Kein schöner Land

31.10.2013
Ben Marcus schreibt Kurzgeschichten. Allesamt absurd, dystopisch, apokalyptisch. Sich zwischen Science-Fiction und Schauerliteratur bewegend, zeigt der Dozent für "Creative Writing" seine Stärke, aus einfachsten Konstellationen selbstironische und abseitige Szenarien zu entwickeln.
So tief wie bei Jane Austen, sagt er nicht ohne Bewunderung, werde man in Romanen nie mehr versinken. Nur könne man im 21. Jahrhundert eben nicht mehr mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts erzählen. Ben Marcus, 1967 in Chicago geboren, hat diesen Anspruch in seinen eigenen Büchern stets hochgehalten. Er gehört zu den Protagonisten einer US-amerikanischen Literatur, die sich noch uneingeschränkt postmodern nennen kann. Mit aller Macht rüttelt er an der Geschlossenheit von Geschichten, stellt deren Erzählbarkeit infrage und macht auch die Sprache selbst zum Gegenstand seines Schreibens. Der Begriff des Experimentellen, mit dem er 2005 in "Harper’s Magazine" gegen das populistische Literaturverständnis von Jonathan Franzen polemisierte, behagt ihm zwar längst nicht mehr. Doch angesichts des dystopischen, ja apokalyptischen Grundzugs seiner Texte, die zugleich von einer herrlich paranoiden Komik leben, taugt er zumindest als Kampfansage gegen alles Überkommene.

In Deutschland stellte sich Marcus erst im letzten Jahr mit seinem jüngsten Roman "Das Flammenalphabet" vor. 17 Jahre nachdem er mit der surreal getönten Prosacollage "The Age Of Wire And String" debütierte. Die 15 Erzählungen von "An Land gehen" bieten nun eine zweite Gelegenheit, Marcus hierzulande zu entdecken. In fünf Abteilungen zeigt sich die erstaunliche Heterogenität eines Werks, an dessen einem Ende die endzeitliche Absurdität eines Samuel Beckett zu Hause ist und an dessen anderem Ende die sehr viel handfestere Science-Fiction eines Samuel R. Delany.

Abseitige, albtraumhafte Szenarien
Die erste Hälfte versucht sich an einer Art zeitgenössischer Schauerliteratur, in der sich noch deutlich plothafte Züge ausmachen lassen. Doch nach zwei tiefschwarzen Frage-Antwort-Storys, die an den Irrwitz von David Foster Wallaces "Kurze Interviews mit fiesen Männern" erinnern, gelangt man auf rätselhaftes Terrain. Geschichten wie "Knochen" oder "Das Vaterkostüm" entwerfen eine archaisch verfremdete Kunstwelt, die alles erkennbar Mimetische hinter sich lassen will. Die syntaktischen Wiederholungsschleifen der Titelstory wirken gar wie eine Stilübung und der finstere innere Monolog, den Thomas, der Tote, in "Die Moore" führt, deliriert, von obszönen Fantasien bewegt, in futuristischer Todestrunkenheit vor sich hin. Diese Geschichten wirken abseitig um der Abseitigkeit willen.

Ganz gegen seine Absicht ist Marcus da am stärksten, wo seine albtraumhaften Szenerien noch psychologische Bodenhaftung haben. Das stumpfe Warten eines jungen, seine lebensbedrohliche Autoimmunerkrankung in Düsseldorf behandelnden Mannes auf seine Freundin. Die Unmöglichkeit eines Übergewichtigen, seinen Eltern von Frau und Kind zu erzählen, die sie ihm nicht zutrauen. Die Überforderung eines mit seinem schwerkranken Sohn allein gelassenen Vaters, der über seinen Betreuungspflichten den Job verliert. Marcus schlägt aus den einfachsten Konstellationen maliziöse Funken und glänzt auch durch Selbstironie. Eine Story erzählt von einem Schreibdozenten, der sich mit seinen Studenten auf Kreuzfahrt begibt und dabei mit sämtlichen Standardeinwänden gegen Literatur konfrontiert wird, die man sich so ausdenken kann: Beschreibungswut, Glaubwürdigkeit oder Gendervoreingenommenheit. Es muss ein satirischer Reflex auf seine Arbeit an der Columbia University sein: Dort lehrt er "Creative Writing".

Besprochen von Gregor Dotzauer

Ben Marcus: An Land gehen. Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Thomas Melle und Gerhard Henschel
Hoffmann & Campe, Hamburg 2013
400 Seiten, 22,99 Euro