Kern des Christentums

10.03.2011
In Jesus von Nazareth liegt der Schlüssel zum christlichen Glauben, doch wer Jesus wirklich war, und wie er als historische Figur gehandelt hat, ist umstritten. Papst Benedikt XVI. versucht dem Leben Jesu auf die Spur zu kommen und hat nun den zweiten Teil seiner Jesus-Biographie vorgelegt.
Im zweiten Teil seiner Annäherung an den "realen Jesus" konzentriert sich Papst Benedikt XVI., vulgo: der Theologe Joseph Ratzinger, auf das, was die vier biblischen Evangelien in ihren jeweils letzten Kapiteln erzählen. "Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung" lautet der Untertitel des neuen Buches. Es geht darum, was Christen rund um Ostern in Gottesdiensten hören, bedenken und feiern – von der Karwoche, die mit dem Palmsonntag beginnt, bis in die fünfzigtägige Osterzeit, die mit Pfingsten endet.

Konkret kommen in den Blick zunächst der Einzug Jesu in Jerusalem und dessen Tempelreinigung, dann das letzte Abendmahl mit den Jüngern und der "Weg zum rechtskräftigen Todesurteil [in] drei Etappen" sowie schließlich Kreuzigung und Grablegung Jesu ebenso wie Auferstehung und Himmelfahrt. In weiteren Kapiteln geht der Autor auf Reden und Gebete Jesu während seiner letzten Tage in Jerusalem ein, auf die (nur im Johannesevangelium überlieferte) Fußwaschung sowie auf Jesu Ringen mit seinem Schicksal im Garten Gethsemane am Ölberg.

Wie der erste stellt auch der zweite Band des Jesus-Buches weder ein lehramtliches Schreiben dar noch einen wissenschaftlichen Kommentar. Es handelt sich eher um eine geistliche Schriftauslegung mit pastoralem Anliegen. Der Text ermöglicht ein genaueres Hinschauen und Hinhören auf den Jesus der Evangelien, mit Hilfe persönlicher Interpretationen des Autors, dank zahlreicher Verweise auf andere Bibelstellen, im Rückgriff auf altkirchliche Kommentare – immer vor der Folie des christlichen Glaubens, wie ihn die Kirche heute bezeugt.

Fachleute werden sich erneut um die theologischen Grundannahmen des Papstes streiten. Die werden hier zwar kaum erwähnt, bemerkbar sind sie aber nach wie vor: etwa die Relativierung der historisch-kritischen Bibelforschung, die Vorliebe für das Johannesevangelium und die Betonung der Göttlichkeit im historischen Jesus.

Ein Beispiel: Der Autor geht davon aus, dass Jesus um seinen Tod und seine Auferstehung ebenso wusste wie um das theologische Ende des Tempels. Jesu Kreuzigung sei "zugleich das Abbrechen des alten Tempels". Jesu Opfer am Kreuz bedeute das Ende aller Tempelopfer und des Tempelkults. Daher, so der Autor, werden seine Worte über die Zukunft des jüdischen Heiligtums (Mt 24,1f) zunächst als "geheimnisvolle Wortsplitter" überliefert. Später soll sich bei der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. deren Sinn gezeigt haben. Die historisch-kritische Forschung dagegen erklärt: Die Rede vom Ende des Tempels ist keine Zukunftsweissagung des historischen Jesus. Sie ist als Wortkomposition des Evangelisten zu verstehen, als Hilfe zur Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung.

Dieser zweite Band zu "Jesus von Nazareth" ist gut lesbar und kommt ohne Fußnoten aus. Er enthält ein Glossar mit Erklärungen zu Fremd- und Fachwörtern. Und er ist frei von Überraschungen. Was etwa die Rolle der Juden, genauer: der jüdischen Tempel-Aristokratie beim Prozess Jesu anbelangt, liegt es ganz auf der Linie des II. Vatikanums von 1962/65: Die Ereignisse rund um Jesu Tod kann man "weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen", heißt es in der damaligen Erklärung.

In erster Linie wendet sich Papst Benedikt an christliche Gläubige. Aber auch Menschen, denen Gestalt und Botschaft Jesu eher fremd sind, mag die Lektüre einen Zugang zum Kern des Christentums ermöglichen.

Besprochen von Thomas Kroll

Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.): Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung
Herder Verlag,Freiburg 2011
366 Seiten, 22,00 Eur