Kinderbuch über eine Freundschaft in der DDR

"Plötzlich ist da jemand, der passt da nicht rein"

Schulalltg in Dresden, 1970: Pioniere und Lehrerin singen ein Lied zum Start in den Unterrichtstag.
Schulalltg in Dresden, 1970: Pioniere und Lehrerin singen ein Lied zum Start in den Unterrichtstag. © imagop/Ulrich Hässler
Judith Burger im Gespräch mit Frank Meyer · 09.03.2018
Weil ihre Eltern einen Ausreiseantrag gestellt haben, wird Gertrude in der Schule gemobbt. Und plötzlich begreift ihre Freundin Ina, dass in ihrer Welt etwas nicht stimmt. Mit dem Kinderbuch "Gertrude grenzenlos" will die Autorin Judith Burger die DDR für jüngere Leser erfahrbar machen.
Frank Meyer: "Gertrude grenzenlos", so heißt ein neues Buch für junge Leser. In diesem Buch von Judith Burger geht es um die Freundschaft zweier Mädchen in der DDR. Gertrude und Ina heißen die beiden. Gertrudes Eltern haben einen Ausreiseantrag gestellt, deshalb wird ihnen das Leben schwergemacht, und auch das Mädchen Gertrude kriegt Schwierigkeiten in der Schule: Ihre Freundin Ina soll den Kontakt zu ihr abbrechen. In unserer Kindersendung "Kakadu" wurde dieses Buch schon vorgestellt, und dort hat Johanna aus unserer "Kakadu"-Lesecrew das über das Buch gesagt:
Johanna: Ina, das war so eine Art Heldin in dem Buch, weil sie war diejenige, die nicht aufgegeben hat, die immer weitergemacht hat. Der war eigentlich alles egal, Hauptsache, dass sie mit Gertrude zusammen ist. Ja, also immer, wenn ich was gelesen habe, da war ich auch überrascht, weil ich wusste davor noch nicht so viel über die DDR, und dann ist mir das komplett anders erschienen und auch unangenehmer. Jetzt habe ich mir erst richtig vorstellen können, wie es damals war.
Meyer: Sechs von sechs möglichen Kakadus hat Johanna an das Buch "Gertrude grenzenlos" vergeben, und die Autorin Judith Burger ist jetzt für uns im Studio. Seien Sie willkommen, Frau Burger!
Judith Burger: Hallo!
Meyer: Die Bestnote von unserer "Kakadu"-Lesecrew, das ist ja schon mal ein guter Start für Sie mit Ihrem ersten Kinderbuch, nicht wahr?
Burger: Ja, da habe ich mich auch sehr gefreut über die Einschätzung von der Johanna, weil sie es auch so schön erzählt hat.
Meyer: Sie sind ja selbst Ostdeutsche, 1972 in Halberstadt geboren, dann schon länger in Leipzig zu Hause, also Sie haben die DDR selbst noch erlebt als Kind und als Jugendliche. Was hat Sie denn jetzt dazu gebracht, ein Buch zu schreiben über Kinder in der DDR?
Burger: Also ich war 17, als die DDR zu Ende ging, und ich wohne ja in Leipzig, und Leipzig ist ja einer der großen Orte der friedlichen Revolution, und da wird ja der Jahrestag am 9. November in unserer Stadt immer sehr groß begangen, und meine Kinder, die waren zu der Zeit noch in der Grundschule, oder zumindest eins. Und dann habe ich abends mal gefragt: Habt ihr eigentlich gerade mal so drüber geredet, was wir eigentlich gerade für so einen besonderen Tag hatten? Und da stellte sich heraus, dass es überhaupt gar kein Thema war in der Schule.

"Eine Geschichte, die sozusagen in meiner Kindheit spielt"

Das fand ich irgendwie merkwürdig, dieses Thema, was ja, glaube ich, die meisten Eltern oder vielleicht auch Großeltern betrifft, irgendwie so wenig stattfindet. Und da habe ich so einen Impuls gehabt, dass man vielleicht mal eine Geschichte erfindet, die sozusagen in meiner Kindheit spielt, und dann habe ich mich mit dem Gedanken getragen und dann irgendwann die Ina im Kopf gehabt, und dann habe ich überlegt, was ich wie erzähle, was in diesem Land dann so schwierig war, und das, finde ich, an der Freundschaft kann man das gut festmachen.
Meyer: Wenn wir da vielleicht mal ein bisschen einsteigen: Also die Mädchenfreundschaft, ich habe es schon gesagt, gerät unter Druck, weil die Familie von Gertrude einen Ausreiseantrag gestellt hat. Das andere Mädchen, Ina, soll deshalb den Kontakt zu ihr abbrechen. Ihre Mutter will sie gerne dazu bringen, gibt es auch eine Lehrerin, die da starken Druck macht. Was macht denn Ina, um mit diesem Druck umzugehen, um ihre Freundschaft zu retten?
Burger: Also Ina merkt, Gertrude ist nicht so beliebt wie andere Kinder, sie wird so ein bisschen gemobbt, würde man heute sagen, und für sie ist dann eigentlich logisch … Es gab ja zu DDR-Zeiten dieses Klassenkollektiv, und dann gab es ja diese Pionierorganisationen, da hatte man lauter Pflichten und Regeln, und da konnte man halt auch so Erfolge sammeln.
Und sie hat die Idee, dass sie sozusagen Gertrude zu einem vollwertigen Klassenkollektivmitglied macht, und damit müsste ja dann eigentlich automatisch auch die Sympathie der Lehrerin steigen. Also sie versucht im Prinzip, die Lehrerin auch mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, also sie fangen dann Altstoffe zu sammeln und sind dann quasi die SERO-Königinnen der Klasse, weil sie ganz viel Zeitungen zusammensammeln.
Meyer: SERO müssen wir erklären, Sekundärrohstoffe, das war die Abkürzung dafür, wozu Altpapier unter anderem gehörte.

"Leere Flaschen und Zeitungsbündel in die Schule getragen"

Burger: Genau, also das haben wir als Kinder alle immerzu gemacht. Wir haben immerzu leere Flaschen und Zeitungsbündel mit in die Schule getragen. Und da sind sie dick dabei, und dann versuchen sie sich in einer Timur-Hilfe. Muss man jetzt vielleicht auch erklären.
Meyer: Ja!
Burger: Das ist nach einem Buch von Arkadi Gaidar, "Timur und sein Trupp", und in dem Buch ist es, glaube ich, ist es ein Junge, der Timur, und der hilft, glaube ich, den Witwen der im Krieg gefallenen Soldaten. Und Timur-Hilfe war sozusagen der Begriff in der DDR, dass man anderen Menschen hilft, auch älteren Leuten, was weiß ich, über die Straße hilft, einkaufen geht, schwere Beutel trägt und so, und alles sowas veranstaltet sie mit Gertrude, und das geht natürlich nach hinten los, weil die Lehrerin sich natürlich ziemlich veräppelt fühlt und noch wütender wird eigentlich.
Meyer: Aber interessant, dass dieses Mädchen versucht, das System sozusagen mit den eigenen Mitteln zu schlagen, und das ist ein Buch, könnte man sagen, über politischen Druck, wie ihn schon Kinder erleben konnten, und über den Mut, mit dem sich Kinder dann auch dagegengestellt haben.
Burger: Na ja, also zwangsläufig … Also für mich steht tatsächlich im Vordergrund diese Freundschaft. Also das System DDR ist ja für Ina normal, sie kennt das ja. Sie lebt dort. Und das Ungeheuerliche, was für sie eintritt, ist, dass sie diese Freundin findet. Und das hat man ja manchmal im Leben, dass man jemanden findet, der irgendwie zu einem gehört, so eine grenzenlose Freundschaft.
Und über diese Freundschaft entdeckt sie ja quasi erst die Risse im System, also wie das sein kann, wo sie jetzt wohnt und lebt, wo sie sich immer wohlgefühlt hat, und plötzlich ist da jemand, der passt da nicht rein, und dann wird der auch anders behandelt, und dann ist sie eben halt ein mutiges Mädchen und lässt sich das einfach nicht gefallen.
Meyer: Haben Sie denn selbst als Kind in der DDR ähnlichen Druck, ähnliche Situationen erlebt?

Chorprobe oder Pioniernachmittag?

Burger: Nicht auf die Art und Weise, nein. Das Buch spielt ja 1977, und meine Schulzeit, sage ich jetzt mal, war ja so grob Mitte der 80er. Da war das ja auch schon ein bisschen offener. Das hat sich ja auch alles verändert, auch das Verhältnis zwischen Kirche und Staat, das ist ja sehr komplex in der DDR. Bei mir war das nicht so krass. Ich war allerdings auch im Kirchenchor und hatte da schon … Also der Kirchenchor, da hatte ich immer mittwochs Probe, und mittwochs hatten wir auch immer die Pioniernachmittage, wenn einer stattfand, und dann musste ich mich dann schon entscheiden, ob ich da jetzt zur Chorprobe gehe oder ob ich lieber vorbildlich bin und zum Pioniernachmittag gehe.
Und meine Lehrerin hatte da schon ein Auge drauf gehabt, die mochte mich auch nicht so richtig. Das habe ich als Kind irgendwie gemerkt. Also ich hatte eine Großmutter, die war sehr kirchlich. Meine Mutter, die hat am Theater gearbeitet. Also ich war nicht so eine Vorzeigeschülerin. Eine Freundin, also meine Freundin in der Schule, die hat mir dann mal nach vielen Jahren erzählt, dass meine Lehrerin tatsächlich zu ihren Eltern gesagt hat, sie sollen mal aufpassen, ich wäre nicht so ein guter Umgang für sie, und das hat mich hinterher wirklich noch empört. Das habe ich als Kind natürlich nicht gewusst, aber schon irgendwie gespürt.
Meyer: Das taucht ja auch in dem Buch auf, dass diese Ina dauernd erzählt bekommt, dass Gertrude ein schlechter Umgang für sie sei und dass sie da lieber mal auf Abstand gehen soll zu ihrer großen Freundin, also zu der ganz wichtigen Freundschaft.
Wir haben hier in der Redaktion mal überlegt, was wir eigentlich an Büchern kennen, über diese Zeit, über diese Themen, also Bücher für jüngere Leser. Wir haben relativ wenig gefunden. War das auch Ihr Rechercheergebnis? Sie haben sich ja wahrscheinlich umgeschaut, was es schon gibt an Büchern zu dieser Zeit?

"Ich wollte einfach eine Geschichte über dieses Mädchen schreiben"

Burger: Habe ich tatsächlich erst mal nicht. Also ich hatte dieses Mädchen im Kopf und wollte einfach eine Geschichte über dieses Mädchen schreiben, und da habe ich vorher nicht groß recherchiert. Das hätte mich vielleicht auch behindert, glaube ich. Ich musste dann erst mal schreiben.
Meyer: Und bei so einem Buch, wie Sie es jetzt geschrieben haben für junge Leser, da standen Sie ja wahrscheinlich auch vor der Frage, wie komplex Sie jetzt die Figuren anlegen, ob vielleicht jede Figur was Gutes, was Böses auch in sich trägt, oder ob Sie das ziemlich eindeutig verteilen? Sie haben jetzt tendenziell eher eindeutig verteilt, wer da auf welcher Seite steht, wer was für eine Figur ist, was Sie getan haben, weil Sie denken, sonst wird es zu kompliziert für junge Leser?
Burger: So eindeutig … Finden Sie es eindeutig? Also ich habe schon versucht, auch diesen Zwang und diesen Druck darzustellen, der ja in dieser Zeit geherrscht hat. Also zum Beispiel der Bruder von Gertrude ist ja eigentlich auf der guten Seite, aber er macht ja was Böses, aber nur, weil er von dem System unter Druck gesetzt wird. Also so ganz schwarzweiß ist es dann ja auch nicht. Also ich denke, dass tatsächlich viele Leute Sachen gemacht haben, weil sie einfach auch selber Angst hatten und nicht so mutig waren wie Ina. Ina hätte ja auch sagen können, na ja, wenn das jetzt hier so kompliziert ist, dann verbringe ich meine Nachmittage dann doch lieber mit der Katrin und nicht mit Gertrude, aber das hat sie eben nicht gemacht.
Meyer: Katrin ist die linientreue Gruppenratsvorsitzende.
Burger: Genau, die Streberin.
Meyer: Genau. Jetzt hat dieses Mädchen Gertrude ja diesen altmodischen Namen, auch für die DDR sehr altmodischen Namen. Meine Großmutter hieß so, Gertrude.
Burger: Ach wirklich?
Meyer: Sie haben sie so genannt nach der US-amerikanischen Schriftstellerin Gertrude Stein, und von der gibt es ein Kinderbuch, "Die Welt ist rund", das spielt jetzt in Ihrem Kinderbuch eine wichtige Rolle, obwohl es dieses Buch eigentlich noch gar nicht auf Deutsch gab zur Handlungszeit Ihres Kinderbuches. Warum haben Sie dieses "Die Welt ist rund"-Buch da trotzdem so eingebaut?

"Mir war klar, die muss eine absolute Freundin finden"

Burger: Das war ein Zufall. Also wie gesagt, ich hatte ja zuerst die Ina im Kopf, und dann war mir klar, die muss eine absolute Freundin finden, und die Freundin ist natürlich ganz anders als Ina, weil das ist ja auch so eine Anziehung, so ein ganz anderer Kosmos, und dann habe ich überlegt, wie ich die nenne, und ich hatte zu der Zeit dieses Buch von Gertrude Stein auf meinem Schreibtisch liegen, und weil ich auch nicht wusste, dass Gertrude Stein ein Kinderbuch geschrieben hat.
Das Kinderbuch ist natürlich kein klassisches Kinderbuch, es wird keine lineare Geschichte erzählt, und es ist eigentlich wirklich ein Buch, mit dem, glaube ich, nicht viele Kinder was anfangen können. Man liest das und denkt wahrscheinlich erst mal: Hä, was? Es ist eigentlich eher wie so ein ... Na, es ist eher ein Gedicht vielleicht, und dann dachte ich mir, das ist ein Buch, was die Gertrude lesen könnte, was Ina total fasziniert, und dann habe ich gedacht, ja, warum denn nicht, liest die nicht einfach auch Gertrude, und dann heißt sie genau nach der Dichterin. Dass Gertrude Stein damals hätte noch gar nicht gelesen werden können, kann man jetzt als künstlerische Freiheit nehmen, das habe ich auch hinten im Nachwort noch geschrieben, dass das eigentlich ja überhaupt nicht möglich war.
Aber ich konnte, für mich war da so…, konnte man so einen Kosmos eröffnen. Dieses Mädchen heißt Gertrude, nach einer Dichterin, die kennt kein Mensch, und die hat ein Buch geschrieben, damit muss man sich total auseinandersetzen, weil man versteht es nicht so richtig, das ist so dieses Andere, dieses Faszinierende, deswegen habe ich das in die Figur gepackt.
Meyer: Das war jetzt Ihr erstes Kinderbuch, oder das ist Ihr erstes Kinderbuch. Sie arbeiten sonst als Autorin für das Radio, für den "Mitteldeutschen Rundfunk". Wissen Sie denn schon, ob Sie jetzt weitermachen als Kinderbuchautorin?
Burger: Auf jeden Fall, ja!
Meyer: Angefixt vom ersten Mal! "Gertrude grenzenlos" heißt das Buch von Judith Burger, im Gerstenberg Verlag ist es erschienen mit 236 Seiten, 13 Euro ist der Preis, und das wird empfohlen für Kinder ab 10. Frau Burger, vielen Dank für das Gespräch!
Burger: Ich danke auch! Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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