Kein Freiheitskampf, keine Spannung

Von Hartmut Krug · 15.05.2009
"Wilhelm Tell" wurde oft als Freiheitskämpfer und Held angesehen. In Wolfgang Engels Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden hat Tell mit Politik nichts am Hut und kämpft nur für seine private Autonomie. Engel nimmt der Figur jeglichen Freiheitsdrang, setzt aber an die Stelle nichts Neues und liefert so ein konventionelles spannungsarmes Schaustellerstück.
"Wilhelm Tell", Titelheld des letzten vollendeten Stücks Schillers, das 1804 an Goethes Weimarer Theater uraufgeführt wurde, ist lange als Freiheitskämpfer und Held angesehen worden. Natürlich haben die Nationalsozialisten die Geschichte vom Aufstand Heimatverbundener gegen fremde Besatzer für ihre Ideologie missbraucht.

Doch schon Ludwig Börne beschrieb den "guten Tell" als einen "Philister", dessen Charakter von Untertänigkeit geprägt sei, und wesentliche Inszenierungen des selten gespielten Stückes setzten sich in den letzten Jahren recht kritisch mit Tell auseinander. So beschrieb Hans-Günther Heyme mit einem proletarischen Tell 1985 in Stuttgart die deutsche Geschichte als eine von misslungenen Freiheitskämpfen, während Frank Castorf 1991in Basel seinen Tell Teil einer Gesellschaft von an Völkermord, Flüchtlingen und Drogenhandel verdienenden Hinterwäldlern sein ließ. In Schwerin wiederum inszenierte Christoph Schroth in Wendezeiten den "Wilhelm Tell" als einen Diskurs über Freiheit und den Missbrauch eines nationalistischen Freiheitspathos.

Wolfgang Engel, nach seiner Leipziger Intendanz mit Schillers Stück zurückgekehrt an den Ort seiner großen Erfolge zu DDR-Zeiten, zeigt nun am Dresdner Schauspielhaus einen Tell, der aber auch gar nichts mit Politik am Hut hat. Sein Tell, von Martin Reik als netter Mann von nebenan gespielt, der nur mit sich, seiner Familie und seiner Armbrust beschäftigt ist, verteidigt, wie es Jan Philipp Reemtsma in einem im Programmheft abgedruckten Essay gedankenreich nachweist, nur seine und der seinen private Autonomie.

Zu geflügelten Worten gewordene Sätze wie "Ein jeder lebe still bei sich daheim" und "Der Starke ist am Mächtigsten allein" enthüllen so eine selbstzufriedene Selbstbezüglichkeit, und nicht zufällig beginnt die Aufführung in einer Bierkneipe, während der Eiserne Vorhang die weite Welt verbirgt. Am Biertisch singen Skatbrüder Rudimente des Liedes "Es lächelt der See", mit dem Schiller zu Beginn in die idyllische Welt des Vierwaldstätter Sees einführt, als seien Lied und Idylle eine ferne, versickernde Erinnerung. Dann stürmt der flüchtende Konrad Baumgarten herein, und der beiseite sitzende Tell hilft ihm zur Flucht vor den Reitern des Landvogts, - nicht aus politischen Gründen, sondern weil er Mitleid mit dessen Weib und Kind hat.

Gespielt wird im regelmäßigen Wechsel vor geschlossenem oder bei geöffnetem Vorhang. Man lebt in beengten Verhältnissen, und selbst wenn sich der Eiserne Vorhang öffnet, begrenzt oft eine steil aufragende, bewegliche Wand die leere Szene. Mayke Heggers kalte, technisch wirkende Bühne ist zwar praktisch, besitzt aber keine Atmosphäre, und Regisseur Engel arrangiert auf ihr nur behäbig ausgemaltes, recht konventionell und spannungslos wirkendes Schauspielerstell- und -stehtheater. Präzise gearbeitete Dialogszenen (vor allem mit Daniel Minetti als Stauffacher) werden abgelöst von Spielszenen mit falschen Tönen und operettiger Choreographie.

Insgesamt ist dies eine in ihren Mitteln disparate und ziemlich spannungslose Inszenierung, in der Regisseur Wolfgang Engel versucht, die die Männer zur Tat antreibende Kraft der Frauen auszustellen. Sehr schön, wie Christine Hoppe als Gertrud Stauffacher ihren Mann zur Tat und sogleich wieder aus dem abendlichen Bett treibt, sehr pointiert und witzig, wie Bertha von Bruneck (Marlène Meyer-Duncker) Ulrich von Rudenz über ihr Liebesgeständnis bei einem Dinner zurück zu seinem Volk und zu politischem Handeln treibt, und sehr dramatisch, wie energisch und handgreiflich anklagend sich Nele Jung als Armgard mit ihren Kindern vor das Auto des Landvogts Geßler wirft.

Auch sonst gibt es immer mal wieder schöne Einzelszenen, auch mit dem Regisseur in einigen Kleinstrollen, die er in Vertretung eines erkrankten Schauspielers übernommen hat. Für den Bericht von der Schifffahrt Geßlers mit dem gefangenen Tell im Sturm kleben drei Männer mit magnetischen Griffen am Eisernen Vorhang und werden eimerweise mit Wasser überschüttet. Der Aufbau der Stange für den Hut des Landvogts wird als Slapstick gegeben, und wenn die Verschwörer ihren Bund beschließen, tun sie dies hoch oben auf einem Schwebebalken, - eine schöne Metapher für Wagemut, Selbständigkeit und Zusammenhalt in unsicherer Lage. Aber zwischen solchen Szenen besitzt die Aufführung oft nur den Charakter einer unsinnlichen Textvermittlung.

Am Schluss kommt Geßler, mit weißer Paradeuniform im grünen Jeep, durch die hohle Gasse, und Tell erschießt ihn von der Spitze einer seitlich aufragenden Wand. Darauf tritt das Volk Geßlers Fahrer ganz unheldisch zu Tode, kabarettistisch anspielungsreich "Rasch tritt der Tod den Menschen an" summend, und, nachdem Geßlers Hut verbrannt ist, nach der Nachricht vom Mord am Kaiser verhalten den "Tag der Freiheit" bejubelnd. Und schon steht der Kaisermörder als Hilfeflehender vor einem Tell, der auf riesengroßem Videobild, Hosenträger über dem Unterhemd, aus dem Fenster schaut und in seinem Blumenkasten zupft.

Wenn der Mörder Tell einen Mörder abgewiesen hat, der allein aus Ehrgeiz gehandelt habe, und ihn an das Urteil des Papstes verweist, endet Engels Inszenierung, die, indem sie Tell von allem Freiheitsdrang befreit, ohne der Figur neue, kritische Kontur zu geben, Schillers Stück alle Kraft und Spannung nimmt. Wo Engel bei seinem Leipziger "Don Carlos" im Jahr 2005 Schillers alte Geschichte in der Auseinandersetzung mit vielfältigen politischen Haltungen noch für heute aufschloss, gelingt ihm dies bei seiner dramaturgisch wie inszenatorisch eindimensionalen Dresdener Inszenierung des "Wilhelm Tell" nicht mehr.

Was ihr fehlt, sind Wut oder Empörung gegen die Verhältnisse und der Versuch einer theatralen Einrede gegen ein als falsch empfundenes Verhalten, also letztlich all das, was Wolfgang Engels Dresdner Inszenierungen zu DDR-Zeiten selbst da, wo sie ästhetisch gar nicht unbedingt avanciert waren, ihre Kraft und Modernität gegeben hat.

Das Publikum regierte auf die letzte Premiere im großen Haus während der Ära des scheidenden Intendanten Holk Freytag so, wie auch die Aufführung war: flau und lau.

Wilhelm Tell
Nach Friedrich Schiller
Aufführung am Staatsschauspiel Dresden
Regie: Wolfgang Engel
Bühne: Mayke Hegger
Kostüme: Ines Nadler
Musik: Thomas Hertel
Dramaturgie: Stefan Schnabel