Kazuo Ishiguro: "Der begrabene Riese"

Der Atem des Vergessens

Der britisch-japanische Schriftsteller Kazuo Ishiguro, aufgenommen am 17.3.2015 bei einem Interview in Toronto, Kanada.
Kazuo Ishiguro, britischer Schriftsteller japanischer Herkunft © imago / ZUMA Press
Von Thomas David · 06.10.2017
Unser Literaturkritiker Thomas David hat Kazuo Ishiguro vor zwei Jahren in London getroffen und mit ihm über seinen Roman "Der begrabene Riese" gesprochen. In dem Gespräch ging es auch um die ambivalente Kraft der Erinnerung, die den Autor antreibt.
In seinem neuen Roman "Der begrabene Riese" erzählt Ishiguro von einem Britannien nach Ende der römischen Besatzung. Was sich anfangs wie ein von Menschenfressern und Kobolden bevölkerter Mythos ausnimmt, erweist sich bei genauerer Lektüre als ein großer zeitgenössischer Roman über eine von erbitterten Kriegen entzweite Welt, die sich ihrer schmerzvollen Vergangenheit stellen muss.
Thomas David hat Ishiguro in London getroffen und mit ihm über den neuen Roman und die ambivalente Kraft der Erinnerung gesprochen, die das gesamte Werk des Schriftstellers antreibt.
Jahrzehntelange Entwicklung der Geschichte
Als sich Axl und Beatrice, ein altes, am Rande einer kleinen Siedlung lebendes Paar, auf den beschwerlichen Weg zu einem mehrere Tagesreisen entfernten Dorf begeben, in dem sie ihren Sohn vermuten, ahnen sie nicht, dass sie zugleich dem Ende ihrer gemeinsamen Lebensreise entgegengehen. Axl und Beatrice sind die beiden Hauptfiguren von Ishiguros Roman:
"Ursprünglich begann ich über diese Geschichte zur Zeit der Jugoslawienkriege nachzudenken, als das Land auseinanderfiel. Insbesondere, was die Ereignisse in Bosnien betraf, wo verschiedene Bevölkerungsgruppen, die zuvor als Nachbarn gelebt hatten, plötzlich gegeneinander aufbegehrten. Das Ruanda der 90er Jahre ist ein ähnlicher Fall."
Im Büro seiner Londoner Literaturagentur sitzt Kazuo Ishiguro an einem langen Tisch. In den Regalen die Bücher der von der Agentur vertretenen Autoren. Auf dem Tisch eine Schale mit Keksen, mehrere Flaschen Mineralwasser. Daneben ein kleiner Stapel mit Ishiguros Romanen.
"Aber ich habe dann auch über andere Länder nachgedacht, die nicht unmittelbar von Kriegen betroffen waren - Länder wie Großbritannien, die USA oder Japan, die ich gut kannte, oder führende europäische Nationen wie Frankreich und Deutschland, die aus mitunter guten Gründen bestimmte Erinnerungen begraben haben."
Universeller Stoff in einer mythischen Welt
Im neuen Roman führt der Weg von Axl und Beatrice über den Grabhügel des "begrabenen Riesen". Dieser Grabhügel ist Ishiguros Metapher für eine tiefe Verdrängung, das Symbol für eine Gesellschaft, die die Vergangenheit unterdrückt und in einer weitgehend geschichtslosen Gegenwart gefangenen ist:
"Es schien mir daher nur folgerichtig, meinen Roman in einer Welt anzusiedeln, die auf offensichtliche Weise mythisch ist und den Leser einlädt, die Handlung auf unterschiedliche Situationen zu beziehen."
Neben Ishiguro selbst kommen auch der mit ihm befreundete Schriftsteller Graham Swift und der Literaturkritiker John Carey zu Wort.
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