Kein Zurück ins Paradies

Von Oliver Marc Hartwich · 13.11.2007
Vor 18 Jahren schien es gekommen, das Ende der Geschichte. Jedenfalls wollten das damals manche Intellektuelle ausgemacht haben, als sich der real existierende Sozialismus - abgewirtschaftet und moralisch diskreditiert - von der Weltbühne verabschiedete. Es war nicht nur die Mauer gefallen, sondern mit ihr auch der Vorhang für totalitäre Volksbeglückungsutopien.
Ein paar Jahre später ereilte den Samtpfotensozialismus westdeutscher Prägung dasselbe Schicksal. Sein Zusammenbruch war etwas weniger geräuschvoll, aber ebenso dramatisch. Die staatliche Vollkasko-Absicherung gegen alle möglichen Unwägbarkeiten des Lebens hatte die Gesellschaft gelähmt und tiefe Löcher in den Staatshaushalt gerissen. Als nur noch die Arbeitslosenzahlen wuchsen und nicht mehr die Wirtschaft, war selbst dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder klar, dass der Sozialstaat zwar vieles versprechen, aber längst nicht alles halten konnte.

Und da war es schon wieder, das Ende der Geschichte. Jedenfalls hätte man das annehmen können, denn der aufgeblähte Sozialstaat mit seiner Rundumfürsorge schien keine Zukunft mehr zu haben. Die Reformen, mit denen er kupiert wurde, zeigten zudem die gewünschten Wirkungen. Der Wirtschaft geht es wieder besser, der Arbeitsmarkt erholt sich, und selbst ältere Arbeitslose finden leichter eine neue Beschäftigung.

Seit einiger Zeit mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Geschichte doch noch nicht an ihr Ende gelangt ist. Statt nämlich den Sieg der Freiheit über den Sozialismus oder auch nur die Erfolge der Schröderschen Reformen zu feiern, erlebt linke Politik gerade ihre parteiübergreifende Wiedergeburt. Die SPD hat den demokratischen Sozialismus in ihr neues Grundsatzprogramm geschrieben, während sich in der CDU Ministerpräsidenten zu Arbeiterführern erklären. In Umfragen zeigen die Deutschen vermehrt Sympathie mit den angeblichen "sozialen Errungenschaften" der DDR, wenn auch glücklicherweise noch nicht mit deren Autobahnbau.
Die irritierten Beobachter, gerade auch im Ausland, fragen sich: "Sind die Deutschen plötzlich wieder links? Geht in Deutschland einmal mehr das Gespenst des Kommunismus um?" Doch Gemach, Gemach: Mit Sozialismus oder Kommunismus hat das alles nicht viel zu tun, dafür umso mehr mit dem deutschen Hang zur Bequemlichkeit.

Echte Sozialisten hatten zumindest eine klare Ideologie anzubieten. Diese war mit ihren theoretischen Verrenkungen wie dem historischen und dialektischen Materialismus zwar nicht immer leicht zu verstehen, aber immerhin vorhanden. Wenn alte Sozialisten "zur Sonne, zur Freiheit" aufbrechen wollten, dann wussten sie, wie sie dorthin kommen wollten. Heutige Sozialstaatsfetischisten interessiert höchstens die Frage, ob der Weg "zur Sonne, zur Freiheit" von der Pendlerpauschale abgedeckt ist.

Nein, richtig programmatisch und stimmig ist das alles nicht, was uns da als Linksruck in Deutschland präsentiert wird. Der Beitrag des SPD-Chefs Kurt Beck zur Ideologiekritik erstreckte sich denn auch darauf, den Neoliberalismus eine "Ideologie ohne Erdung" zu nennen. Man darf davon ausgehen, dass er sich mit der Erdung als gelernter Elektromechaniker bestens auskennt.
Was in Deutschland wie ein Wiedererwachen des Sozialismus erscheint, das ist in Wirklichkeit nur die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies. Ein Ort, wo man nach zwanzig Semestern gebührenfreien Studiums mit großer Sicherheit erwarten konnte, irgendwo im Staatsdienst mindestens auf einer A13-Stelle unterzukommen. Wo man es sich leisten konnte, im Falle der Arbeitslosigkeit Stellenangebote auszuschlagen, wenn ihre Annahme einen Umzug erfordert hätte. Wo man hoffen konnte, sein ganzes Leben bei einem einzigen Arbeitgeber bis zur Rente oder vielleicht auch nur bis zur Frühpensionierung mit Anfang 50 zu bleiben.

Es war zweifellos ein angenehmes, beinahe risikoloses Leben, das man sich unter dem Mantel des korporatistischen Sozialstaats in der alten Bundesrepublik einrichten konnte. Leider vergaßen viele Deutsche, dass man Wohlstand erst einmal erarbeiten muss, bevor man ihn genießen oder verteilen kann.

Doch nach der Vertreibung aus dem Paradies müssen wir heute ein paar unbequeme Wahrheiten zur Kenntnis nehmen. Zum einen konkurrieren wir inzwischen mit Ländern, die vieles günstiger produzieren können. Auf Lorbeeren von gestern und vorgestern kann man sich da nicht mehr ausruhen. Zum anderen hat sich immer wieder gezeigt, dass Länder mit einem geringeren Staatsanteil auf die neuen Herausforderungen der globalisierten Ökonomie viel besser und flexibler reagieren können als solche mit einem ausufernden Sozialstaat. Linke Volksbeglückungsprogramme sind daher das Letzte, was Deutschland derzeit braucht.

Was die neuen Linken in allen Parteien eigentlich wollen, ist eine Rückkehr in ihr heimeliges, risikoloses Sozialstaatsparadies – Kündigungsschutz, Mitbestimmung und Weihnachtsbutter inklusive. Doch darauf werden sie noch lange warten müssen, wahrscheinlich noch länger als auf das Ende der Geschichte.

Oliver Marc Hartwich, Jahrgang 1975, ist Chefökonom der Londoner Denkfabrik Policy Exchange (www.policyexchange.org.uk). Der studierte Wirtschaftswissenschaftler und promovierte Jurist arbeitete nach dem Studium in Bochum, Bonn und Sydney zunächst als Referent von Lord Matthew Oakeshott of Seagrove Bay im britischen House of Lords. Er ist Mitglied im publizistischen Netzwerk "Die Achse des Guten" (www.achgut.com) und schreibt regelmäßig für deutsche und britische Zeitungen. Weitere Informationen unter www.oliver-marc-hartwich.de.
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