Kim Thúy: "Die vielen Namen der Liebe"

Sechs Bedeutungen für die Liebe

Buchcover: "Kim Thúy: Die vielen Namen der Liebe" und Hafen von Ho Chi Minh City
Buchcover: "Kim Thúy: Die vielen Namen der Liebe" © Kunstmann / dpa / picture alliance / Johanna Hoelzl
Von Birgit Koß · 21.04.2017
Kim Thúys Roman "Die vielen Namen der Liebe" handelt von der kleinen Vi: Als die Kommunisten in Saigon einmarschieren, flieht sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Kanada. Ihr Vater bleibt in Vietnam, und das Wort Liebe bekommt für sie eine neue Bedeutung.
Kim Thúy ist eine kleine, aber äußerst wortgewaltige Person. Sie war zehn Jahre alt, als sie mit ihrer Familie die Heimatstadt Saigon verließ und als sogenannte Boatpeople nach einer entbehrungsreichen Flucht über Malaysia nach Kanada gelangte. Hier wurden ihr durch den freundlichen Empfang der Kanadier eine neue Sprache und ein zweites Leben geschenkt, wie sie immer wieder gern beteuert.
Die Juristin und ehemalige Restaurantbesitzerin lässt viel Persönliches aus ihrer Lebensgeschichte in ihre bisher drei Romane einfließen. Während sie den ersten als Grundlage und Übersicht versteht, widmet sich die Autorin in den beiden folgenden jeweils Einzelgeschichten.
Ihr neuer Roman "Die vielen Namen der Liebe" handelt von Vi, deren Name "winzige Kostbarkeit" bedeutet. Sie ist das verwöhnte Nesthäkchen einer wohlhabenden Saigoner Familie. Der Vater, Orchideenzüchter und Lebemann, lässt sich von seiner Frau, die ihn über alles liebt, vor allen Unannehmlichkeiten des Lebens schützen. Selbst in dem Haus, das er nur mit seinen Geliebten teilt, sorgt sie für die nötige Ordnung.
Doch als 1975, nach dem Sieg der Kommunisten, alle jungen Vietnamesen eingezogen werden und in Kambodscha gegen Pol Pot oder an der Grenze zu China kämpfen und sterben, wird der Mutter klar, dass sie ihre drei fast volljährigen Söhne dem Staat wird opfern müssen. Also flieht sie mit ihren vier Kindern mit Hilfe von Schleppern übers Meer. Der Vater bleibt zurück.

"Lieben, bis man Wurzeln schlägt"

Die Entscheidung zwischen der Liebe zu ihrem Mann und den Kindern zerreißt die Mutter fast und hat zur Folge, dass sie ihrer Tochter beibringt, möglichst unsichtbar zu bleiben auf dem Schlachtfeld des Lebens und der Liebe. Somit fällt es der heranwachsenden Vi nicht leicht, ihren eigenen Weg in der westlichen Gesellschaft zu finden.
Eine Affäre mit einem jungen Vietnamesen, die durch eine Hochzeit legitimiert werden soll, zerbricht, als Vi auch nach der Verlobung hart als angehende Juristin arbeitet. Sie behält zwar ihre Unabhängigkeit, doch sie zerstört den Ruf zweier respektabler Familien und hat Angst, daran zu zerbrechen.
Erst als sie beruflich nach Vietnam zurückkehrt, um an der Bildung einer neuen vietnamesischen Verfassung mitzuarbeiten, fühlt sie neuen Lebensmut. Sie lernt, dass das Wort Liebe im Vietnamesischen sechs Varianten hat. "bis zum Wahnsinn lieben, lieben bis man Wurzeln schlägt wie ein Baum, rauschhaft lieben, bis zur Bewusstlosigkeit, bis zur Erschöpfung, bis zur Selbstaufgabe lieben."

Eine Sprache mit viel Platz für Emotionen

Und sie begegnet dort dem Franzosen Vincent, der ihr zeigt, dass auch die vermeintliche Härte ihrer Mutter aus der Liebe geboren wurde und dass sich Vi in seiner Liebe geborgen fühlen darf. Liebe als Schlüsselwort für diesen Roman und auch für ihr eigenes Leben, wie Kim Thúy augenzwinkernd verrät.
Wie immer erzählt sie in äußerst knappen und zugleich ruhigen Kapiteln, deren dichte Sprache viel Platz für Emotionen lässt. Die detaillierten Beschreibungen von vietnamesischen Speisen mit den spezifischen Gerüchen und Zubereitungsarten entfalten schnell intensive Bilder.
Kim Thúy glaubt, dass ihr Zusammenleben mit ihrem autistischen Sohn, die beste Schule für Geduld und exakte Beobachtung sei. Mit dieser kleinen, aber eindrücklichen Geschichte zeigt sie, dass ein "sogenanntes Leben zwischen den Kulturen" nicht von verweigerter Aufnahme und erzwungener Anpassung geprägt sein muss. Vielmehr findet Vi ihre eigene Identität, wie die Autorin auch. Ein wichtiges Beispiel in der heutigen Zeit, das Mut macht.

Kim Thúy: Die vielen Namen der Liebe
Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große
Antje Kunstmann Verlag, München 2017
144 Seiten, 18 Euro

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