Keine Gesellschaft kommt ohne Drogen aus

Rezensiert von Ulrich Baron · 19.06.2011
Der Drogenhandel ist eine tragende Säule der international organisierten Kriminalität. Entsprechend schlecht ist das Image sowohl der Drogenhändler als auch der Süchtigen. Winzer und Kaffeeröster dagegen und ihre stets gut gelaunten Kunden erscheinen in Werbespots als Bürger einer schönen neuen Konsumwelt, die keine Risiken und Nebenwirkungen kennt.
Die Kulturgeschichte der Drogen, die der britische Kulturhistoriker Mike Jay verfasst hat, ist voller solcher Widersprüche, denn es geht dabei um graduelle Unterschiede. Es kommt auf die Dosis an, und die Grenzen zwischen Genuss, Medikation und Rausch verfließen.

Exotischen Anregungsmitteln wie Kaffee und Tee folgten seit dem 17. Jahrhundert weit mächtigere Substanzen nach Europa: Das aus Schlafmohn gewonnene Opium, die Blätter des Koka-Strauchs und Haschisch. Der englische Arzt Thomas Sydenham verfeinerte das von Paracelsus entwickelte Laudanum, in Alkohol gelöstes Opium mittels Port- und Rotwein, Safran, Nelken und Zimt zum Laudanum Sydenhamii, einem wahren Verkaufsschlager.

1732 entwickelte Thomas Dover sein beliebtes Opium-Pulver, dem neben Lakritze ein Brechmittel beigefügt war, um Überdosierungen zu verhindern. Im 19. Jahrhundert begannen die systematische Vermarktung neu entwickelter Stärkungsmittel und die industrielle Produktion reiner und entsprechend potenzierter Wirkstoffe. Da es sich bei Jays Werk um den bebilderten Begleitband einer Ausstellung handelt, liefert es dazu reiches Anschauungsmaterial, das illustriert, wie ungeniert heute illegale Stoffe einst vermarktet wurden, weil sie versprachen, mit der Gesundheit auch die Leistungsfähigkeit zu steigern:

"Nachdrücklich empfohlen von der medizinischen Fachpresse und den höchsten medizinischen Autoritäten im Vereinigten Königreich", wurde ein typisches Präparat beworben: "Unschätzbar in Fällen von Grippe, Schlaflosigkeit, Blutarmut und geistiger Erschöpfung" sei "Hall’s Coca Wein"."

Gegen Erkältung, Husten, Hals- und Lungenerkrankungen half angeblich "Ayer’s Cherry Pectoral", das mit spielenden Krabbelkindern auch um kleine Patienten warb. Hauptwirkstoff war Morphin, und um das Jahr 1900 herum bewarb Bayer ein Mittel zur Linderung des Hustenreizes, das als "Heroin" eingeführt wurde. An solche pharmakologischen Jugendsünden erinnern heute noch deren Namen, zu denen auch der des berühmtesten Markenartikels zählt: Coca Cola ist zwar längst gebändigt, doch Jay zeigt anhand zahlreicher zeitgenössischer Anzeigen und Etiketten, wie nahe Kokain & Co den westlichen Konsumenten einstmals gebracht wurden.

Dabei gibt es kulturelle Unterschiede. Das Alkoholverbot des Islam ging mit einer Tolerierung des Cannabisgenusses einher, während der Haschischraucher im Westen seit den Tagen des Clubs der Haschischine im Paris eines Théophile Gaultier und Charles Baudelaire Teil einer Subkultur war. Deren Entstehung führt Jay freilich nicht auf die Kriminalisierung der Drogen zurück:

"Verbote und Subkulturen sind keine Erfindung der Moderne und benötigen auch zu ihrer Entstehung keine gesetzlichen Sanktionen gegen Rauschmittel. So galt z. B. das eifrige Leben und Treiben in den Kaffeehäusern im London des 18. Jahrhunderts Beteiligten wie Außenstehenden als Drogen-Subkultur. Sie entstand aus einer kleinen, aber einflussreichen Gruppe, deren Vorliebe für ein exotisches Stimulans das Motiv abgab, sich von der konventionellen Gesellschaft abzusondern und einen exklusiven Raum zu schaffen, wo man mit Gleichgesinnten verkehren konnte."

Man kann diesen Begriff vom "exklusiven Raum" auf die Peyote-Rituale einer vom Untergang bedrohten indianischen Kultur ebenso anwenden wie auf den Frieden stiftenden Kawa-Trunk pazifischer Inselvölker oder den empathischen Ecstasy-Genuss jugendlicher Raver. Jay liefert eine vorzügliche Darstellung der Rolle von Drogen bei der Entwicklung und Ausdifferenzierung von Kulturen. Er zeigt aber auch, dass Exklusivität zweierlei Bedeutung annehmen kann. Die vom Koffein befeuerten Debatten in Europas Kaffeehäusern haben dem Typus des modernen Intellektuellen Geburtshilfe geleistet. Arbeitsdrogen wie Koffein und Nikotin werden mehrheitlich akzeptiert, solange deren leistungssteigernde Wirkung die negativen Begleiterscheinungen übersteigt. Alkohol-Genuss wird akzeptiert, so lange er sich im Rahmen hält. Kollektives oder isoliertes Komasaufen aber läuft auf eine andere Exklusion hinaus – auf den Absturz in eine Alkoholikerkarriere.

Der letzte Teil von Jay Darstellung behandelt deshalb sowohl den Drogenhandel als auch den Kampf gegen Drogen. An Bigotterie hat es dabei nie gefehlt: Die Briten zwangen China unter dem Deckmäntelchen des Freihandels ihre Opiumlieferungen auf. Steuern auf Kaffee, Tabak und Alkohol füllten Staatsäckel. Die Prohibition in den USA löste eine Blüte der organisierten Kriminalität aus. Nach deren Aufhebung seien dann "Tausende von Polizisten und Verwaltungsangestellten der Alkoholbehörde, die angesichts der großen Depression um ihren Job bangten", zur Drogenbehörde gewechselt, um sich einem neuen Feind namens "Marijuana" zu widmen. Der Leiter dieser Institution, so Jay mit einer seiner vielen bemerkenswerten kleinen Zusatzinformationen, habe den spanisch klingenden Namen benutzt, um Cannabis "mit den mexikanischen Einwanderern in Verbindung zu bringen". So bestätigte gerade jener Ober-Drogenjäger die provozierende These, mit der Jay sein Buch einleitet: "Keine Gesellschaft dieser Welt kommt ohne Drogen aus." Und sei es, um ungeliebte Nachbarn damit zu diskriminieren.

Mike Jay: High Society. Eine Kulturgeschichte der Drogen
Primus Verlag
Buchcover "High Society. Eine Kulturgeschichte der Drogen"
Buchcover "High Society. Eine Kulturgeschichte der Drogen"© Primus Verlag