"Keine Partei wird das Volk zwingen, etwas zu tun"

Von Tabea Grzeszyk · 12.01.2012
Vor einem Jahr haben die Tunesier ihren Diktator Ben Ali vertrieben. Mouldi Hammami führt nun Touristen zu den Schauplätzen der Revolution in der Hauptstadt Tunis. Der promovierte Germanist sagt von sich selbst, er hatte zu Beginn vor allem Angst.
Mouldi Hamammi schlängelt sich zwischen Fußgängern, Straßenverkäufern, Autos und knatternden Mopeds durch die belebte Avenue Bourguiba, Hauptstraße von Tunis. Hamammi im silbergrauen Anzug und pastellfarbener Krawatte versammelt eine deutsche Reisegruppe vor dem Innenministerium, das noch immer mit meterhohem Stacheldraht abgesichert wird. Genau hier haben vor einem Jahr eine halbe Million Menschen gegen den Diktator Ben Ali demonstriert:

"Von oben bis unten, bis zu den Nebenstraßen, die Gewerkschaft und die Richter und die Ärzte, alle Organisationen waren hier und sie haben alle ein Wort geschrien: Dégage. Dégage. Dégage. Also dieses Wort ist jetzt international geworden, überall in der Welt. Auch in den USA schreit man Dégage, also scher Dich weg, geh weg. Der letzte Tag hat hier stattgefunden."

Mouldi Hammami war an diesem Tag nicht auf der Straße: Der 56-jährige ist kein Revoluzzer, er gehört nicht zur "Generation Facebook", die mit politischen Blogs und wütendem Rap das mediale Bild der Revolution prägen. Der zurückhaltende Mann gehört einer Generation an, der die Schrecken der Diktatur noch ins Gesicht geschrieben steht. Als im Tumult der Revolution die Paläste der Präsidentenfamilie ausgeraubt werden, hat Mouldi Hammami vor allem eins: Angst:

"Ich wohne nicht weit weg von dem Palast vom Schwager. Ich war stundenlang da, wir standen alle, die Nachbarn, wir standen und haben geschaut, wie die Leute das ausgeplündert haben. Die Leute sind mit Lastwagen gekommen, sie haben alles vollgemacht und weg, dann kommen die anderen. Wir hatten Angst, es herrschte damals Gesetzlosigkeit und wir haben uns organisiert. Wir waren wach die ganze Nacht, und wir waren bereit, uns zu verteidigen. Das waren schlimme Zeiten eigentlich, ja."

Mouldi Hamammi ist eigentlich promovierter Germanist – wegen seiner guten Kontakte nach Deutschland war er für das alte Regime immer verdächtig. Von 2003 bis 2008 lebte er als stellvertretender Direktor des tunesischen Fremdenverkehrsamts in Frankfurt am Main. In dieser Zeit wurde er auch Mitglied der "Deutsch-Maghrebinischen Gesellschaft" in Bonn. Als Mouldi Hamammi den Posten des Vize-Präsidenten übernimmt, überschreitet er für das tunesische Regime eine rote Linie:

"Eines Tages hat mich der Konsul dort gerufen und gesagt, Sie sind Mitglied von dieser Gesellschaft und Sie sind gegen das Regime von Ben Ali, passen Sie auf. Sie werden verhaftet. Ich habe ihm gesagt: Nein, Herr Konsul, ich habe nie Ben Ali kritisiert. Sonst wird man ganz einfach verhaftet und dann sitzt man jahrelang im Knast und im Gefängnis, und dann ist man beobachtet und bewacht und so weiter. Und das Schlimmste ist – egal, wenn ich im Gefängnis sitze – aber dann: die Familie, die Brüder, die Schwester, die Mutter, der Onkel, alle. Alle bekommen keine Genehmigung zu arbeiten, alle werden beobachtet, bekommen Probleme und so weiter, und so fort."

Und Mouldi Hamammi stammt aus einer großen Familie: Im Dezember 1955 wird er als zweites von neun Kindern in einem Vorort von Tunis geboren. Seine Eltern sind arm, der Vater hält die Familie als einfacher Arbeiter über Wasser. 1956 wird Tunesien unabhängig von Frankreich – der erste Präsident Habib Bourguiba setzt auf Reformen, Bildung für Jungen und Mädchen hat höchste Priorität. Mouldi Hammami und alle seine Geschwister besuchen die Schule, schaffen den Aufstieg in die tunesische Mittelschicht. Doch zur gleichen Zeit verwandelt sich Tunesien immer mehr in einen Polizeistaat.

Mouldi Hamammi und seine Reisegruppe sind im Regierungsviertel angekommen. Hier, direkt neben der Altstadt mit ihren Basaren, protestieren nach der Flucht des tunesischen Diktators wieder Hunderttausende gegen die Übergangsregierung. Diesmal platzt auch bei Mouldi Hamammi der Knoten: Wie viele Tunesier lehnt er die vielen Minister ab, die schon unter Ben Ali gedient haben. Er schließt sich dem "Sit-In" der Demonstranten an, die das tunesische Regierungsviertel in ein Protestcamp verwandeln:

"Kleine Zelte, große Zelte, die Leute haben gefeiert, haben getanzt, haben gesungen, haben geschrien. Die Leute von den Souks waren nicht begeistert, weil die Leute die Souks nicht gut erreichen konnten. Und die Leute in den Souks haben keine guten Geschäfte gemacht. Viel Schmutz, viel blabla. Fünfhunderttausend Menschen, wenn die auf´s Klo gehen, dann wissen sie nicht, wohin."

Und wieder geschieht das Unglaubliche: die Demonstranten setzen sich durch, belastete Minister treten zurück, die zweite Übergangsregierung bereitet die ersten freien Wahlen vor. Dass die moderat islamistische Partei "Ennahda" diese Wahlen gewinnt, kann Mouldi Hamammis Optimismus kaum dämpfen:

"Das tunesische Volk hat keine Angst mehr, das tunesische Volk will keine Diktatur mehr. Und niemand kann die Menschen zwingen, ein anderes Leben zu führen. Niemand, keine Partei wird das Volk zwingen, etwas zu tun. Das geht nicht mehr."

Ein Lächeln bleibt auf seinen Lippen zurück, als Mouldi Hamammi die Stadtführung am Ausgangspunkt in der Nähe des Innenministeriums beendet. Er verabschiedet seine Reisegruppe auf der berühmten Avenue Bourguiba, wo die Tunesische Revolution ihren Anfang nahm - eine Revolution, die schließlich auch zu Mouldi Hamammis Revolution geworden ist.
Mehr zum Thema