

Pauen: Schwere Frage. Ich weiß auch nicht, ob es wirklich in der Form schon wissenschaftlich erforscht worden ist. Ich finde es sehr schön für Kinder, wenn sie erleben dürfen, dass das Leben spannend ist auch ohne Tablets und Mobiltelefone, und da sind wir im Moment ein bisschen an der falschen Seite, wir sind nicht in der Balance. Wir müssten da sicherlich in die andere Richtung uns wieder mehr orientieren, wenn wir den Kindern die Freiheit geben wollen, hinterher zu wählen. Denn diese frühen Jahre sind ja doch sehr prägend von den Erfahrungen her, und vielleicht spielt auch unsere eigene Sehnsucht nach dieser Zeit, in der wir mehr Möglichkeiten der anderen Art hatten, eine Rolle, wenn wir jetzt an so einen Film denken und an unsere Kinder denken, was wir denen wünschen.
Kassel: Es gibt diesen alten Witz, dass früher Eltern aus dem Fenster geschrien haben, Jetzt komm endlich wieder rein und hör auf zu spielen, du musst auch mal was machen, und dass Eltern heute im Jugendzimmer schreien, nun geh doch endlich mal raus. Es ist ein Witz, der aber ja einen gewissen Hintergrund hat, man muss sich eine schöne Zeichnung jetzt dazu vorstellen. Aber so wie Sie das gerade beschrieben haben, der Traum vom Waldkindergarten, das könnte dann auch eher eine Traumvision von Eltern sein, die wollen, dass alles wieder so wird wie früher?
Pauen: Ein bisschen vielleicht schon, wobei ich glaube tatsächlich, dass wir im Moment den Kindern zu wenig Gelegenheit geben, die Natur auch als ein Teil von unserem Leben wahrzunehmen, und insofern finde ich das sehr begrüßenswert, wenn mehr Naturerfahrungen auch im Kindergarten ermöglicht werden. Allerdings spricht ja nichts dagegen, das dann auch aufzugreifen als Erwachsener und vielleicht auch dazu mal ein kleines naturwissenschaftliches Experiment zu machen. Also ich sehe da irgendwie auch nicht jetzt was Schlimmes drin, wenn wir den Kindern unsere Sicht auf die Dinge auch versuchen nahezubringen, ohne dass wir sie gleich irgendwie vereinnahmen und zu kleinen Lernmaschinen machen.
Kassel: Aber ich fand bezeichnend schon diesen Schlusssatz bei dem sehr kurzen Stück gerade über den Film, der ja lautete: "Und dann beginnt die Schule, und das ist wieder eine ganz andere Geschichte." Bin mir auch nicht völlig sicher, aber da es ja bei Oslo ist, nehme ich an, die Schule beginnt dann möglicherweise in Oslo, also mitten in der Großstadt. Das kann ja ein Schock sein. Ich meine, es geht doch auch darum, Kinder aufs Leben vorzubereiten.

"Die Natur mit in die Kindergärten nehmen"

Pauen: Das ist vollkommen richtig, und da sehe ich auch irgendwie die größte Gefahr, dass, wenn die Übergänge nicht gut gestaltet werden, dass die Kinder dann eigentlich was Tolles gelernt haben, aber das gar nicht mit benutzen können für ihr späteres Leben. Und ich glaube, dass wir eher ein bisschen in die Kindergärten rein die Natur nehmen sollten oder die Naturerfahrungen nehmen sollten und in den Alltag rein vielleicht auch, dass wir eben was mitgeben an Verständnis über die Natur.
Kassel: Kommen wir doch bitte noch mal auf diesen generellen Aspekt der Freiheit beim Lernen. Sich in Grenzen, die aber möglicherweise sehr weit gesteckt sind, auszusuchen, was und wie man es lernen möchte. Kann man da das, was in so einem Waldkindergarten vielleicht tatsächlich möglich ist, auch in einem Kindergarten mitten in der Innenstadt von München oder von Hamburg machen?
Pauen: Zumindest die Freiheit geben, dass Kinder sich Dingen nähern und sie einfach nur dabei begleiten, ist natürlich in einem Kindergarten in der Großstadt genauso möglich wie in der Natur. Es geht ja dabei mehr darum, dass das Kind den Weg bestimmt und dass der Erwachsene ihn nicht vorgibt. Das ist eigentlich in jeder Umwelt machbar.
Kassel: Aber den Weg dazu, wie das Kind lernt, oder den Weg dazu, was es überhaupt lernt?
Pauen: Den Weg dazu, wie das Kind lernt. Was es lernt, ist natürlich dann vorgegeben durch die Materialien, durch die Umgebung, in die wir die Kinder dann auch setzen.
Kassel: Aber es gibt ja immer diese Debatte, und ich finde, das können wir jetzt mal ganz kurz machen, das hat jetzt nicht mehr so viel mit Waldkindergärten zu tun, aber seit es Reformschulen gibt, Waldorf, Montessori, Jena-Plan, was auch immer, sagen die Kritiker, das geht nicht, dass man da alle machen lässt, was man will – was auch nicht so ist, wie die Befürworter dann auch immer wieder erklären. Aber viele haben ja Angst, wenn die Kinder sich aussuchen dürfen, was sie lernen wollen, wie sie es lernen wollen, auch in welchem Zeitraum sie es lernen wollen, dann funktionieren ja Lehrpläne nicht mehr, und dann können wir nicht mehr davon ausgehen, dass die am Ende ihrer Schulzeit das wissen, wovon wir Erwachsenen glauben, sie sollten es wissen.

"Aufpassen, dass sie überhaupt noch Zeit haben"

Pauen: Ja, das ist genau das Problem. Dadurch, dass wir in einer Zeit und Welt leben, in der unglaublich viel kulturelles Wissen zu vermitteln ist, damit man in der Welt später gut klarkommt, sind die Freiheiten, die wir insgesamt als Gesellschaft haben, unseren Kindern die Zeit zu geben, scheinbar kleiner geworden, oder sie sind kleiner geworden. Und wir müssen eher aufpassen, dass sie überhaupt noch Zeit dafür haben, sich selbst auszusuchen, was sie lernen möchten, und ihr eigenes Tempo zu bestimmen. Wir sind auf jeden Fall da an einer kritischen Grenze im Moment, glaube ich. Aber die Welt ist eben auch, wie sie ist, wir können sie uns ja nicht malen, und wir müssen irgendwie mit dieser Welt auch klarkommen und sie gleichzeitig ein bisschen verändern, vielleicht auch über unsere Kinder, indem wir ihnen noch neue Perspektiven ermöglichen, wie zum Beispiel Erfahrungen in der Natur.
Kassel: Und indem wir vielleicht versuchen, diese Angstfreiheit, die alle sich immer wünschen, den Kindern auch zu vermitteln, indem Eltern ein bisschen angstfreier werden. Sie wissen, ich bin jetzt kurz vor dem Wort "Helikoptereltern". Ich könnte mir vorstellen, dass manche uns zuhören und sagen, um Gottes willen, im Wald gibt es Insekten, Wölfe, und man kann auch irgendwo runterfallen. Auch wenn es nicht der Urwald, sondern der norwegische ist, da würde ich mein Kind niemals hinlassen.
Pauen: Abenteuer gehören zum Lernen und zum Leben. Und ich finde, wir sollten auch den Kindern zugestehen, dass sie ihre eigenen Abenteuer erleben dürfen. Und da können sie uns wirklich nur aus der Ferne gebrauchen. Dieser Helikopter muss ziemlich weit weg fliegen, damit das Kind seine freien Lernerfahrungen machen darf, deutlich weiter, als es heute meistens der Fall ist.
Kassel: Sabina Pauen – sie ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Heidelberg –, über die Chancen und Grenzen des freien Lernens, und ich finde fast, der Freiheit überhaupt. Anlass für unser Gespräch ist der Dokumentarfilm "Kindheit", der übermorgen in den deutschen Kinos anläuft. Frau Pauen, herzlichen Dank fürs Gespräch und einen schönen Tag noch!
Pauen: Sehr gern, tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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